13.01.2022

Lost in Transnistrien

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Lost in Transnistrien

Am 12. Dezember hat die separatistische Republik einen neuen Präsidenten gewählt. Wahlsieger Wadim Krasnoselski wird die prorussische Linie seines Vorgängers fortsetzen. Die junge Generation blickt indes skeptischer auf Moskau.

von Loïc Ramirez

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Wenn mich ein Ausländer fragt, wo ich herkomme, sage ich, von irgendwo zwischen Ukraine und Moldawien“, erzählt Ludmilla Kljusch. Sie unterrichtet Französisch in Tiraspol, der Hauptstadt von Transnistrien, das sich vor 30 Jahren von der Republik Moldau (Moldawien) abgespalten hat und bis heute von keinem UN-Mitgliedstaat anerkannt wird.

Um reisen zu können, braucht ­Kljusch wie alle Bewohner Trans­nis­triens einen weiteren Pass. Sie hat außer ihrem transnistrischen und dem moldauischen noch einen russischen Pass, den Moskau trotz entschiedener Proteste der Moldauer Regierung seit 2006 ausstellt. „Das heißt aber nicht, dass ich die Politik des einen oder anderen Landes unterstütze. Das ist eine rein praktische Frage“, versichert ­Kljusch, die in Moldau studiert hat.

Im November 2020 gewann die proeuropäische Kandidatin Maia Sandu mit 57,7 Prozent in der zweiten Runde der moldauischen Präsidentschaftswahlen gegen den erklärten Putin-Anhänger Igor Dodon; acht Monate später entschied ihre Mitte-rechts-Gruppierung „Partei der Aktion und Solidarität“ (PAS) mit 52,7 Prozent auch die Parlamentswahlen für sich. Seither ist Transnistrien wieder ins Zentrum der moldauischen Aufmerksamkeit gerückt.

Die Ökonomin Sandu, die unter anderem von 2010 bis 2012 bei der Weltbank gearbeitet hat, machte sich gleich nach ihrem Amtsantritt Feinde, als sie daran erinnerte, dass „die Region Transnistrien Teil der Republik Moldau ist“. Sie forderte außerdem den Rückzug der russischen Truppen, die seit einem Abkommen zwischen Russland und Moldau vom 21. Juli 1992 in der Sicherheitszone zwischen Transnistrien und Moldau stationiert sind.

Bei ihrem Vorstoß wird Sandu von den USA unterstützt, deren Botschafter sich im Mai 2021 für eine „vollständige Rückkehr Transnistriens zur Republik Moldau“ ausgesprochen hat. Im Gegensatz zu der als prorussisch geltenden Vorgängerregierung strebt Sandu perspektivisch den EU-Beitritt an. Dieses Ziel teilt Moldau mit dem ukrainischen Nachbarn, der seinerseits gegen die Abspaltung der Donbassregion kämpft. Zum Zeichen seiner Solidarität mit Sandu verweigert die Ukraine seit dem 1. September 2021 Fahrzeugen mit transnistrischem Kennzeichen die Durchreise.

„Die EU will anscheinend die Sozialistische Sowjetrepublik Moldau wiederauferstehen lassen“, spottet der transnistrische Außenminister Vitali Ignatew im Gespräch. Er spielt damit auf die gewaltsame Eingliederung Moldaus in die UdSSR 1940 an.

Die Region Transnistrien, die seit dem 18. Jahrhundert zum russischen Zarenreich gehörte, wurde am Ende des Bürgerkriegs (1917–1923) zunächst der Sozialistischen Sowjetrepublik Ukraine zugeschlagen. Sie genoss einen Autonomiestatus und vor allem sprachliche Sonderrechte für die damals als rumänisch bezeichnete Minderheit – bis die Moskauer Zentrale Ende der 1930er Jahre den Kurs änderte und auf einmal von einer spezifischen Moldauer Identität sprach.

Das lateinische Alphabet wurde durch das kyrillische ersetzt und die Behauptung aufgestellt, der slawische Einfluss auf die rumänischsprachigen Minderheiten sei an den Rändern des Zarenreichs (zu denen auch die Moldawier zählten) stets so stark gewesen, dass sie eine eigene Kultur bildeten, die sich bis nach Bessarabien erstrecke.

Der Landstrich zwischen den Flüssen Pruth und Dnister (siehe Karte) war 1918 dem Zugriff der Bolschewiki entgangen und wurde von Rumänien geschluckt. Wie im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 vereinbart, „duldete“ Nazideutschland 1940 den Einmarsch der Roten Armee in Bessarabien, das seinen südlichen Zipfel verlor und mit dem aus der Ukraine herausgelösten Transnistrien zur Sozialistische Sowjetrepublik Moldau verschmolzen wurde.

Als die Sowjetunion zerfiel, wurde der Dnister dann erneut zum Grenzfluss. Am 2. September 1990, wenige Monate nachdem die Moldauer Regierung ihre Souveränität proklamiert hatte, erklärte Transnistrien sich für unabhängig. Denn das neue nationale Projekt Moldau, das vor allem von den Anhängern einer Union mit Rumänien getragen wurde, stieß bei der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes auf heftigen Widerstand.

Nach dem Versuch Moldaus, das Ostufer zurückzuerobern, kam es im März 1992 zu heftigen Kämpfen, die erst mit dem Waffenstillstandsvertrag vom 21. Juli endeten. Drei Jahrzehnte später besteht der Protostaat Transnistrien als Überrest dieser geopolitischen Krise fort. „Unsere Unabhängigkeit ist bereits Realität. Sie muss nur noch legalisiert werden“, behauptet Außenminister Ignatew unverdrossen.

Tatsächlich aber blieben die Bemühungen der transnistrischen Regierung um internationale Anerkennung vergeblich. Und bald könnte sie auch die Unterstützung der Bevölkerung verlieren. Inzwischen ist nämlich eine Generation herangewachsen, die den Konflikt mit dem Nachbarland und den vermeintlichen Sieg vor 30 Jahren nicht miterlebt hat.

„Sie wollen wissen, wie es ist, in einem Land zu leben, das nicht anerkannt ist?“ Anna N. sitzt auf einer Restaurantterrasse an der Allee des 25. Oktober in Tiraspol. Die jungen Leute genießen das gute Wetter und flanieren über den Boulevard. Die 20-jährige Anna arbeitet im Landwirtschaftsministerium, zeigt aber wenig Interesse für die Zukunft des Staats, der sie eingestellt hat. „Vielleicht wird das Land anerkannt, vielleicht wird es eine autonome Provinz von Moldau. Auf jeden Fall hoffe ich, dass ich an dem Tag, an dem das passiert, längst weg bin.“

Die Einwohnerzahl Transnistriens ist in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch gesunken – von 706 000 im Jahr 1990 auf heute nur noch 450 000.1 Die Jugend geht ins Ausland, um zu studieren oder zu arbeiten. 2016 lag das monatliche Durchschnittseinkommen bei 336 Dollar.2 „Jeder hat einen Freund oder ein Familienmitglied im Ausland“, erklärt eine junge Frau, die schon als Teenager mit ihren Eltern nach China ausgewandert ist. Sie war gerade zu Besuch bei ihren Großeltern in Tiraspol, als die Volksrepublik wegen der Pandemie die Grenzen dicht machte. Seitdem arbeitet sie für eine chinesische PR-Firma im Homeoffice in Transnistrien. „Ich bin froh, dass ich hier aufgewachsen bin, aber ich komme sicher nicht zurück. So patriotisch bin ich nicht“, sagt sie und lacht.

Iwan Woit, Historiker und Dozent an der Staatlichen Universität von Transnistrien, ist überzeugt, dass die Zustimmung der Jugend „von den Perspektiven abhängt, die ihr geboten werden“. Die Regierung bemühe sich, eine transnistrische Identität zu stärken, die sich nicht auf die Ethnie oder auf die russische Sprache stützt, sondern auf das aus der Sowjetzeit geerbte Assimilationsmodell. „Die Gründung unseres Landes war nur eine Reaktion auf die Auflösung der UdSSR“, so Woit. „Die regionale Identität hat die Slawen, Rumänen, Juden und Türken, die hier lebten, verbunden. Später teilten sie dann den Status als Sowjetbürger. Damals hatten wir überhaupt kein Nationalitätenproblem.“ Diese Sichtweise blendet einerseits die dunklen Seiten der Stalinära aus: Denn wie alle Republiken und Regionen der UdSSR hat auch Transnistrien unter den Repressionen der stalinistischen Nationalitätenpolitik gelitten.

Andererseits stimmt es aber auch, dass in Transnistrien die Erinnerung an das relativ friedliche multiethnische Zusammenleben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch einen hohen Stellenwert besitzt – gegen den Nationalismus, der sich seit 1991 in vielen ehemaligen Sowjetrepubliken breitgemacht hat. Wie zum Beweis für diese Bindung gab sich Transnis­trien in der Unabhängigkeitserklärung von 1990 den offiziellen Namen Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik Transnistrien. Damit bekundete der neue Staat seinen Willen, die zerfallende Union zu erhalten. Am 17. März 1991 stimmte die Bevölkerung bei einem Referendum, das die moldauischen Behörden boykottierten, mit 97 Prozent für den Fortbestand der UdSSR. Nach dem Ende der Sowjetunion erfolgte die Umbenennung in Moldauische Republik Transnistrien. Der Historiker Woit erklärt, man habe damit auf den Verrat der damaligen Elite reagiert, die das eindeutige Votum – in der ganzen Sowjetunion stimmten damals 76 Prozent für den Erhalt der UdSSR – ignoriert hat.

Der Wahlsieg von Maia Sandu beweist in den Augen Woits, dass „die moldauische Politik ein Opfer des rumänischen Nationalismus bleibt“. Das illustriere auch ihr Auftritt im April 2021 vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, wo sie indirekt die Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2013 verteidigte, mit der das Rumänische als Amtssprache festgelegt wurde.

Ihre Erklärung war der vorerst letzte Schritt einer Debatte, die 1989 damit begann, dass Moldauisch zur einzigen Landessprache erklärt, gleichzeitig aber das kyrillische wieder durch das lateinische Alphabet ersetzt wurde. 1996 stellte die Akademie der Wissenschaften Moldaus fest, Rumänisch sei die korrekte Bezeichnung für die im Land gesprochene Sprache. „Also sind wir in Transnistrien es, die die moldauische Sprache verteidigen“, stellt Woit zufrieden fest.

Transnistrien hat drei offizielle Sprachen: Russisch, Moldauisch und Ukrainisch. „Eltern können entscheiden, in welcher Sprache ihr Kind beschult wird“, erklärt die Kindergartenleiterin Tatjana Dschordschewa. In den Fluren hängen Kinderzeichnungen von Menschen in moldauischen und ukrainischen Trachten, die sich unter der Fahne der Republik die Hände reichen.

Im Musikzimmer üben 20 Kinder in der Uniform der Roten Armee für eine Aufführung zum Jahrestag des sowjetischen Siegs über Nazideutschland. Auf dem Programm stehen patriotische Lieder und -tänze aus der Sowjet­zeit. „Sonst beschäftigen sich die Kinder mit der regionalen Folklore und singen auch in anderen Sprachen“, versichert Dschor­dsche­wa, die immer wieder den multikulturellen Anspruch ihrer Einrichtung hervorhebt. Insgesamt dominiert allerdings Russisch die Kindergartenzimmer und Straßen von Tiraspol.

„Ich habe in der Schule Moldauisch als Zweitsprache gelernt, aber im Alltag spreche ich es nie“, gesteht uns die Englischlehrerin Aljona Solotitsch. Wie sie haben die meisten Transnistrier in der Schule Moldauisch oder Ukrainisch gelernt. Während die Inschriften an die offiziellen Gebäuden noch in allen drei Sprachen verfasst sind, hat das Russische auf den Ladenschildern, in der Werbung und bei den Gesprächen in den Cafés die anderen beiden Sprachen längst verdrängt. Kein Wunder, dass Transnistrien aus westlicher Sicht als ein „von Russland besetztes“ Territorium wahrgenommen wird.

Tatsächlich hat Moskau großen Einfluss auf das Schicksal der kleinen Republik. Auch wenn Russland deren Unabhängigkeit offiziell nicht anerkennt, leistet es beträchtliche Wirtschaftshilfe und versorgt das Land mit subven­tio­nier­tem Erdgas.3 Transnistrien dient als Schutzwall gegen einen möglichen Nato-Beitritt Moldaus – ein Szenario, das der Kreml nicht ausschließt, obwohl sich die Moldauer Verfassung zum Neutralitätsprinzip bekennt.

In den Straßen von Tiraspol ist die Moskau-Begeisterung mittlerweile abgeflaut, die 2006 noch deutlich spürbar war. Damals hatten 97 Prozent bei einem Referendum die Frage bejaht, ob sie die Unabhängigkeit und eine „mögliche künftige Integration“ in die Russische Föderation befürworteten. „Es sind die Alten, die sich Russland anschließen wollen“, vermutet die 23-jährige Solotitsch. Ihre Muttersprache ist Russisch, aber sie betrachtet sich nicht als Russin: „Ich bin Transnistrierin, aber im Ausland sage ich Moldauerin, das ist einfacher.“

Wie die meisten jungen Leute, mit denen wir gesprochen haben, hält sie die Union mit Moldau für den „realistischsten“ Weg. Als Vorbild nennt sie Gaugasien, die autonomen Region im Süden Moldaus, wo überwiegend Türkisch gesprochen wird. Hat die junge Generation also den Wunsch nach einer Union mit dem großen slawischen Bruder aufgegeben? Eins steht fest: Die Jugend will nicht länger auf internationale Anerkennung warten und wünscht sich vor allem eine pragmatische Lösung des eingefrorenen Konflikts.

1 Sabine von Löwis, Andrei Crivenco, „Shrinking Transnistria – older, more monotone, more dependent“, Center for East European and International Studies, Berlin, 27. Januar 2021.

2 Adrian Lupușor, Alexandru Fala u. a., „What are the economic treats for Transnistrian economy in 2016–2017“, Expert-Grup, Chişinău, 26. Juli 2016.

3 Siehe Jens Malling, „Ein Fall für Moskau“, LMd, März 2015.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Loïc Ramirez ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Loïc Ramirez