Ganz legale Wahlmanipulation
Wie in den USA Wahlkreise zurechtgeschnitten werden
von Charlotte Recoquillon
Alle zehn Jahre wird in den USA eine Volkszählung durchgeführt und anschließend die Landkarte der Wahlkreise neu gezeichnet, um sie an die neuen demografischen Gegebenheiten anzupassen. Auf den ersten Blick handelt es sich dabei um eine rein technische, arithmetische Maßnahme – jeder Wahlkreis innerhalb eines Bundesstaats muss die gleiche Einwohnerzahl aufweisen, plus oder minus fünf Prozent. Es ist jedoch ein hochpolitischer Prozess.
Die Mehrheitspartei im Parlament des jeweiligen Bundesstaats kann sich die Wahlkreise nämlich maßschneidern und so ihre eigenen Wahlchancen massiv beeinflussen, indem sie den Anteil bestimmter Bevölkerungsgruppen in einem Wahlkreis steigert oder reduziert. Die Republikaner wollen die Grenzen naturgemäß so ziehen, dass möglichst viele Wahlkreise mit einer weißen Mehrheit entstehen. In Texas beispielsweise sank zwar der Anteil der Weißen an der Gesamtbevölkerung zwischen 2000 und 2010 von 52 auf 45 Prozent. Trotzdem stellten sie 2012 aufgrund des Zuschnitts der Wahlkreise, genannt „Gerrymandering“,1 in 70 Prozent der texanischen Wahlkreise die Mehrheit.2
Auch bei der Neuaufteilung der Wahlkreise nach der Volkszählung von 2020 gab es solche Manipulationen. Obwohl 95 Prozent des Bevölkerungswachstums in Texas zwischen 2010 und 2020 auf ethnische Minderheiten entfielen, stellt der im vergangenen Oktober verabschiedete neue Wahlkreiszuschnitt nicht sicher, dass diese Minderheiten einen entsprechend größeren Einfluss auf das Wahlergebnis bekommen.3 In North Carolina wiederum dürften die Republikaner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit 10 der 14 neu gezeichneten Kongresswahlbezirke gewinnen, obwohl die letzten Präsidentschaftswahlen bei der Gesamtzahl der Stimmen fast einen Gleichstand zwischen Demokraten (48,6 Prozent) und Republikanern (49,9 Prozent) ergaben.
Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit dem Wahlkreiszuschnitt ist die Frage, wie Gefängnisinsassen gezählt werden sollen. Laut der US-amerikanischen Verfassung hat jede Person das Recht auf politische Vertretung, gemäß dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“, wobei Schwerverbrechern in allen Bundesstaaten ihr Wahlrecht vorübergehend oder dauerhaft entzogen wird.4 Für die übrigen Inhaftierten aber stellt sich die Frage: Wo sollen sie gezählt werden? Am Standort der Haftanstalt oder an der Adresse des früheren Wohnsitzes?
Das US-Volkszählungsamt (Bureau of the Census) führt seine Statistiken nach dem Prinzip des „gewöhnlichen Aufenthaltsorts“, der als der Ort definiert ist, an dem die fragliche Person schläft und isst. Seit 1790 wird bei Gefangenen daher die Adresse des Gefängnisses als Grundlage genommen. Fast zwei Jahrhunderte lang war das keine große Sache. Doch mit der in den 1980er Jahren aufkommenden Politik der massenhaften Inhaftierung wurde diese Zählweise zu einem echten Problem.
Derzeit sitzen in den USA über 2 Millionen Menschen im Gefängnis, was der Bevölkerung von New Mexico entspricht. Dass der Frage, wo sie gezählt werden, eine große strategische Bedeutung zukommt, liegt an zwei Faktoren: zum einen an der Überrepräsentation von ethnischen Minderheiten unter den Häftlingen – die Inhaftierungsrate von Schwarzen ist fünfmal höher als die von Weißen5 – und zum anderen an der Lage der meisten Gefängnisse in ländlichen und mehrheitlich weißen Landesteilen.
„Es begann mit der Neueinteilung der Wahlkreise nach der Volkszählung im Jahr 2000, als uns auffiel, dass es da ein Problem gibt“, erzählt Mike Wessler, Pressesprecher der Prison Policy Initiative, einer Organisation, die sich gegen die massenhafte Inhaftierung einsetzt. Im Jahr 2008 beschrieb die New York Times die Situation in Jones County, Iowa, folgendermaßen: In einem der vier Wahlkreise mit jeweils 1400 Einwohnern befanden sich nur 58 Personen auf freiem Fuß, alle anderen waren Häftlinge, denen das Wahlrecht entzogen worden war.6
Ein Journalist fragte damals Danny R. Young, Stadtrat der County-Hauptstadt Anamosa: „Betrachten Sie diese Menschen als Ihre Bürger?“ Antwort: „Sie gehen nicht wählen, also nicht wirklich.“ In der Praxis haben die Häftlinge keinen Kontakt zu den Institutionen und den Abgeordneten am Ort ihrer Inhaftierung, und die große Mehrheit kehrt nach ihrer Entlassung ohnehin an ihre alte Adresse zurück. Warum also bleibt es bei dieser merkwürdigen Zählweise?
„Einige Countys erreichen den gesetzlichen Schwellenwert für einen gewählten Abgeordneten nur, weil auf ihrem Territorium ein Gefängnis liegt“, erklärt Brianna Remster. Die Soziologieprofessorin von der Villanova University bei Philadelphia hat sich zusammen mit ihrem Kollegen Rory Kramer die Landkarte der Wahlkreise in den 67 Counties von Pennsylvania näher angeschaut. Sie identifizierten vier ländliche Wahlkreise, die ohne ihre Gefängnispopulation zu wenig Einwohnerinnen und Einwohner hätten, um einen Kongressabgeordneten zu stellen.
Umgekehrt würde die Zahl der Einwohner von vier städtischen Wahlkreisen für zwei Abgeordnete ausreichen, würde man die am anderen Ende des Staats inhaftierten Bürger der Stadt mitzählen. Das hätte dann zur Folge, dass ein zusätzlicher Wahlkreis geschaffen werden müsste, dessen überwiegend schwarze Bevölkerung mit hoher Wahrscheinlichkeit für einen – mutmaßlich ebenfalls schwarzen – Demokraten stimmen würde.7
Die Häftlinge am Ort ihrer Inhaftierung zu zählen „verleiht den Bürgern, die in der Umgebung von Gefängnissen wohnen, mehr politische Macht, auch weil sie mit ihrem gewählten Vertreter leichter in Kontakt kommen“, kommentiert Remster. Und wenn sich der eine Abgeordnete 20 Beschwerden anhören muss und der andere 100, führt das selbst in dünn besiedelten Bezirken zu Ungleichgewichten.
In einem Wahlkreis in Juneau County in Wisconsin machen die Häftlinge rund 80 Prozent der Bevölkerung aus. Die 20 Prozent freier Einwohner sind deutlich überrepräsentiert im Vergleich zu den Einwohnern der benachbarten Wahlkreise, in denen es keine Gefängnisse gibt.
Außerdem kommen die meisten Inhaftierten in den USA zwar aus städtischen Gebieten, sitzen aber vorwiegend in ländlichen Regionen ein, weit entfernt von ihren Wohnorten. Die bei der Volkszählung angewandte Berechnungsmethode lässt somit einen Teil der Bevölkerung aus den innerstädtischen Vierteln statistisch verschwinden. Diese Viertel, die oft schwarz oder lateinamerikanisch geprägt sind, verlieren dadurch einen Teil ihrer politischen Repräsentation sowie bestimmte Dienstleistungen.
„60 Prozent der Häftlinge in Illinois kommen aus Cook County, in dem auch die Millionenstadt Chicago liegt, aber 99 Prozent von ihnen werden außerhalb von Cook County gezählt“, sagt La Shawn K. Ford, demokratischer Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Illinois. Für ihn ist das „eine demokratische Herausforderung“. Remster und Kramer sehen darin sogar „eine Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts auf gleiche politische Vertretung“.
Der Widerstand gegen diese Zählweise wächst, nicht zuletzt auch unter Republikanern in ländlichen Bezirken ohne Gefängnis, die diese Form der Ungleichheit verständlicherweise kritisch sehen. Bisher haben bereits ein Dutzend Staaten, darunter New York, Kalifornien, Colorado und Nevada, sowie mehr als 200 Counties und Städte Maßnahmen ergriffen, um die Mängel der Volkszählung zu beheben.
Eine Möglichkeit besteht darin, die Gefangenen bei der Neueinteilung der Wahlkreise unter ihrer letzten Adresse zu zählen. In Illinois etwa verpflichtet ein mit Fords Unterstützung verabschiedetes Gesetz die Gefängnisverwaltung ab 2025 dazu, jedes Jahr die Adressen der Häftlinge vor ihrer Inhaftierung zu sammeln und weiterzugeben, damit die Wahlkommission sie ihren ursprünglichen Wohnbezirken zuordnen kann. „Das ist immerhin ein Anfang und ein Schritt in die richtige Richtung“, findet der Abgeordnete.
Am einfachsten wäre es natürlich, die Regeln der Volkszählung zu ändern. „Würde das Census Bureau seine Zählung inhaftierter Personen korrigieren, wäre das Problem im ganzen Land einheitlich gelöst“, so Wessler. Sogar der Regierung in Washington wird das Problem langsam bewusst. Bei der Vorbereitung der Volkszählung von 2020 gingen tausende Stellungnahmen ein, die fast alle (77 863 von 77 887) dafür plädierten, die letzte Adresse vor der Inhaftierung als Wohnort der Häftlinge zu verwenden.8
Gleichwohl lehnte die Regierung diese Forderung ab, und zwar mit der Begründung, dass „dies dem Konzept des ‚gewöhnlichen Aufenthaltsorts‘ widersprechen würde“ und dass „die Neueinteilung der Wahlkreise Angelegenheit der Bundesstaaten ist“. Sie will daher lediglich den Wahlkommissionen zusätzliche Daten zur Verfügung stellen, so dass diese nach eigenem Ermessen handeln können.
Im Jahr 2010 hatten nur zwei Staaten Maßnahmen ergriffen, um das Problem der Erfassung von Häftlingen anzugehen. Inzwischen sind es sechsmal so viele. Diese Entwicklung lässt bei Aktivisten, Wissenschaftlern und Politikern Optimismus aufkeimen. Ihr Ziel ist es, das Problem vor der nächsten Volkszählung im Jahr 2030 zu lösen.
3 „What Redistricting Looks Like In Every State“, FiveThirtyEight, Stand vom 16. November 2021.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Charlotte Recoquillon ist Journalistin.