Greenwashing in Grenoble
Ist der grüne Bürgermeister Piolle ein Hochstapler und korrupt?
von Philippe Descamps
Hoch über Grenoble liegt die Festung La Bastille. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf die Alpen und das Isère-Tal. Hier wurde Grenoble am 18. Oktober bei strahlendem Sonnenschein zur „Grünen Hauptstadt Europas 2022“ gekürt. Bürgermeister Éric Piolle war mit der Seilbahn heraufgekommen, in Begleitung von Barbara Pompili, Frankreichs Ministerin für ökologischen Umbau, und einer Vertreterin der EU-Kommission, die Piolle zum „Botschafter der grünen Städte“ ernannte.
„Hier treffen sich die, die niemals klein beigeben“, verkündete Piolle, der seinen neuen Titel als Anerkennung für die verschiedenen Maßnahmen betrachtet, die er seit 2014 als Bürgermeister umgesetzt hat. Tatsächlich gibt es heute mehr Radwege und Tempo-30-Zonen als früher, eine innerstädtische Umweltzone für schadstoffarme Fahrzeuge und der Gasnetzbetreiber Gaz Électricité de Grenoble investiert in erneuerbare Energien.
Der Grüne Piolle (Europe Écologie – Les Verts) regierte in seiner ersten Amtszeit (2014–2020) in einer Koalition mit La France insoumise (vormals Parti de Gauche) und dem lokalen Umweltverein Association démocratique écologie solidarité (Ades). Bei den Kommunalwahlen 2020 trat er mit einem erweiterten linken Bündnis an. Zu diesem gehörten unter anderem Abgeordnete der Parti socialiste (die daraufhin aus der Partei ausgeschlossen wurden), die Nachwuchspartei Génération.s, die Benoît Hamon nach seinem Scheitern als sozialistischer Präsidentschaftskandidat 2017 gegründet hatte, und die ebenfalls erst vor drei Jahren entstandene proeuropäische Place publique, die mit Raphaël Glucksmann und der Ex-Grünen Aurore Lalucq 2019 ins EU-Parlament eingezogen ist.
Mit diesem großen links-ökologischen Bündnis lag Piolle schon im ersten Wahlgang mit fast 47 Prozent der Stimmen weit vorn und gewann am 28. Juni 2020 den zweiten mit 53 Prozent. Seither häufen sich jedoch die Rückschläge. Nach seinen oft konfusen Äußerungen in Fernsehdebatten erreichte er bei den Vorwahlen der Grünen zur Präsidentschaftswahl nur den vierten Platz. Und am 1. März 2022 soll er wegen mutmaßlicher Begünstigung vor dem Landgericht Valence vernommen werden.
Anlässlich des von Piolle initiierten „Fête des Tuiles“ (Fest der Ziegel), einem Straßenfest zur Erinnerung an einen Aufstand im Vorfeld der Französischen Revolution, wurden 2015 und 2016 Aufträge in einer Gesamthöhe von rund 250 000 Euro ohne Ausschreibung an einen Verein vergeben, der der neuen Stadtverwaltung nahestand.
Außerdem ist Piolle mit seinem Versuch gescheitert, neben der Stadt Grenoble (157 000 Einwohner) auch die Kontrolle über den Gemeindeverband Grenoble-Alpes-Métropole (445 000 Einwohner) zu übernehmen, zu dessen Präsidenten er seinen Schützling Yann Mongaburu wählen lassen wollte. Im Juli 2020 gewann dann aber Christophe Ferrari, bis 2018 Mitglied der Sozialisten, im dritten Wahlgang mit den Stimmen der Rechten.
Inzwischen hat sich Ferrari mit seinen früheren Verbündeten von den Grünen zwar wieder versöhnt. Der gelernte Umweltchemiker arbeitet am Laboratorium für Glaziologie und Umweltgeophysik, in Klimafragen kennt er sich also aus. Doch während der Präsentation der „grünen Hauptstadt“ auf der Bastille versäumte er es nicht, darauf hinzuweisen, dass die wichtigen Fragen, wie die Wasser- und Energieversorgung, Mobilität oder die energetische Gebäudesanierung, in seinen Zuständigkeitsbereich fallen.
Die lokalen Umweltverbände ziehen indes eine deutlich differenziertere Bilanz des Tandems Piolle/Ferrari als die EU-Kommission. Natürlich „sieht man den Unterschied“, schreibt Francis Odier, Präsident der lokalen Sektion von France nature environnement. Seinem Verein waren nach der erfolgreichen Mobilisierung gegen einen Ferienpark in Roybon von Département und Region, wo die konservativen Republikaner das Sagen haben, 200 000 Euro Subventionen gestrichen worden. „Wenn es um den Schutz der Atmosphäre geht, sind die Abgeordneten aus Grenoble die Einzigen, die ein bisschen Druck machen.“ Andererseits kritisiert er, dass sein Verein nicht – wie im neuen interkommunalen Stadtentwicklungsplan vorgesehen – bei der Bebauung neuer Flächen angehört wurde.
Für Ärger sorgt auch eine riesige Baustelle, die wie eine Wunde die Ufer des Drac spaltet: die Erweiterung der Autobahn A 480, die Grenoble von Nord nach Süd durchquert. Der Ausbau auf sechs Spuren war Teil des Autobahn-Erneuerungsplans, den Emmanuel Macron 2015, damals noch Wirtschaftsminister, ausgearbeitet hatte. Dem Autobahnbetreiber Area, der die 2019 begonnenen Bauarbeiten finanziert, wird im Gegenzug die Konzession für das alpine Autobahnnetz verlängert.
„Die Metropole setzt immer noch aufs Auto und schließt wackelige Kompromisse“, beklagt Odier. Sein Verein hatte gegen die Genehmigung des Projekts Einspruch erhoben und verloren. Im Januar 2019 warnten 100 Wissenschaftler:innen aus der Region: „Das Projekt steht im absoluten Gegensatz zum Anspruch, national und weltweit Treibhausgase zu reduzieren, und dem kommunalen Bemühen um eine bessere Luftqualität und Lärmschutz.“
Im Rückblick ist es nur der Hartnäckigkeit der Umweltverbände zu verdanken, dass 2004 eine Umgehungsstraße verhindert wurde, bei der unter anderem die Bastille untertunnelt worden wäre. Seine Regierung setze auf hohe Hürden, erklärt uns der Bürgermeister: „Wir haben eine Autobahnspur für Fahrgemeinschaften reserviert, die städtische Anbindung verbessert, Bäume gepflanzt, Lärmschutzwände und Tempo 70 durchgesetzt. Außerdem wird das Département die Verlängerung der A51 bis Sisteron nicht mehr unterstützen.“ Dennoch wird das Autobahnkreuz Rondeau vom Staat mit sagenhaften 380 Millionen Euro gefördert, während es für Radwege nur ein Budget von 24 Millionen gibt.
Und nur um 6 Prozent wollen Piolle und seine linken Verbündeten die in motorisierten Fahrzeugen zurückgelegten Kilometer von 2015 bis 2030 reduzieren. Zum Vergleich: Der Pariser Straßenverkehr hat zwischen 2004 und 2019 um 37 Prozent abgenommen.1 „Wir bedauern es sehr, dass in dieser Legislaturperiode keine neue Tramlinie eingerichtet wurde, sie hätten zumindest die Linie E nach Pont-de-Claix verlängern können“, moniert Emmanuel Colin de Verdière, Präsident des Vereins für öffentlichen Nahverkehr, Rad- und Fußwege (ADTC). „Es gibt zwar einen Plan für eine städtische Seilbahn, aber die ist gar nicht so wichtig, weil sie viel weniger Fahrgäste transportiert.“
Das Stadtgebiet von Grenoble ist durch eiszeitliche Prägung flach und eignet sich hervorragend zum Fahrradfahren. Der ADTC-Geschäftsführer Mehdi Tadjine freut sich auch über den Zuwachs in den letzten Jahren. „Das ist ein Erfolg“, stellt er fest, um dann gleich zu relativieren: „Wir sind vielleicht der nationale Champion, aber wenn wir uns mit Städten wie Kopenhagen vergleichen, machen wir uns nur lächerlich. Bei uns werden 17 Prozent der Arbeitswege auf dem Rad zurückgelegt, in Kopenhagen sind es 49 Prozent.“2 Es herrsche eine gewisse Selbstzufriedenheit, auch bei den Aktivisten. „Die Leute sagen sich, das ist schon gut, und sehen nicht das Potenzial.“
Sechsspurige Autobahn durch das Drac-Tal
Ein gutes Zeichen wäre es zum Beispiel, wenn die Mehrheit der Eltern sich trauen würde, ihre Kinder mit dem Rad zur Schule fahren zu lassen, meint Verdière. „Doch davon sind wir heute weit entfernt, sogar im Collège.“ Chronovélo, die neue bunte Fahrradstraße durch Grenoble, bedient nur eine nach Effizienz ausgerichtete Verkehrslogik, aber nicht das Bedürfnis nach sicheren Wegen, die miteinander verbunden sind und den Gewohnheiten entsprechen. An den Fahrradspuren auf Bürgersteigen, entgegen der Fahrtrichtung und direkt neben den Parkbuchten für Autos hat sich nichts geändert, auch nicht auf den ehemaligen Straßenbahntrassen, die schon von den vorangegangenen Kommunalregierungen zu Radwegen umgebaut worden sind. So führt die Zunahme des Radverkehrs zu zahlreichen Konflikten und verunsichert vor allem Fußgänger:innen.
Ein weiterer Verstoß gegen die Wahlversprechen, der viele wütend macht: „Die Werbung im öffentlichen Raum wurde abgeschafft, was zum Wandel der Stadt beigetragen hat“, behauptet Piolle in seinem Buch, das er für die Vorwahlen geschrieben hat.3 Tatsächlich hatte die neue Stadtregierung nach ihrem ersten Wahlsieg beschlossen, einen Vertrag mit dem globalen Konzern für Außenwerbung JCDecaux nicht zu verlängern. Hunderte Werbetafeln wurden abmontiert. Der Verein Paysages de France jubelte. Endlich sollte ein Bürgermeister „unsere Losung ‚Bäume statt Werbung‘ in die Tat umsetzen“, erinnert sich der Vereinssprecher Pierre-Jean Delahousse.
Doch dann unterschrieb Anfang 2019 der Verkehrsbetrieb unter Leitung von Yann Mongaburu einen neuen Zwölfjahresvertrag mit JCDecaux für 1100 Wartehäuschen. Hinzu kam die Bewilligung von Leuchttafeln und 30 Digitalbildschirmen im öffentlichen Raum, und das Werbeverbot im denkmalgeschützten Stadtzentrum wurde teilweise aufgehoben.
„Vorerst kann ein Verkehrsunternehmen nicht auf die Werbeeinnahmen verzichten, wenn diese 5 Prozent seiner Betriebsausgaben decken“, bedauert Piolle, während Delahousse schimpft: „Damit gibt er der Werbung seinen Segen, um öffentliche Dienstleistungen zu finanzieren. Das ist eine Katastrophe! Wie soll man von den Leuten Umweltbewusstsein verlangen, wenn die Metropole mehr als 1000 Leuchttafeln auf die Bürgersteige stellt. Für JCDecaux war das ein unerwartetes Geschenk. Ihren Anzeigenkunden können sie jetzt sagen: Sogar in Grenoble dürfen wir.“
Die Grünen haben den Typus „allmächtiger Bürgermeister“ immer abgelehnt. Das widersprach ihren demokratischen Leitlinien. Und so setzte sich nach Piolles erstem Wahlsieg in Grenoble schnell ein neuer Stil durch: Abgeordnete kamen ohne Krawatte und mit dem Fahrrad zur Arbeit, Dienstwagen und Ämterhäufung wurden abgeschafft, und die großzügige Abrechnung von Spesen galt als verpönt. Dafür wurde die Bürgerbeteiligung großgeschrieben.
Auf der Place Saint-Bruno toben Kinder in einem riesigen Holzdrachen, der auf Vorschlag der Nachbarschaft über den Bürgerhaushalt finanziert wurde. „Eine interessante Idee“, meint die sozialistische Abgeordnete Cécile Cénatiempo. „Doch wenn etwas über den Bürgerhaushalt finanziert wird, entscheidet darüber nicht der Bezirk, sondern die Stadt, und da setzen sich die Wohlhabenden durch, die wissen, wie man sich effektiv engagiert.“
Und über die unabhängigen Bürgerräte, von denen einige Mitglieder per Los bestimmt wurden, hieß es im Evaluierungsbericht, deren Aufgabe sei gar nicht definiert worden.4 Auch der 2014 geschlossene neue Pakt mit den Quartiersvereinen droht zu scheitern. Deren Vertreter haben dem Bürgermeister im Mai einen Brief geschrieben: Sie seien überaus „verblüfft“ darüber, dass die „Charta der lokalen Demokratie“ schon seit Oktober 2020 im Rathaus überarbeitet werde, ohne die Quartiersvereine einzubinden oder zumindest vorher informiert zu haben.
In seiner ersten Wahlkampagne im Januar 2014 hatte Piolle noch lauthals über die Immobilienspekulation in Grenoble geschimpft und mit dem Finger auf die „Rue BNP Parisbas“ gezeigt, wie er die Straße nannte, in der die Immobiliensparte der Bank besonders viele Hochhäuser hinsetzen ließ. Doch kaum war er Bürgermeister, weihte Piolle das Central Plaza ein. In dem von ebendieser Bank gebauten Turm befindet sich im Erdgeschoss eine Einkaufspassage, in den oberen Geschossen 51 Eigentums- und 22 Sozialwohnungen.
BNP Parisbas ist übrigens auch ein wichtiger Förderer von Raise Partner, einem Softwareentwickler für Risikoanlagen, an dessen Gründung Piolle 2001 beteiligt war und bei dem seine Frau bis heute angestellt ist. Die Bank hat auch das Geld aufgebracht, um das Unternehmen in Grenoble durch die in Singapur registrierte gleichnamige Firma Raise Partner PteLtd wieder flottzumachen.
Die Tätigkeit dieses Unternehmens hat Fragen aufgeworfen: „Ich kann Ihnen versichern, dass keiner unserer Kunden unsere Anwendungen zur Steueroptimierung nutzt“, behauptet Sophie Echenim, CEO von Raise Partner. „Das ist nicht der Zweck unserer Werkzeuge, die eine digitale Optimierung ermöglichen, um das Risiko von Langzeitinvestitionen zu managen. Kein Aktionär hat einen Euro Steuern gespart oder auch nur eine Dividende erhalten. Wir haben eine Holding in Singapur gegründet, weil der Mehrheitsaktionär Gilbert Gagnaire dort wohnte. Aber das französische Unternehmen besitzt alle Verträge und alle Patente. Unsere 30 Angestellten arbeiten in Grenoble und Paris.“ Erst im Juli 2019 hat Piolle, der stets gegen den Freihandel wettert, seine Raise-Aktien an seine Frau überschrieben.
Es fragt sich auch, warum unter Piolle noch mehr Überwachungskameras im öffentlichen Raum installiert wurden, was so gar nicht zu seinem Image als Befürworter von Bürgerbegehren passt. Noch während der Kampagne für seine Präsidentschaftskandidatur hat sich Piolle für Volksentscheide starkgemacht. Doch bisher war keiner der drei Anläufe in der Stadt erfolgreich. Deren Annullierung durch das Verwaltungsgericht bot dem Bürgermeister immerhin die Gelegenheit, dessen „engstirniges und gestriges Demokratieverständnis“ anzuprangern. Dabei läge es in seiner Verantwortung, eine solide rechtliche Grundlage für diese Abstimmungen zu schaffen.
Aus für mehrere Stadtteilbibliotheken
Der dramatischste Moment am Ende seiner ersten Amtszeit ereignete sich am 10. Juli 2017, als Piolle mit seinem Veto verhinderte, dass die Stadtratssitzung über die Schließung mehrerer Bibliotheken abstimmen konnte. Dabei hatte die Stadt schon im Juni 2016 einen „Plan zur Rettung öffentlicher Dienstleistungen“ entworfen. Heute rechtfertigt sich Piolle damit, dass „die sozialliberale Logik“ der Zentralregierung Grenoble schon 2014 mit voller Härte getroffen hätte: „Ab 2017 kippte sie in etwas Ultraliberales.“
Damals haben die Grünen beschlossen, vor allem beim städtischen Personal zu sparen, im Bereich Schulgesundheit und bei den Stadtteilbibliotheken. Die Gewerkschaften waren entsetzt, dass diese wichtigen Errungenschaften geschleift werden sollten. Gerade die Stadtteilbibliotheken sind Vorreiter der Kulturvermittlung: „Wir müssen auf die Bevölkerung zugehen, nicht umgekehrt. Heute haben wir es mit Dogmatikern zu tun, die nur an die Privatwirtschaft denken und nicht begreifen, dass Kultur eine öffentliche Dienstleistung sein muss. Aber das geht nicht in die Köpfe dieses Bürgermeisters und seiner Kabinettsdirektorin, die beide von Hewlett-Packard kommen.“5
Theater, Museen, Musik – die Presse hat das Versagen der Kulturpolitik in Grenoble und die Arroganz, mit der sich die Kunstschaffenden behandelt fühlen, ausführlich beschrieben.6 In diesen Kreisen, in denen viele für die Grünen gestimmt haben, sitzt das Misstrauen inzwischen tief. Und in den Bibliotheken befürchtet man schon wieder das Schlimmste, seit der Covid-Pass verpflichtend ist und das Gesetz über die Umgestaltung im öffentlichen Dienst eingeführt wurde. „Sie haben es geschafft, alle gegen sich aufzubringen“, erklären die Gewerkschafter. „Es stimmt, die Sparpolitik kommt von der Regierung in Paris. Aber wir hatten erwartet, dass unsere Abgeordneten uns verteidigen.“
Während Piolle einen landesweiten Protestbrief gegen den „antisozialen“7 Covid-Pass unterzeichnete, bestellte die Personalabteilung von Grenoble schon in der ersten Woche die Bibliothekarinnen ein, die sich geweigert hatten, die Nutzer:innen zu kontrollieren. „Während das Misstrauen gegenüber den Abgeordneten aller Parteien wächst, ist das eine erbärmliche Art, ihre Rolle und ihren Platz zu verteidigen“, schrieben rund 30 Autor:innen und Verlage an den Bürgermeister und verlangten, die Bestrafung der Aufsässigen einzustellen,8 woraufhin die Stadt nach dreimonatigen Protesten erst Ende November einlenkte. „Sie sind nie schuld. Immer ist es der Staat, das Département und so weiter“, spotten die Gewerkschafter.
Der Konflikt mit den Angestellten im öffentlichen Dienst ist aber nur eine Seite der sozialen Bilanz. Auf der anderen Seite hat die Metropolregion eine bedarfsabhängige Gebührenordnung für Wasser eingeführt. Im öffentlichen Nahverkehr gibt es für die Ärmsten deutlich reduzierte Monatskarten, auch wenn sie nicht wie versprochen für alle Jugendlichen unter 25 Jahren gratis sind. Des Weiteren wird das Schulessen für die ärmsten Familien bis zu 93 Prozent bezuschusst. Überhaupt wurde viel in die Schulen investiert. Und mehrere Arbeiterviertel wurden komplett saniert.
2019 wurde in einem Referendum, das die Anwohner:innen initiiert hatten, über den Abriss von mehr als 300 Sozialwohnungen im Viertel Arlequin/La Villeneuve abgestimmt. 73 Prozent lehnten den Abriss ab. Die Stadt hat sich jedoch weder an der Organisation der Abstimmung beteiligt noch die Ergebnisse berücksichtigt, obwohl die Wahlbeteiligung im Viertel mit 23 Prozent genauso hoch war wie bei den Kommunalwahlen kurz danach. Die Grünen wollten offensichtlich die Nationale Agentur für Stadtentwicklung (Anru), die der größte Einzelgeldgeber des Abriss- und Wiederaufbauprojekts ist, nicht verärgern, obwohl die meisten Mittel von Trägern des sozialen Wohnungsbaus gestellt werden.
„Man kann immer sagen, wir hätten nicht genug gekämpft, aber wir haben das Kräfteverhältnis so ausgereizt, dass unser erstes Projekt abgelehnt wurde“, beklagt Piolle. In Pantin (Region Île-de-France) haben die Anwohner 2017 auch gegen den Abriss in ihrem Viertel Îlot 27 gestimmt, trotzdem hat die Anru ein Alternativprojekt finanziert und wird sogar ihren Hauptsitz nach Pantin verlegen.
„In Wirklichkeit kümmern sich die Grünen nicht um die Armen, die entweder zum Umzug gezwungen werden oder nach Sanierungen höhere Mieten zahlen müssen“, schimpft Bruno de Lescure, der wegen Abweichlertum aus dem Umweltverein Ades ausgeschlossen wurde und 2020 die linke Liste „La commune est à nous“ (Die Stadt gehört uns) angeführt hat. „Schon in den Vierteln Mistral oder Abbaye haben sie den Abriss genutzt, um die Bevölkerung zu verdrängen. 677 Wohnungen wurden abgerissen und nach zehn Jahren nur 522 neue gebaut.“ Dabei hatten schon 2010 die Architekten Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal eine Sanierung des Viertels ohne Abriss empfohlen, woraufhin die sozialistische Regierung ihnen den Vertrag kündigte. Elf Jahre später wurde das Architektenduo für sein originelles Konzept, das stets auf funktionale Erweiterung und ökologische Sanierung statt auf Abriss setzt, mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.
In seinem neuen Buch „Der Fall Grenoble“ kritisiert der Journalist Vincent Peyret eine „Kultur der Macht“, die „keine Schwäche kennt, keine Demut zeigt, nichts wirklich ändern will und vor allem von dem Wunsch gelenkt ist, um jeden Preis an der Macht zu bleiben“.9 Jean-Marc Cantèle, der von 2001 bis 2008 stellvertretender Bürgermeister und von 2010 bis 2014 Ades-Vorsitzender war, hält Piolle für „einen Hochstapler, nichts als Luft. Er verschaukelt uns.“
Éric Piolle und sein Team könnten noch eine letzte Chance bekommen und ihre Kritiker aus dem grünen Lager zum Schweigen bringen. Demnächst präsentiert nämlich der Bürgerkonvent für das Klima (Convention citoyenne pour le climat, CCC) seine Vorschläge für den Gemeindeverband Grenoble-Alpes-Métropole. Den ein oder anderen Vorschlag sollte sich der Bürgermeister auf jeden Fall näher anschauen.
1 „Le bilan déplacements en 2019 à Paris“, Beobachtungsstelle für Verkehrsbewegungen in Paris.
2 Siehe „Kopenhagen radelt“, LMd, Februar 2020.
3 Éric Piolle, „De l’espoir! Pour une République écologique“, Paris (Les liens qui libèrent) 2021.
7 Libération, Paris, 22. Juli 2021.
8 Mediapart, Paris, 13. Oktober 2021.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz