Staatlich diffamiert
Israel setzt palästinensische Menschenrechtsorganisationen auf die Terrorliste
von Maryam Puvogel Chakib
Als der israelische Verteidigungsminister Benny Gantz am 22. Oktober 2021 sechs palästinensische NGOs als „Terrororganisationen“ einstufte, löste dies weltweit Proteste aus. Die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet sprach von einem Angriff auf die Verteidiger von Menschenrechten. Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HWR) kritisierten den Schritt als „erschreckende und ungerechte Entscheidung“, die einen „Angriff der israelischen Regierung auf die internationale Menschenrechtsbewegung“ darstelle.1 Sie forderten, die Einstufung rückgängig zu machen.
Für die Betroffenen selbst kam die Entscheidung weniger überraschend, denn jede Einzelne der sechs NGOs wird schon seit Jahren immer wieder zum Ziel von Verleumdungskampagnen der israelischen Regierung und ihr nahestehender Organisationen, etwa der Gruppe NGO Monitor.2 Als Aufhänger der Kampagne diente zunehmend der Vorwurf des Terrorismus, der jetzt mit der Einstufung durch das Verteidigungsministeriums formalisiert wird.
Die sechs betroffenen Organisationen gehören zu den renommiertesten NGOs, die in den seit 1967 besetzten palästinensischen Gebieten tätig sind: Defense for Children International Palestine (DCI) verteidigt Kinder vor israelischen Militärgerichten und dokumentiert Misshandlungen und Erschießungen durch die israelische Armee; die Menschenrechtsorganisation Al-Haq bekam für ihre Arbeit mehrere internationale Preise und ist der Internationalen Juristenkommission angeschlossen; die Union of Agricultural Work Committees (UAWC) unterstützt Kleinbauern; Addameer vertritt die Rechte politischer Gefangener und veröffentlicht regelmäßig Berichte zu Folter in Gefängnissen; die Union of Palestinian Women Committees (UPWC) setzt sich für die Rechte von Frauen unter der Besatzung ein; und das Forschungsinstitut Bisan untersucht die sozioökonomischen Folgen der militärischen Besatzung.
„Die NGOs werden angegriffen, weil ihre Arbeit Erfolge zeigt“, sagt Jamil Dakwar, Direktor des Menschenrechtsprogramms der einflussreichen American Civil Liberties Union (Aclu).3 „Sie stellen nicht nur den Status quo der Besatzung infrage, sie trugen auch maßgeblich dazu bei, dass der Internationale Strafgerichtshof (ICC) im März 2021 ein Verfahren gegen Israel eröffnet hat, in dem mutmaßliche Kriegsverbrechen untersucht werden.“
Laut Dakwar verschärfte die israelische Regierung ihren Kurs gegen palästinensische NGOs schon seit 2009. Sie reagierte damit auf die Publikation des vom UN-Menschenrechtsrats in Auftrag gegebenen Goldstone-Berichts, der zu dem Ergebnis kam, dass die israelische Armee ebenso wie die Hamas im Gazakrieg 2008/09 gegen das Kriegsvölkerrecht verstoßen hatte. Der Befund, dass es auf beiden Seiten zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen war, löste damals in Israel große Empörung aus.
Zwei der nun zu Terrororganisationen erklärten NGOs waren maßgeblich an den Recherchen für den Goldstone-Bericht beteiligt. Auch die 2019 von der EU eingeführte Kennzeichnungspflicht für Produkte aus den völkerrechtswidrigen israelischen Siedlungen, geht auf die langjährige Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wie Al-Haq zurück. Dasselbe gilt für die 2020 eröffnete UN-Datenbank zu Firmenaktivitäten in diesen Siedlungen.
Die Versuche, Israel international zur Rechenschaft zu ziehen, um dem ungleichen Kräfteverhältnis vor Ort zu begegnen, wurden von der Regierung sehr ernst genommen. Daher sollen NGOs, deren Arbeit die internationale Reputation Israels beschädigt, durch eine Mischung aus Repression und Diskreditierung isoliert werden.
Koordiniert wurde diese neue Politik vom israelischen Ministerium für strategische Angelegenheiten. Dessen damaliger Generaldirektor Yossi Kuperwasser4 entwickelte den Terrorismus-Vorwurf zum zentralen Instrument des Feldzugs gegen missliebige palästinensische NGOs, an denen auch regierungsnahe rechte NGOs wie Shurat HaDin5 , UK Lawyers for Israel und NGO Monitor mitwirkten.
„Je stärker der Druck auf Israel wächst, durch den veränderten internationalen Diskurs und eine mögliche Strafverfolgung durch den ICC, desto aggressiver werden die Kampagnen gegen uns“, erklärt Fuad Abu Saif, Direktor der Kleinbauernorganisation UAWC. „NGO Monitor und Co. wissen, dass ihren Anschuldigungen jede Grundlage fehlt. Aber sie zählen darauf, dass es ausreicht, fortwährend den Terrorismusverdacht zu sähen, um Misstrauen bei unseren Partnern zu wecken. Bis jetzt hatten sie damit nur begrenzt Erfolg. Das soll die offizielle Einstufung nun ändern.“
Israels Diffamierungspolitik ging so weit, dass die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini im Juli 2018 den Leiter des Ministeriums für strategische Angelegenheiten, Gilad Erdan, scharf kritisierte, weil dieser einen Report über angebliche Terrorfinanzierung durch die Europäische Union verbreitet hatte. „Behauptungen, die EU unterstütze Aufwiegelung oder Terror, sind unbegründet und inakzeptabel,“ erklärte Mogherini. Bereits der Titel des Berichts sei irreführend, da er Terrorismus mit dem Thema Boykott vermische.6
Im Fall des UAWC hatte die anhaltende Rufschädigung jedoch insofern Erfolg, als westliche Geberländer mehrfach Rechnungsprüfungen durchführten. Dabei fanden etwa australische Regierungsstellen, darunter die Bundespolizei und der Geheimdienst, keinerlei Grund zur Beanstandung.
Der permanente Zwang, die eigene Unschuld zu beweisen, schuf für die NGOs erhebliche Probleme: „Seit 2012 sind wir gezwungen, große Teile unserer Ressourcen darauf zu verwenden, an Revisionen mitzuwirken, uns öffentlich gegen Vorwürfe zu verteidigen und hohe Anwaltskosten zu zahlen“, sagt Abu Saif. „Mit dem Vorwurf des Terrorismus wurde die Beweislast umgekehrt.“
Auch die anderen fünf NGOs waren schon seit Längerem zum Ziel repressiver Maßnahmen geworden. So nahm die israelische Armee 2019 Ubai Aboudiden, den Direktor des Forschungsinstituts Bisan, fest. Auch Mitarbeitende von Al-Haq wurden festgenommen oder gehindert, ins Ausland zu reisen. Im Sommer 2021 stürmte die israelische Armee die Büros von Adameer, Bisan, DCI und UAWC, wobei sie Computer und Dokumente konfiszierte.
Gefährlich unklare Haltung der EU
Die Begründung für die jüngste Einstufung der NGOs als „Terrororganisationen“ greift ein Narrativ aus früheren Kampagnen wieder auf: Die sechs Organisationen würden auf Befehl der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) operieren, einer linken palästinensischen Partei, die in den USA und in der EU als Terrororganisation gelistet ist, aber bis heute eine breite Basis in der palästinensischen Bevölkerung hat.
Unbestritten ist – auch von den Betroffenen selbst –, dass viele der noch vor dem ersten Osloer Abkommen 1993 gegründeten NGOs ihre Wurzeln in der palästinensischen Linken haben, die maßgeblich durch die PFLP geprägt wurde. Trotz dieser historischen Verbindungen gab es jedoch nie Beweise für den Vorwurf, die NGOs würden Geldwäsche für die PFLP betreiben oder von der Partei Befehle entgegen nehmen.
Die rechtliche Grundlage für die Einstufung der NGOs liefert das israelische Antiterrorgesetz von 2016. Das erlaubt es dem Verteidigungsminister, Gruppierungen per Dekret zu „Terrororganisationen“ zu erklären, dabei aber Beweise aus „Sicherheitsgründen“ geheim zu halten. Der israelischen Regierung kommt zugute, dass in der Post-9/11-Ära unter Berufung auf den „Antiterrorkampf“ auch westliche Demokratien regelmäßig rechtsstaatliche Standards suspendiert haben.
„Angriffe auf die palästinensische Zivilgesellschaft sind in der kolonialen Matrix der Besatzung bereits durch das israelische Militärrecht gedeckt, dafür brauchte es diese Einstufung nicht“, befindet Mudar Kassis, Professor für Philosophie an der Birzeit-Universität in Palästina. Jetzt aber wolle der Staat die Repression verrechtlichen, also von „colonality“ in Richtung „legality“ verschieben.
Die USA haben sich angesichts der israelischen Repression gegen NGOs bisher auffällig zurückgehalten. Anlässe für entschiedene Kritik gab es genug, zumal in vielen Fällen Organisationen mit Sitz in den USA betroffen waren: 2016 wurde der World Vision Mitarbeiter Mohammed al-Halabi festgenommen, gegen den bis heute keinerlei Beweise existieren;7 2019 folgten das Reiseverbot gegen Laith Abu Zeyad, einen Amnesty-International-Mitarbeiter, und die Abschiebung des HRW-Direktors Omar Shakir; 2020 wurde Beauftragten des UN-Menschenrechtskommissariats die Einreise verweigert.
Umso entscheidender wird sein, wie sich die Europäische Union zu dieser Diffamierung der NGOs verhält – auch weil die betroffenen Organisationen bisher einen wesentlichen Teil ihrer Mittel von der EU oder von EU-Mitgliedstaaten erhalten haben.
„Ich halte es für zentral wichtig, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten darauf beharren, die Einstufung zurückzunehmen, wenn keine belastbaren Beweise vorgelegt werden“, sagt Muriel Asseburg, Nahostexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. „Die Bundesregierung hat ja öffentlich wie auch im Gespräch mit der israelischen Regierung deutlich gemacht, dass sie die von Israel bislang vorgelegten Belege für eine angebliche Involvierung der sechs NGOs in Terrorfinanzierung beziehungsweise terroristische Aktionen nicht als überzeugend erachtet.“
Zur selben Einschätzung kamen die Regierungen Irlands, Belgiens und der Niederlande. Sie alle ließen erklären, das den EU-Geberländern vorgelegte 74-seitige Geheimdossier über eine angeblichen Zusammenarbeit der NGOs mit der PFLP enthalte kein einziges konkretes Beweisstück.
Ob die Europäische Union ihr politisches Gewicht über bloße Erklärungen hinaus zum Schutz der palästinensischen NGOs einsetzen wird, bleibt abzuwarten. Besonders wahrscheinlich erscheint dies nicht, angesichts der Verschärfung der Richtlinien für die Vergabe von Fördermitteln, die die EU seit 2019 vornimmt.
„2019 begann die EU Klauseln in Verträge mit palästinensischen NGOs einzufügen, die besagen, dass wir die EU-Terrorliste und die Kriterien für die Einstufung terroristischer Vereinigungen anerkennen müssen. Auf der Liste stehen auch fünf palästinensische politische Parteien“, erläutert Lubnah Shomali vom Forschungszentrum Badil in Bethlehem. „Zudem sollen wir unser eigenes Personal auf entsprechende Verbindungen überprüfen.“ Dies zwinge Organisationen, sich gegen Parteien zu positionieren, die tief in der palästinensischen Gesellschaft verankert seien, womit man diese nur weiter spalte.
In Reaktion auf die Verschärfung der EU-Förderkriterien hat sich ein breites Protestbündnis lokaler palästinensischer NGOs formiert, die sich weigern, die Klauseln zu unterzeichnen. Ihr Vorschlag, stattdessen das ohnehin im Gesetz verankerte Verbot der Finanzierung von Parteien durch NGOs in die Kriterien aufzunehmen, wurde von der EU abgelehnt. Dazu meint Shomali: „In einer Zeit, in der NGOs bereits unter massiver Repression litten, hat die EU mit ihrer Politik des Generalverdachts den Weg für die Kriminalisierung der NGOs geebnet.“
Sollte die Einstufung nicht zurückgenommen werden, würde Israel zum Vorreiter einer unrühmlichen politischer Praxis werden. Auch Staaten wie die Türkei, China oder Russland haben längst ihren eigenen „War on Terror“ ausgerufen und Gesetzesgrundlagen geschaffen, die es erlauben, missliebige politische Gruppen und zivilgesellschaftliche Organisationen durch die Einstufung als „Terrororganisation“ zu entrechten.
„Die Einstufung fügt sich in ein Muster“, erläutert Muriel Asseburg. „Eine ganze Reihe von Staaten verengen den Handlungsspielraum von regierungskritischen NGOs und Menschenrechtsorganisationen, indem sie sie durch gezielte Desinformation delegitimieren, verbieten oder kriminalisieren – man denke nur an das drohende Verbot von Memorial in Russland.“
4 Siehe Nathan Thrall, „Boykott gegen Israel“, LMd, Dezember 2018.
6 „EU Blasts Israeli Minister: You Feed Disinformation and Mix BDS, Terror“, Haaretz, 17. Juli 2018.
Maryam Puvogel Chakib ist Politikwissenschaftlerin. Sie forscht zur Versicherheitlichung von europäischer Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel der besetzten palästinensischen Gebiete.
© LMd, Berlin