Wie Lettland das Erbe der Sowjetunion loswerden will
von Hélène Richard
Die Buslinie 3 führt aus dem Rigaer Stadtzentrum an der Düna entlang Richtung Ostsee. Vor dem Fenster ziehen reglose Hafenkräne vorbei. Eine Pyramide Baumstämme wartet auf ein Frachtschiff.
Vor drei Jahren wurden hier noch 14 Millionen Tonnen russischer Kohle umgeschlagen. Doch das ist vorbei.1 Russland verschifft nur noch über die eigenen Häfen. Auch der Transit aus Belarus hat abgenommen. Weil Lettland – wie die anderen baltischen Staaten Estland und Litauen – die dortige Opposition gegen das repressive Regime unterstützt, hat Belarus einen Teil seiner Warentransporte umgeleitet.
In den Straßen von Riga scheinen sich indes russische und lettische Stimmen harmonisch zu mischen. Ein Taxifahrer ruft seinem Kollegen etwas auf Lettisch zu, dann begrüßt er einen Fahrgast auf Russisch. Tatsächlich beschäftigt sich die lettische Regierung jedoch seit der Unabhängigkeit vor 30 Jahren nahezu ununterbrochen mit dem sogenannten russischen Problem, womit die circa 27 Prozent der insgesamt 1,9 Millionen Einwohner:innen Lettlands gemeint sind.
Aus Sorge, Wladimir Putin könnte diese große Minderheit für seine Zwecke instrumentalisieren, verstößt das Parlament sogar gelegentlich gegen demokratische Prinzipien. So wurde die Partei der russischsprachigen Minderheit, Saskaņa (Harmonie, SDPS), noch nie an der Regierung beteiligt, obwohl sie, wie zuletzt 2018 mit fast 20 Prozent, zum wiederholten Mal stärkste Partei geworden war. International erregt das erstaunlich wenig Aufsehen. Lettland gilt vielmehr als Insel der Seligen, wo keine EU-Skepsis die Harmonie stört – im Gegensatz zu anderen ehemaligen Ostblockländern, allen voran Polen.
Unverdrossen wird Saskaņa als Marionette des Kremls bezeichnet, obwohl schon ihre Vorgängerpartei Tautas Saskaņas partija (TSP) 2003 für den Beitritt Lettlands in die EU und – zum großen Missfallen Russlands – in die Nato gestimmt hatte.
Der Parteivorsitzende Jānis Urbanovičs erklärt uns in seinem Rigaer Büro, Saskaņa bemühe sich einerseits zwar tatsächlich darum, die Spannungen mit Russland, dem viertgrößten Handelspartner Lettlands, abzubauen, doch andererseits habe man sich auch nicht gescheut, die offiziellen Beziehungen zur Kremlpartei Einiges Russland abzubrechen: „Angesichts der harten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen war es unmöglich, die Partnerschaft aufrechtzuerhalten.“ Diese sei allerdings in der Vergangenheit sehr nützlich gewesen, um russische Investoren nach Riga zu holen.
Die derzeitige bunt zusammengewürfelte Regierungskoalition aus fünf Parteien2 wird durch den kleinsten gemeinsamen Nenner des Misstrauens gegen Russland zusammengehalten. Auch im Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg spielt die „russische Frage“ eine wichtige Rolle. Obwohl sich Lettland wie Polen, Estland und Litauen als Opfer zweier totalitärer Regime sieht, versuchte man nach der Unabhängigkeit die Bezüge zur Sowjetunion auszulöschen.
Das Parlament verlegte gleich 1991 den Feiertag zum Kriegsende auf den 8. Mai, das im Westen übliche Datum. Doch alljährlich am 9. Mai, dem sowjetisch-russischen Gedenktag aufgrund der Zeitverschiebung, versammelten sich in Riga bis zum Ausbruch der Coronapandemie mehrere tausend Menschen. Und die Saskaņa verteilte Präsentkörbe an die letzten überlebenden Veteranen der Roten Armee, die im heutigen Staat als Besatzungsarmee gilt, die Lettland zwischen 1940/41 und 1944–1991 okkupiert hat. Die radikalsten Nationalisten wollen sogar das erst 1985 errichtete „Denkmal für die Befreier“ beseitigen, das allerdings durch eine Vereinbarung geschützt ist, die Riga und Moskau 1994 unterzeichnet haben. Diese Leute begehen auch seit 1991 mit Rechtsextremen aus ganz Europa in Uniform mit Hakenkreuz und SS-Rune den 16. März als „Tag der Legionäre“ in Erinnerung an die erste Schlacht 1944 zwischen der Roten Armee und den lettischen Divisionen der Waffen-SS. Deren heute als Unabhängigkeitskämpfer gefeierten Veteranen waren teilweise auch an der Erschießung hunderttausender lettischer Jüdinnen und Juden beteiligt.3
Das Ausland reagiert jedes Mal empört auf die Veranstaltung, die bis 2000 sogar offiziellen Status besaß. 2012 äußerte der Europarat seine „Besorgnis über jeden Versuch, die Mitgliedschaft in einer Einheit der Waffen-SS und die Kollaboration mit den Nazis zu rechtfertigen“.
Im Wirrwarr solcher Erinnerungskämpfe bahnen sich vor allem junge Leute zuweilen überraschende Wege. Wir besuchen das Architekten-Kollektiv NRJA, das sich in einem Dachgeschoss der Rigaer Altstadt eingerichtet hat. Es will verhindern, dass der frühere Sitz des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei zerstört wird, der in den 1990er Jahren zum Bürogebäude umfunktioniert worden war.
Uldis Luksevic zeigt uns einen Videoclip, der die Einzigartigkeit dieses 1974 gebauten Schmuckstücks der Nachkriegsmoderne würdigt. 2020 beschloss der Kulturminister, das Gebäude abreißen zu lassen, um an seiner Stelle eine Konzerthalle zu errichten. Und um die Stadt „von einem Phantom des Kommunismus“ zu befreien, das „die Willkür jener Epoche“ zeige. Das Kollektiv machte mit einer Petition dagegen mobil, inszenierte eine symbolische Beerdigung, stellte den Videoclip ins Netz – und erreichte damit tatsächlich sein Ziel: Der Minister ließ von seinem Vorhaben ab.
Bestreiten sie, die das architektonische Erbe der kommunistischen Ära so hartnäckig verteidigen, dass es eine sowjetische Okkupation gab? „Ich verstehe die Frage nicht“, entgegnet die junge Architektin Elīna Lībiete. „Klar war es eine Okkupation. Aber sollen wir deshalb alle Gebäude von damals abreißen? Dann würde nicht viel stehenbleiben“, ergänzt ihre Kollegin Ieva Lāce-Lukševica lächelnd.
Von Bürgern und Nichtbürgern
Die offizielle Bezeichnung der Sowjetzeit als „Okkupation“ ist inzwischen allgemein gebräuchlich. Die Historikerin Juliette Denis widerspricht: Lettlands Integration in die sowjetische Welt habe „keine doppelte Macht (bewaffnet und zivil) etabliert, wie sie für die Okkupation Europas durch Nazideutschland typisch“ war. Lettlands Fixierung auf den Begriff Okkupation findet Denis auch deshalb unangebracht, weil „die Annexion und die darauffolgende Sowjetisierung viel tiefgreifendere und anhaltendere Prozesse“ bedeuteten als bei einer Okkupation. Der Begriff habe sich zweifellos eher aus politischen denn aus wissenschaftlichen Gründen durchgesetzt.4
Offenbar soll durch die Gleichsetzung von Sowjetunion und Naziregime die Identität Lettlands als Opfer von zwei gleichermaßen kriminellen totalitären Regimen gestärkt werden. Daher rührt auch die fragwürdige Handhabung demokratischer Rechte: Alle Einwohner, die nach der ersten Annexion von 1940 nach Lettland gezogen sind und mehrheitlich aus Russland, aber auch aus anderen Sowjetrepubliken stammten, wurden von der unabhängigen Republik Lettland am 15. Oktober 1991 zu Nichtbürgern erklärt. 700 000 Menschen, also fast ein Drittel der lettischen Bevölkerung, waren zunächst davon betroffen und verloren ihr aktives und passives Wahlrecht, sowohl bei nationalen wie kommunalen Wahlen.
Estland machte es genauso, während in Belarus und in der Ukraine alle eingebürgert wurden. Erst nach dem Staatsbürgerschaftsgesetz vom 1. Februar 1995 konnten sich die Nichtbürger wieder einbürgern lassen – wenn sie die Sprachprüfung in Lettisch bestanden hatten und ihre Grundkenntnisse in lettischer Geschichte ausreichten.
In den folgenden Jahren erleichterten zwar weitere Gesetzesänderungen den Zugang zur Staatsbürgerschaft, doch bis heute leben 190 500 Nichtbürger im Land, von denen sich 65 Prozent als Russen bezeichnen. 10 Prozent der Bevölkerung haben also immer noch kein Wahlrecht, nicht einmal bei Kommunalwahlen, und dürfen bestimmte Berufe wie Anwältin oder Apotheker nicht ausüben.
Die Moskauer Regierung bemängelt regelmäßig den unsäglichen Nichtbürgerstatus in Lettland – vor allem im Europarat, dessen Vollversammlung die Rigaer Regierung mehrfach aufgefordert hat, die Integration der Russischsprachigen in den öffentlichen Dienst und den Unterricht von Minderheitssprachen zu erleichtern. Die letzte Reform im Bildungswesen von 2018 ließ keine Schritte in diese Richtung erkennen. Im Gegenteil: 2022 soll in allen Sekundarschulen der Unterricht ausschließlich auf Lettisch durchgesetzt werden. Der letzte Rest der Mehrsprachigkeit aus Sowjetzeiten in den Schulen, wo bisher Lettisch, Russisch und andere Minderheitensprachen wie Polnisch unterrichtet wurden, wäre damit beseitigt. Nach Ansicht Rigas instrumentalisiert Russland die Sprachenfrage, um die Spaltung der Gesellschaft zu konservieren.
Ein Szenario wie im ukrainischen Donbass, wo seit April 2014 die selbstproklamierten Volksrepubliken Donezk (VRD) und Lugansk (VRL) inoffiziell von Russland unterstützt werden,5 wird in Riga jedoch nicht ernsthaft für möglich gehalten. 2016 verstärkte die Nato ihr Engagement vor allem durch multinationale Kampftruppen in Bataillonsstärke, die abwechselnd in den drei baltischen Staaten und Polen stationiert sind. Doch wenn es um den Einfluss Russlands auf die Stimmung im Land geht, ist Lettland stets alarmiert.
Die Wurzeln dieser Ängste liegen im Jahr 2012. Nachdem eine Bürgerinitiative 10 000 Unterschriften gesammelt hatte, um Russisch als zweite Amtssprache anerkennen zu lassen, musste ein Referendum abgehalten werden.6 Obwohl die beliebten russischen Fernsehsender die Abstimmung massiv zu beeinflussen versuchten, endete sie mit einem deutlichen „Nein“ von 75 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Die Regierung geriet trotzdem in Panik. „Diese Geschichte hat gezeigt, dass Russland imstande ist, eine nebensächliche Frage zu einer Gesellschaftsdebatte zu machen“, meint Janis Sarts, Direktor des Exzellenzzentrums für strategische Kommunikation (Stratcom COE), eine der Nato angegliederte Dienststelle, die über Desinformation forscht und von Riga mitfinanziert wird.
Um Moskaus Einfluss zu bekämpfen, schreckt Lettland nicht einmal vor Zensur zurück. So wurde im Februar 2021 der russische Fernsehsender Rossija RTR für ein Jahr vom Netz genommen. Seit 2019 gab es etwa 30 Sendeverbote für russische Sender. Meist stützt man sich dabei auf eine großzügige Interpretation der individuellen Sanktionen, die von der EU nach der Krim-Annexion verhängt wurden.
Im Februar 2019 wurden neun Sender, die zur Nationalen Mediengruppe gehören, mit der Begründung abgeschaltet, diese unterstehe de facto Juri Kowaltschuk, einem Oligarchen und Putin-Freund, der seit Juli 2014 nicht mehr in die EU einreisen darf. Mehrere Journalisten von Sputnik Lettland und Baltnews bekamen Schwierigkeiten, weil sie für Sender arbeiten, die dem staatlichen Medienunternehmen Rossija Sewodnja unterstehen. Dieses wird von Dmitri Kisseljow geleitet, dem einzigen russischen Journalisten auf der EU-Sanktionsliste.
Pervi Baltik Kanal (PBK), der baltische Ableger des ebenfalls von Kowaltschuk kontrollierten Ersten Russischen Fernsehens, ist von einem Verbot bislang verschont geblieben, seine Bankkonten wurden jedoch während laufender Ermittlungen eingefroren. Der wirtschaftliche Druck zwang die Direktion im März 2020, die Produktion lokaler Nachrichtensendungen einzustellen.
„Mag die russische Propaganda in Europa noch so aggressiv sein, die EU-Sanktionen sind kein legitimes oder geeignetes Mittel, um sie zu bekämpfen“, urteilte die Organisation Reporter ohne Grenzen, der man gewiss keine Sympathien für Putin vorwerfen kann. „Anstatt mit vagen Begründungen und auf unsicherer Rechtsgrundlage Medien zu schließen, müssen die Staaten Garantien für die journalistische Unabhängigkeit aller Medien verlangen. Würden alle Medien unabhängig von der geografischen Herkunft denselben Verpflichtungen unterworfen, könnten Vergeltungsmaßnahmen von Staaten, mit denen man einen Informationskrieg führt, vermieden werden.“7
Darüber hinaus versuchen die lettischen Behörden, die russischsprachigen Inhalte im staatlichen Fernsehen zu reduzieren. Die Nachrichten auf Russisch des Senders LTV17 wurden auf einen Onlinekanal verbannt. Eine fragwürdige Entscheidung, denn russischsprachige Menschen wie Waleri Krijanowski aus Krāslava werden so den russischen Sendern in die Arme getrieben.
In Krāslava im Süden der Region Lettgallen, zwei Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt, leben 7600 Menschen. Hier hört man fast nur Russisch. Waleri Krijanowski betreibt ein kleines Familienhotel an der einzigen Brücke des Orts. Hinter dem Tresen, unter einem Porträt von Papst Franziskus, erzählt er stolz von seinen polnischen Vorfahren. Früher hieß Lettgallen Polnisch-Livland und gehörte zur Königlichen Republik Polen-Litauen. Nach der ersten polnischen Teilung 1772 fiel die Region unter russische Herrschaft.
Krijanowski ist Katholik wie 18 Prozent der lettischen Bevölkerung und verkörpert das, was der lettische Staat am meisten fürchtet: Er sieht nur russische Fernsehsender, die er für „objektiver als die lettischen“ hält, spricht nur mühsam die offizielle Landessprache, und er „mag die Letten nicht, die sich den Staat unter den Nagel gerissen haben“. Russland habe sich zu lange zurückgehalten und werde bald „wieder bis Berlin vorrücken“.
Keine Covid-Informationen auf Russisch
In den 1990er Jahren, zu Zeiten des wilden Kapitalismus, lebte Krijanowski, früherer Funktionär der Kommunistischen Jugend, in Moskau, um „Biznes“ zu machen. „Das war eine gefährliche Zeit. Zwölf meiner Freunde sind dabei draufgegangen. Ich hatte Glück.“ Obwohl Krijanowski offenkundig vom chaotischen Übergang zur Marktwirtschaft profitiert hat, bewundert er Präsident Putin, der „in seinem Land wieder für Ordnung gesorgt“ habe – und außerdem „ein großer Judoka“ sei. Neben dem Papstporträt hängt eine Siegerurkunde Krijanowskis von einem internationalen Judowettkampf.
Ist das der Beweis für die Existenz einer fünften Kolonne, die die prophylaktischen Maßnahmen der Regierung rechtfertigt? In Krāslava treffen wir jedenfalls auf niemanden, der Krijanowskis Ansichten teilt. Die Beziehung der anderen Russischsprachigen zu Russland ist eher distanziert, wobei sie auch die lettische Regierung nicht schonen. Marina Protsewska ist Allgemeinärztin. Sie liest regelmäßig Meduza, die Nachrichtenwebsite kritischer russischer Journalisten, die nach Lettland geflohen sind. Den Dogmatismus der lettischen Behörden kritisiert sie scharf.
Als Ende Oktober 2020 der zweite Coronalockdown verhängt wurde, sträubte sich die Regierung lange, die Bevölkerung auch auf Russisch anzusprechen. Dabei verstehen viele alte Menschen hier kaum Lettisch. „Das Ministerium hat mir erst diesen Juli Infomaterial über Covid und die Impfung auf Russisch geschickt“, sagt die Ärztin. Soll Russisch als Landessprache anerkannt werden? Sie zögert. „Ich habe 2012 nicht an dem Referendum teilgenommen. Die Frage war falsch gestellt. Ich möchte, dass Lettisch die offizielle Sprache bleibt, aber dass es in den Kommunen flexibler gehandhabt wird.“
Auch der 24-jährige Aïvars Bačkurs ärgert sich über die „Diskriminierung der Russischsprachigen“, obwohl er sich als „Patriot“ bezeichnet. Er ist in einer Jugendorganisation aktiv, für die er auch bei der letzten Kommunalwahl angetreten ist. Bačkurs sorgt sich um die Zukunft seines Landes. Wir begleiten ihn zu einer Tankstelle, dem einzigen Ort, wo man in Krāslava nach 19 Uhr noch einen Kaffee trinken kann. Mehrere Autos parken hinter den Tanksäulen. Junge Leute stehen und sitzen an Picknicktischen, trinken Cola und rauchen. Bačkurs setzt sich auf eine Motorhaube und scrollt auf dem Smartphone durch sein Instagram-Newsfeed. „Da! 2009 gab es in Lettland 238 000 Personen zwischen 18 und 24, 2019 noch 122 000. Das ist ein Aderlass. Unser Land hat kein Erdöl, die einzigen Reichtümer sind das Holz und die Jugend, aber die geht weg.“
Die Zahlen stimmen. Seit 1991 hat Lettland ein Drittel seiner Bevölkerung verloren: steigende Sterbe- und sinkenden Geburtenraten, dazu die Auswanderung nach Westen. Die lettische Ökonomie kann nicht mehr mit ihren baltischen Nachbarn mithalten. Gemessen an der Kaufkraft liegt das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Lettland bei 72 Prozent des EU-Durchschnitts, in Litauen und in Estland sind es 86 Prozent.8
In Krāslava hat die Jugend genau zwei Möglichkeiten. Von Bačkurs’ 24 Klassenkameraden machen sieben eine Ausbildung bei den Grenztruppen. Sein früherer Geschichtslehrer Andrej Jakubovskis schätzt, dass sich ein Drittel seiner Abiturienten für diesen Beruf entscheiden. Mit der angekündigten verstärkten Überwachung der Grenze zu Belarus wird das Interesse noch wachsen. Und die anderen werden wohl auswandern. Von den 25 Schülerinnen und Schülern in Jakubovskis’ Klassen wachsen immer zwei bis drei bei den Großeltern auf, weil die Eltern in Westeuropa arbeiten: „Vor 20 Jahren hätte niemand gewusst, wo die Städte Cork, Galway, Limerick oder Swords liegen. Heute sind uns die irischen Namen sehr vertraut.“
Die Integration in den Schengenraum 2007 und die drakonische Sparpolitik nach der Finanzkrise 2008 haben einen wahren Ansturm auf Westeuropa ausgelöst. Damals sanken die Löhne im Privatsektor um 30 Prozent, die staatlichen Ausgaben um 15 Prozent des BIPs und der Mindestlohn um 20 Prozent.9 Dennoch gibt es keine Partei in Lettland, die auf euroskeptische Parolen setzt, nicht einmal die Saskaņa. Die feilt vielmehr an ihrem Image als „normale“ sozialdemokratische Partei im Europaparlament. Und weil die russische Propaganda angeblich mit Vorliebe „die Auslöschung der baltischen Staaten“ thematisiere, sind die negativen Folgen des EU-Beitritts ein politisches Tabuthema.
Die Anthropologin Dace Dzenowska,10 die tausende leere Geisterdörfer in Lettland besucht hat, vermutet, dass die geopolitischen Spannungen die öffentlichen Debatten dermaßen beherrschen, dass niemand mehr über die sozialen Verwerfungen zu sprechen wagt.10 Seit 2001 sind mehr als 3000, das heißt mehr als ein Drittel aller Ortschaften, von der lettischen Landkarte verschwunden.11 Die Regierung musste deshalb schon die Verwaltungsgliederung überarbeiten. Doch man scheint sich mit dem Status „kleines Land“ abgefunden zu haben, für das die Unabhängigkeit vor allem den Wechsel von einer Vormundschaft in die andere bedeutet.
5 Siehe Loïc Ramirez, „Alltag in Donezk“, LMd, Mai 2017.
6 Vgl. Thomas Taterka, „Brief aus Riga“, LMd, Mai 2015.
9 Siehe Philippe Rekacewicz und Ieva Rucevska, „Arm, ärmer, Rezekne …“, LMd, September 2009.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
Bündnisse und Initiativen
von Hélène Richard
Seit 2016 hat sich der Verteidigungsetat des Nato-Mitglieds Lettland verdoppelt. Der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt ist seit 2012 von 0,9 auf 2,3 Prozent gestiegen. Riga rüstet zwar auf, ist aber vehement gegen eine von der Nato unabhängige EU-Strategie, wie sie dem französischen Präsidenten vorschwebt. Auch der im Sommer unterbreitete Pariser Vorschlag, zu den EU-Russland-Gipfeln zurückzukehren, wurde hier sehr kühl aufgenommen. „Ich wüsste nicht, was Europa dabei gewinnen könnte“, sagte Außenminister Edgars Rinkēvičs, „aber ich sehe deutlich, welchen Profit Russland daraus schlagen würde: eine Rückkehr zur Normalität, ohne eine einzige Bedingung der Minsker Abkommen erfüllt zu haben.“
Im September, als sich Frankreich noch über die antichinesische „Pazifik-Allianz“ der USA, Australiens und Großbritanniens echauffierte, traf sich der lettische Außenminister mit seinem australischen Kollegen. Auch sonst sucht sich Lettland seine Bündnispartner eher in der erweiterten Nachbarschaft, etwa bei Nicht-Nato-Mitgliedern Schweden und Finnland. 2004 schlossen sich diese drei Ostseeanrainer mit Estland, Litauen und Dänemark zu dem Forum Nordic-Baltic 6 (NB6) zusammen. Die sechs Länder treffen sich vor den Sitzungen des Europarats, um ihre Positionen zu koordinieren, und verbünden sich manchmal auch mit anderen Gruppierungen. So unterstützte die Visegrád-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei) 2014 eine NB6-Initiative, die russische Annexion der Krim zu verurteilen.
Das NB6 fördert auch den Ausbau der Infrastruktur, wie das Rail Baltica Eisenbahnnetz (siehe Karte) mit dem Schwerpunkt auf neuen Nord-Süd-Verbindungen anstelle der Ost-West-orientierten Transportachsen aus der Sowjetzeit.
Die Opposition in Lettland würde es dagegen vorziehen, wenn das Land seine Lage als natürliche Brücke zwischen Asien und Europa besser nutzen würde. So bedauert der Saskaņa-Abgeordnete Nikolajs Kabanovs, dass ein Projekt zur Elektrifizierung bestehender Bahnlinien aufgegeben wurde, und liest darin „eine ausschließlich antirussische Entscheidung, obwohl das Projekt von den Warenströmen aus China und Kasachstan hätte profitieren können“.
Außerdem will sich Lettland der chinafeindlichen US-Politik anschließen. Anders als Litauen im Mai 2021 hat es zwar das von China initiierte „17+1“-Format noch nicht verlassen, aber der lettische Außenminister hat versichert, man wolle sich „umorientieren“ und setze auf die Drei-Meere-Initiative (Ostsee, Adria und Schwarzes Meer), die 2016 von Kroatien und Polen gestartet wurde und von Washington hoch geschätzt wird. Die Initiative will vor allem die europäische Abhängigkeit von russischem Öl und Gas verringern, indem es einen Nord-Süd-Korridor unterstützt, der etwa den zukünftigen Flüssiggasterminal auf der kroatischen Insel Krk mit der polnischen Hafenstadt Świnoujście verbinden soll, wo schon heute das Gas aus Katar, Norwegen und anderswo ankommt.
Seit dem Brexit haben die Nordic-Baltic 6 noch an Bedeutung gewonnen. Unterstützt von den Niederlanden und Irland, will die Ländergruppe den EU-Austritt ihres wichtigsten Verbündeten kompensieren. So soll eine „neue Hanse sparsamer Staaten“ ein Gegengewicht zum deutsch-französischen Tandem schaffen.