Stillstand bei Abbey Logistics
In Großbritannien fehlen Arbeitskräfte – und das liegt nicht nur am Brexit
von Tristan de Bourbon-Parme
Hywel Clark findet, dass sich sein Leben in den letzten sechs Monaten verändert hat, und zwar zum Besseren. Noch vor zwei Jahren hatte er zu seiner Freundin gesagt: „Wenn ich noch mal von vorne anfangen könnte – ich würde nicht Lastwagenfahrer werden.“
Der 50-jährige Clark, der in einem der nördlichen Vororte von London lebt, hatte einleuchtende Gründe: „In den letzten zehn Jahren war der Job nicht nur schlecht bezahlt, er hatte auch kein Ansehen. Zum Beispiel bei den Frauen beim Onlinedating: Wenn ich erzählt habe, dass ich Lkw-Fahrer bin, hab sie gleich mit einer Ausrede den Kontakt beendet. Irgendwann habe ich gesagt, ich wäre Pilot.“
Seit einem halben Jahr ist das nicht mehr nötig. „Jetzt höre ich immer, dass ich ein Held bin und dass ich die Welt rette, wenn ich morgens aufstehe und zur Arbeit gehe. Und mein Gehalt ist auch höher, mit ein paar Überstunden habe ich jetzt rund 50 000 statt 40 000 Pfund im Jahr.“
Für Clark ist das nach 20 Berufsjahren eine ganz neue Erfahrung. Seit dem Frühjahr 2021 leidet die britische Wirtschaft an einem dramatischen Mangel an Lkw-Fahrern. Das Problem ist nicht neu. „Der Beruf hat im Lauf der Jahrzehnte an Attraktivität verloren“, räumt Rod McKenzie vom Verband der britischen Transportunternehmen (RHA) ein. „Als die Spediteure Fahrer aus europäischen Niedriglohnländern einzustellen begannen, stagnierten die Löhne.“
Nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni 2016, bei dem 51,1 Prozent der Stimmen für den Austritt aus der Europäischen Union abgegeben wurden, hatte die Branche mit einem solchen Schock gerechnet. Auch Steve Granite, Chef des Tanklaster-Unternehmens Abbey Logistics mit Sitz in St. Helens, einer Kleinstadt in Lancashire. Er hatte gedacht, der Brexit würde zur Abwanderung vieler ausländischer Fahrer führen. „Aber das ist erst mal nicht passiert. Wir haben aufgeatmet.“ Im Juni 2016 waren in Großbritannien nach der offiziellen Statistik 316 000 Lkw-Fahrer beschäftigt, von denen 31 000 aus anderen EU-Ländern stammten, Ende März 2020 waren es sogar 37 000.
Doch dann kam die Coronapandemie und die Befürchtungen des Logistikunternehmers wurden doch noch wahr: Jeder Zehnte der 350 Lkws von Abbey Logistics ist stillgelegt, weil Fahrer fehlen. Und Granite hat Probleme, die restlichen zu halten, obwohl sie inzwischen ein Fünftel mehr verdienen: zwischen 35 000 und 50 000 Pfund.
Letzten Juni, 15 Monate nach Beginn des ersten Coronalockdowns, hatten 13 000 kontinentaleuropäische und 54 000 britische Fahrer aufgehört. Einige gingen wie geplant in Rente oder wollten die Pandemie lieber bei ihrer Familie durchstehen. Aber viele sind auch in die attraktivere Lieferbranche gewechselt: Die Fahrten sind auf die nähere Umgebung beschränkt, die Arbeitszeiten besser – und das bei besserer Bezahlung. Zudem müssen Lkw-Fahrer seit April 2021 als Angestellte arbeiten. Das bedeutete finanzielle Einbußen, denn die meisten Fahrer hatten zuvor als Selbstständige niedrigere Sozialbeiträge gezahlt (womit sie freilich eine schlechtere soziale Absicherung in Kauf nahmen). Hinzu kam, dass es an Nachwuchs fehlte, weil aufgrund der Corona-Einschränkungen 40 000 Lkw-Führerscheinprüfungen ausfielen.
Der Brexit hat die Lage weiter verschlimmert. Seit Anfang 2021 gelten Einwanderungsbestimmungen, nach denen Arbeitsvisa für EU-Bürgerinnen und Bürger auf hoch qualifizierte Berufe beschränkt sind. Lkw-Fahren zählt nicht dazu. Damit fallen Arbeitskräfte vom Kontinent als Ersatz für die ausgeschiedenen britischen Kollegen aus.
Der Fahrermangel machte sich erstmals im Frühsommer 2021 bemerkbar, als die Supermärkte plötzlich nicht mehr in der Lage waren, ihre Regale aufzufüllen. McDonald’s strich wegen „Problemen in unserer Lieferkette“ einige Gerichte von der Karte. Die Hähnchen-Kette Nando’s musste fünfzehn Restaurants vorübergehend schließen – weil auch die Geflügelzüchter nicht genug Arbeitskräfte fanden.
Lkw-Fahrer sind die neuen Helden
Auf den ersten Blick entwickelt sich jetzt die ökonomische Katastrophe, die das „Remain“-Lager für den Brexit-Fall vorausgesagt hatte. Tatsächlich lassen sich im Gefolge von Brexit und Pandemie die ersten Anzeichen einer Krise ausmachen. Doch die liegen in erster Linie an den schweren Versäumnissen der letzten 30 Jahre, die auf das Konto sowohl der britischen Regierungen als auch der Unternehmen gehen: Die Förderung und Ausbildung für viele einfache Berufe wurde praktisch aufgegeben, weil es als günstige Alternative fertig ausgebildete Arbeitskräfte vom Kontinent gab, die sehr viel billiger zu haben waren.1
Seit den britischen Firmen der Zugang zum EU-Arbeitsmarkt versperrt ist, werben finanzstarke Unternehmen wie die großen Einzelhandelsketten Arbeitskräfte von kleineren Firmen ab, indem sie höhere Löhne zahlen.
Neuerdings fordert der Verband der Transportunternehmen befristete Arbeitsvisa für ausgebildete ausländische Fahrer, um die Versorgungsengpässe zu beseitigen. Doch die Regierung Johnson stellt sich quer. Zwar räumte Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng Ende August gegenüber den Arbeitgebern ein, dass solche Visa „eine kurzfristige Lösung“ sein könnten. Zugleich argumentierte er, dass viele britische Arbeitnehmer wegen der Pandemie neue Beschäftigungsmöglichkeiten brauchten. Man solle „die Stärke unserer einheimischen Arbeitskräfte nutzen“ und die Migrationspolitik mit dem „strategischen Ziel“ ausrichten, „für britische Arbeitskräfte solide Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen“.2
Einen Monat später musste Kwarteng einlenken. Benzin wurde knapp, es kam zu einem Ansturm auf die Tankstellen, Lieferketten brachen zusammen, die Warteschlangen wurden länger, der Zorn wuchs. Premierminister Johnson genehmigte rasch 5000 befristete Visa für Lkw-Fahrer aus der Europäischen Union. Er hatte wohl das Beispiel vom Herbst 2000 vor Augen: Damals hatte Tony Blair massiv an Popularität eingebüßt, als Lkw-Fahrer und Landwirte aus Protest gegen steigenden Benzinpreise die Zufahrt zu Raffinerien und Tankstellen blockierten.
In seiner Abschlussrede auf dem Parteitag der Konservativen am 6. Oktober wiederholte Boris Johnson jedoch seine frühere Behauptung, die schwierige Lage sei vor allem eine Folge des wirtschaftlichen Wachstums nach dem Ende des Coronalockdowns. Deshalb bestehe gar keine Notwendigkeit, „wie früher auf unkontrollierte Einwanderung zu setzen, um die Löhne niedrig zu halten“. Man dürfe „Einwanderung nicht als Ausrede dafür benutzen, Investitionen in Menschen, in deren Ausbildung und in die maschinelle Ausrüstung zu unterlassen“.3
Auch Vizepremierminister Dominic Raab kritisierte die Unternehmen wegen ihrer „Gier nach billigen, ungelernten ausländischen Arbeitskräften“. Solche Töne hatte man bis dahin nur von Linken wie dem ehemaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn gehört.
Doch mit solchen Versuchen der Regierung, nachträglich eine Krise zu erklären, die sie nicht vorausgesehen hat, geht die Krise nicht vorbei. Im Gegenteil, sie hat inzwischen die gesamte Produktions- und Vertriebskette erfasst. Ende September suchten die britischen Unternehmen 1,1 Millionen Arbeitskräfte, (271 000 mehr als im September 2019), vor allem in den Niedriglohnbranchen, deren Geschäftsmodell auf billigen Arbeitskräften aus EU-Ländern basiert. Das Baugewerbe meldet 17 000 offene Stellen, das verarbeitende Gewerbe 29 000, der Gesundheitssektor 32 000, das Hotel- und Gaststättengewerbe 37 000.
„Die Jagd nach Kellnern ist eröffnet“, sagt Jordan Sclare, Chefkoch des Restaurants Chotto Matte im Londoner Szeneviertel Soho. Drei elegante Kellner bedienen die Gäste an den zehn Tischen auf der Außenterrasse. „Gute Kellner zu finden ist so schwierig geworden, dass immer wieder Konkurrenten zum Mittag- oder Abendessen hier auftauchen, um unser Personal zu beobachten. Wenn ihnen ein Kellner besonders gefällt, stecken sie ihm ihre Visitenkarte zu und flüstern: ‚Kommen Sie zu mir, ich biete Ihnen ein höheres Gehalt‘.“
Das Lachen des Zwei-Meter-Manns Sclare klingt etwas gezwungen. Der Chef muss nicht nur um Kellner kämpfen, er muss auch seine Köche und Patissiers bei der Stange halten und zusätzlich neue finden. „Früher bestimmten die Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen und vor allem die Löhne“, meint er seufzend. „Heute haben die Angestellten das Sagen und drohen mit Kündigung, wenn man ihnen keine deutlichen Verbesserungen bietet.“ Seit der Wiedereröffnung des Restaurants im April hat Sclare die Stundenlöhne schon zweimal erhöht, erst von 12 auf 14 Pfund, dann von 14 auf 20 Pfund (circa 17 bis 23 Euro).
Kellner:innen werden abgeworben
Solche Lohnerhöhungen werden von Boris Johnson begrüßt und als Brexit-Dividende bezeichnet. Not amused sind dagegen die Leute, die im Austritt aus der EU die Chance sahen, sozialstaatliche Regeln zu lockern und Großbritannien zu einem neoliberalen Versuchslabor zu machen. Leute wie Douglas McWilliams, Gründer des Wirtschaftsforschungsinstituts Centre for Economics and Business Research: „Der Zustrom von Osteuropäern nach der EU-Erweiterung von 2004 hat die britische Wirtschaft transformiert und die Arbeitskosten niedrig gehalten. So konnte die Wirtschaft fünf Jahre lang weiter wachsen, obwohl sie damals schon an Schwung verlor.“
Kein Wunder, dass McWilliams die „falsche und fehlgeleitete“ Strategie der Regierung kritisiert: „Lohnerhöhungen ohne Produktivitätssteigerung führen bestenfalls zu höherer Arbeitslosigkeit, schlimmstenfalls zur Beschleunigung der Lohn-Preis-Spirale. Nur eine Rezession würde dem ein Ende setzen.“
Ob das so kommt, sei dahingestellt. Dennoch fragt sich, ob die von der Regierung propagierte Lohnpolitik für die Unternehmen und „die Wirtschaft“ eine realistische Perspektive ist. Ein erstes Problem benennt Richard Nickless, Betriebsleiter der Castlemead-Geflügelfarm: „Wegen des Mangels an qualifizierten Arbeitskräften haben wir 100 000 Pfund in eine in Deutschland hergestellte Maschine für das Zerlegen und Verpacken des Geflügels investiert.“ Aber das hat die gesamte Branche gemacht, deshalb weiß Nickless nicht, wann die Maschine geliefert werden kann: „Es könnte noch eine Weile dauern.“
Zudem gibt es nicht für jede Branche sinnvolle Investitionsmöglichkeiten, erklärt der Ökonom Jonathan Portes vom Londoner King’s College. Unter dem Personalmangel hat am stärksten das Hotel- und Gaststättengewerbe zu leiden. Und genau hier sieht Portes wenig Spielraum für kurzfristige Produktivitätssteigerungen. Deshalb werde in diesen Branchen „eine Umverteilungspolitik zugunsten der Geringverdiener nicht ohne Preisanstieg vonstatten gehen“.
Dieser Vorbehalt wiegt schwer, da der stark von Importen abhängige Handel (Lebensmittel werden zu 45 Prozent importiert) den Anstieg der Transport- und der sonstigen Kosten mit voller Wucht abbekommt. Die unterbrochenen Handelsketten machen also nur die Kosten sichtbar, die dem Land durch die Deindustrialisierung der letzten Jahrzehnte entstanden sind. Portes befürchtet, dass die Geldentwertung zur weiteren Verarmung der Leute beiträgt, die von den Lohnerhöhungen nicht profitieren. Und auch dazu führt, dass Reallohnzuwächse der scheinbaren Gewinner bescheiden ausfallen.
Von August 2019 bis August 2021 sind die Löhne in Großbritannien um 7,5 Prozent gestiegen, am wenigsten im verarbeitenden Gewerbe (2,7 Prozent), in der Baubranche (4,4 Prozent), im Hotel- und Gaststättengewerbe und im Einzelhandel (4,9 Prozent); am meisten in der Dienstleistungsbranche (8,7 Prozent) und im Finanzsektor (12,5 Prozent).
Doch die Inflation von 5,2 Prozent hat diese Lohnerhöhungen weitgehend aufgezehrt. Das zeigt die Entwicklung der Reallöhne: Im August 2021 hat der reale durchschnittliche Wochenlohn von 521 Pfund (614 Euro) gerade wieder das Niveau vom Februar 2008 erreicht. Genau diese Absenkung des Lebensstandards, die ein Großteil der Bevölkerung in den letzten 13 Jahren erlebt hat, erklärt, warum die von Premier Johnson verkündete Strategie so populär ist. Und warum er mit seinem durch keine Realität erschütterten Optimismus Wählerstimmen aus allen Schichten der britischen Gesellschaft anziehen konnte – während die Labour Party unter ihrem Vorsitzenden Keir Starmer immer weiter nach rechts rückt.
3 Komplette Rede in: The Spectator, London, 6. Oktober 2021.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Tristan de Bourbon-Parme ist Autor von „Boris Johnson. Un Européen contrarié“, Paris (éditions François Bourin) 2021.