11.11.2021

China öffnet sich – ein bisschen

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China öffnet sich – ein bisschen

Freihandel unter staatlicher Kontrolle

von Philip S. Golub

Roboterhund Go1, Hangzhou International Future Life Expo, Oktober 2021 LONG WEI/picture alliance/dpa/maxppp
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Auf der Jahreskonferenz des Boao-Forums, einer Institution nach dem Vorbild des Weltwirtschaftsforums in Davos, forderte der chinesische Präsident Xi Jinping im April dieses Jahres nicht weniger als eine neue interna­tio­nale Ordnung.1 Die Regeln für eine erfolgreiche Globalisierung dürften nicht mehr von „einem oder ein paar Ländern“ allen anderen „aufgezwungen“ werden.

Um eine offene Weltwirtschaft zu erreichen, erklärte Xi Jinping, „müssen wir die Liberalisierung von Handel und Investitionen fördern, die regionale Wirtschaftsintegration vertiefen und die Liefer-, Industrie-, Daten- und Personalketten verbessern“. Mehr Offenheit und Integration seien ein unaufhaltsamer historischer Trend: „Versuche, Mauern zu errichten oder sich abzukoppeln, laufen den Gesetzen der Wirtschaft und den Prinzipien des Markts zuwider.“

Diese Ode an die globalen freien Märkte ist heute das Fundament der chinesischen Politik. Gegenüber den protektionistischen Bemühungen der USA, transnationale Lieferketten umzubauen und Chinas Zugang zu sensiblen Technologien und zu den US-Märkten zu behindern, profiliert sich der Ein-Parteien-Staat neuerdings als Verfechter des Freihandels und einer globalisierten Finanzwirtschaft. Peking hofft wohl zu Recht, dass der Patriotismus ausländischer Multis eher begrenzt, ihr Appetit auf den chinesischen Markt dafür umso grenzenloser ist.

China hat daher einige der Hindernisse beseitigt, die den ausländischen Zugang zu inländischen Kapitalmärkten blockieren. Konzerne wie Goldman Sachs, Blackrock, JPMorgan Chase, Citibank, Morgan Stanley, American Express, PayPal, Mastercard, S&P Global und Fitch Ratings erhielten Lizenzen für die Gründung von Tochtergesellschaften in den Bereichen Vermögensverwaltung, Zahlungsverkehr, Anleiheemissionen, Versicherungen oder Rating.2

„Wall Street wird geneigt sein, das zu tun, was sie am besten kann, nämlich Gewinne zu erzielen“, lautet die Einschätzung der Website China Daily, die man auch im Economist und in der Financial Times finden kann.3 Offiziellen Schätzungen zufolge belief sich der Kapitalzufluss nach China in der Ära Trump auf 620 Milliarden Dollar, nicht gerechnet zig Börsengänge chinesischer Unternehmen in den USA, die allein 2019 rund 19 Milliarden Dollar einbrachten.

Ende 2019 hielten US-Investoren chinesische Aktien und Anleihen im Wert von mindestens 813 Milliarden Dollar, 2016 waren es noch 368 Mil­liar­den (nach China Daily). 2020 stiegen die ausländischen Bestände an Aktien um 50 und an Anleihen um 28 Prozent – auf eine Gesamtsumme von 1,1 Bil­lio­nen Dollar, die wohl noch höher liegt, da viele chinesische Anteilsgesellschaften in Steueroasen ansässig sind. Allein auf den Kaimaninseln unterhalten chinesische Unternehmen 73 Tochtergesellschaften (stärker vertreten sind nur die USA, Großbritannien und Taiwan). Investoren aus den USA, Großbritannien und der Eurozone parkten bereits 2017 Aktien chinesischer Unternehmen im Wert von 830 Milliarden Dollar in Steueroasen (davon 705 Milliarden auf den Kaimaninseln.)4

Die „beschleunigte Integration Chinas in die globalen Finanzmärkte“ (so ein Bericht des Peterson Institute) geht einher mit einer Diplomatie der kompromisslosen Durchsetzung nationaler Interessen, etwa territorialer Ansprüche, und wirtschaftlichen Sanktionen gegen Kritiker der chinesischen Menschenrechtspolitik.

Diese janusköpfige Politik der Globalisierung bei gleichzeitigem Beharren auf absoluter Souveränität ist weniger paradox, als es den Anschein. Der nationale Aufstieg Chinas nach Mao wurde durch eine staatlich kontrollierte Weltmarktintegration ermöglicht, die nicht zwangsläufig zu strukturellen Abhängigkeiten führt. Die Internationalisierung des Kapitals hat im Fall China – anders als bei Staaten des Globalen Südens, die in den Käfig der Abhängigkeit eingesperrt sind – zur Machterweiterung beigetragen.

Dies ist kein neues Phänomen, sondern war schon im 19. Jahrhundert zu beobachten. Zwar lief die Eingliederung nichtwestlicher Gesellschaften in die eurozentrische Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert meist auf Unterordnung hinaus, aber schon damals entstanden im Zuge der kapitalistischen Globalisierung auch neue wirtschaftliche und politische Machtzentren.

Japan verdankt seinen ­Aufstieg britischem Kapital

Internationale Kapitalströme spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der britischen Siedlerkolonien wie etwa der späteren Vereinigten Staaten, wo sie wesentlich zur ökonomischen Integration und Industrialisierung der Ostküstenstaaten beitrugen.

London und andere europäische Finanzzentren investierten in die Landwirtschaft, in Geschäftsbanken und Infrastrukturen wie Straßen und Eisenbahnen, finanzierten aber auch den Außenhandel der USA. Zwischen 1865 und 1900 machten die Investitionen in die USA 22 Prozent der weltweiten britischen Investitionen aus. 1913 betrug dieser Anteil – trotz häufiger Börsenturbulenzen in den USA – sogar mehr als ein Drittel aller britischen Auslandsinvestitionen.

Auch im Fall Japan wurde die intensive, staatlich gesteuerte industrielle und militärische Modernisierung während der Meiji-Ära (1868–1912) durch britische und US-amerikanische Investoren entscheidend gefördert. Sie ermöglichten es Japan, wie der Wirtschaftshistoriker Herbert Feis schon 1930 beschrieb, „seine Aufrüstung zu finanzieren und Krieg zu führen, sein Eisenbahnnetz auf nationaler Ebene zu vereinheitlichen, die Großindustrie zu fördern, Korea und die Mandschurei zu erwerben und zu entwickeln, seine Städte mit öffentlichen Dienstleistungen auszustatten“.

In den Jahren vor dem Krieg war die Hälfte der japanischen Staatsverschuldung vom Ausland finanziert. Japan importierte technische Kenntnisse und Ausrüstung aus der ganzen Welt, aber das Kapital kam hauptsächlich aus London. Laut Feis hat Großbritannien durch dieses Kapital wie durch seine politische Unterstützung Japan geholfen, zu einer Großmacht zu werden.5

In China hat, ähnlich wie im Japan der Meiji-Ära, vor allem der Staat dafür gesorgt, dass ausländisches Kapital für die innere Entwicklung angezogen wurde. Und zwar durch eine schrittweise Öffnung nach außen, die Regulierung der ausländischen Kapitalzuflüsse und einen gezielten Technologietransfers über Joint Ventures, an denen Ausländer meist nur Minderheitsbeteiligungen halten können.

In den Schlüsselindustrien diktierte der Staat den internationalen Investoren die Bedingungen, nicht umgekehrt, während er zugleich den Aufstieg „na­tio­naler Champions“ wie Huawei vorantrieb, die auf den Weltmärkten konkurrenzfähig sind. Als in den 2000er Jahren die Investitionsregeln liberalisiert und mehrere Staatsunternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden, bedeutete das keineswegs weniger Kontrolle durch den Staat. Denn der Staat blieb Eigentümer der Schlüsselindustrien, entschied nach wie vor über die Vergabe der Posten und nahm mittels des Parteiapparats weiterhin die zentralen Aufsichts- und Planungsfunktionen wahr.6

Dies ist auch heute noch der Fall. Das beweist das spektakuläre Vorgehen der Regierung gegen die chinesischen Onlineriesen Alibaba und Tencent, deren rasantes Wachstum die staatliche Kontrolle über Verbraucherkredite und andere Formen der Finanzierung des privaten Konsums untergraben hatte. Dutzende weitere Unternehmen stehen auf der ständig anwachsenden Liste.

Der chinesische Finanzsektor wird von riesigen Geschäftsbanken in staatlichem Besitz dominiert. Der jüngst beschlossene – begrenzte – Marktzugang für ausländische Finanzunternehmen, die ebenfalls staatlicher Regulierung unterliegen, ist für die Regierung mit überschaubaren Risiken verbunden, während er erhebliche Vorteile bietet: Damit werden Akteure ins Land geholt, deren Know-how zur Entwicklung chinesischer Finanzzentren beitragen kann, was für die angestrebte Internationalisierung der Landeswährung Renminbi hilfreich ist.

Die USA fürchten chinesische KI

Zudem wird der Kreis einflussreicher privater Akteure erweitert, die ein ureigenes Interesse am wirtschaftlichen Erfolg Chinas haben.

Um den sicherheitspolitisch motivierten Protektionismus der US-Regierung zu unterlaufen, mobilisiert der chinesische Staat also transnationales Kapital, was zentralen strategischen Interessen der USA zuwiderläuft. Damit rekrutiert Peking – nach den multi­na­tio­nalen Industriekonzernen – jetzt auch wichtige Akteure des Weltfinanzwesens für sein Projekt, einen modernen Staat aufzubauen. Einige von ihnen spielen das Spiel gern mit: „Weltreiche werden groß, wenn ihre Produktivität und Finanzen solide sind, wenn sie mehr einnehmen, als sie ausgeben, und wenn ihre Wirtschaft schneller wächst als ihre Verbindlichkeiten“, meint der Chef des Hedgefonds Bridgewater Associates, ein China-Enthusiast.“7

Die Instanzen, die innerhalb der US-Machtelite für die nationale Sicherheit zuständig sind, sehen das in einem ganz anderen Licht. Trotz der starken gegenseitigen Abhängigkeit bei Handel, Finanzen und Technologie befinden sich der chinesische und der US-amerikanische Pol des globalen Kapitalismus in einer ständigen und unerbittlichen Konkurrenz. Und da in Washington die machtpolitische Logik die Oberhand behält, wird der Widerspruch zwischen den strategischen Interessen der USA und denen des internationalisierten Finanzkapitals die Bemühungen um eine weitere Liberalisierung des Welthandels beenden. Das bedeutet die Aufgabe des Kernziels, das die USA in ihrer Handelspolitik seit den 1980er Jahren verfolgt haben – und die Rückkehr zum protektionistischen und interventionistischen Staat.

Am 3. Juni gab Präsident Biden bekannt, er werde die gegen „die Bedrohung durch den militärisch-industriellen Komplex der Volksrepublik China“ gerichtete Verordnung seines Vorgängers Trump noch erweitern.8 Erst im April hatte das US-Handelsministerium chinesische Hersteller von Hochleistungsrechnern auf die Liste der Firmen gesetzt, die Handelsbeschränkungen unterliegen, weil sie Aktivitäten betreiben, die den „sicherheits- oder außenpolitischen Interessen der Vereinigten Staaten zuwiderlaufen“.

Ein vom Weißen Haus bestellter vorläufiger Bericht über die Lieferketten hat in vielen Bereichen neuralgische Punkte ermittelt: „bei der Herstellung von Halbleitern und fortschrittlichen Chipgehäusen, bei hochkapazitiven Batterien etwa für Elektrofahrzeuge, bei kritischen Mineralien und Materialien sowie Arzneimitteln und neuen pharmazeutischen Wirkstoffen“. Der Bericht empfiehlt „die Stärkung der US-Produktionskapazitäten für kritische Güter, die Anwerbung und Ausbildung von Arbeitskräften für die inländische Herstellung wichtiger Produkte sowie Investitionen in Forschung und Entwicklung“. Wichtig sei dabei die Kooperation mit „Verbündeten und Partnern, um die gemeinsamen Lieferketten robuster zu machen“.9

In einer nächsten Phase sollen sechs sicherheitsrelevante Bereiche überprüft werden: Rüstungsindustrie, öffentliche Gesundheit und biologische Gefahrenabwehr, Informations- und Kommunikationstechnologie, Energie, Transportwesen sowie die Lieferketten für die Produktion landwirtschaftlicher Rohstoffe und Lebensmittel. Am 8. Juni verabschiedete der US-Senat den „US Innovation and Competition Act“ zur Sicherung der US-Lieferketten, der auch 250 Milliarden Dollar über fünf Jahre für öffentliche und private Forschung und Entwicklung im Hightech-Bereich vorsieht. Die Reaktionen der US-Unternehmen fielen, wie zu erwarten war, je nach Interessenlage und Grad ihrer Internationalisierung unterschiedlich aus.

¹ „Pulling Together Through Adversity and Toward a Shared Future for All“, 20. April 2021.

² Wang Cong und Xie Jun, „China opens $45 trillion financial market as US closes“, Global Times, 14. Juni 2020.

³ Heng Weili, „Wall Street, investors reject decoupling from China“, China Daily Global, 18. März 2021. „Present tense, future market; Financial coupling in China“, The Economist, 5. September 2020. „US-China investment flows belie geopolitical tensions“, Financial Times, 4. Februar 2021.

4 Ben van der Merwe, „How low-tax jurisdictions hide the vulnerability of Emerging Economies“, Investment Monitor, 13. Juli 2021.

5 Herbert Feis, „Europe: The World’s Banker, 1870–1914“, Clifton, N. J. (Augustus M. Kelley Publishers) 1930.

6 Margaret Pearson, „Governing the Chinese Ecconomy: Regulatory Reform in the Service of the State“, Public Administration Review, Nr. 67 (4), 2007.

7 Zitiert in Heng Weili, siehe Anmerkung 3.

8 Communiqué vom 3. Juni, whitehouse.gov.

9 „Building Resilient Supply Chains Revitalizing American Manufacturing, and Fostering Broad-Based Growth“, The White House, Washington, D. C., Juni 2021.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Philip S. Golub ist Professor für Internationale Beziehungen an der Amerikanischen Universität Paris, Autor unter anderem von „East Asia’s Reemergence“, Cambridge (Polity Press) 2016.

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von Philip S. Golub