13.01.2022

Open Source!

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Open Source!

Der Kampf um freie Software

von Mathieu O'Neil, Laure Muselli, Fred Pailler und Stefano Zacchiroli

Fred Hüning, ohne Titel, aus der Serie „Hoffnung“, analoge Fotografie, 2014, 27 × 18 cm
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In den 1990er Jahren entstand im Schatten der neuen Hightech-Industrie eine alternative digitale Welt. Idealistische Ent­wick­le­r:in­nen überall auf der Erde taten sich zusammen, um gemeinsam Software zu schreiben, die mit den sogenannten proprietären Angeboten konkurriert. Das Betriebssystem Linux, der Webserver Apache oder der Multimedia-Player VLC sind bekannte Beispiele dafür.

Sie erheben keinen Urheberanspruch auf ihre Produkte, zum einen weil sie auch nichtfinanziell ordentlich entlohnt werden – mit Spaß, Wissenszuwachs, Ansehen und Jobangeboten –, zum anderen aus moralischen Gründen. Denn eine sogenannte Copyleft-Lizenz, wie die General Public License (GPL), räumt allen Nutzern das Recht ein, den Quellcode auszuführen, zu kopieren und zu verändern. Sie schreibt außerdem vor, dass diese Rechte in jeder weiterentwickelten Version der Software beibehalten werden müssen.1

Und wie steht es heute um diese Bewegung? Nicht gut: Sie wurde von den „Big Five“ – Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft (Gafam) – aus dem Silicon Valley vereinnahmt. Das geht so weit, dass Open-Source-Software – ein Begriff, den die Industrie für offene Quellcodes verwendet, um über freie Software zu sprechen, ohne „Freiheit“ zu sagen2 – mittlerweile das Herz der digitalen Wirtschaft ausmacht.

Laut einer Umfrage unter 1200 IT-Fachleuten aus dem Jahr 2018 stecken in mehr als 90 Prozent aller Anwendungen Open-Source-Elemente.3 IBM integrierte sie bereits Anfang der 2000er Jahre, ihren Höhepunkt erreichte diese Entwicklung 2018, als Microsoft für 7,5 Milliarden US-Dollar die kollaborative Entwicklungsplattform GitHub übernahm. Unternehmen bezahlen ein paar eigene Entwickler, aber profitieren ansonsten von der kostenlosen Arbeit von Freiwilligen. Und die kritischen Köpfe, die in der freien Software ein Werkzeug zur Emanzipation sahen, schauen in die Röhre.4

In diesem Prozess der Aneignung haben zwei Akteure eine wesentliche Rolle als Mittler zwischen der Welt der Unternehmen und der Welt der Open-Source-Projekte gespielt.5

Erstens GitHub, die 2005 gegründete Plattform zur Verwaltung quell­of­fener Software, die sich zu einem zentralen Knotenpunkt mit mehr als 70 Mil­lio­nen Nutzer:in­nen und über 200 Mil­lio­nen Quelltext-Datenbanken (Repositories) entwickelt hat. Diese dominante Position hat die Open-­Source-­Ak­ti­vis­t:innen davon abgehalten, GitHub nach der Übernahme durch Microsoft zu verlassen. Der Erfolg der Plattform basiert auf ihrem kollaborativen Modell und der Tatsache, dass die ehrenamtlich geleisteten Beiträge, die in den individuellen Profilen der Ent­wick­le­r:in­nen aufgeführt sind, praktisch als deren Lebensläufe fungieren.

Der andere Schlüsselakteur ist die Linux Foundation. Sie wurde 2000 gegründet, um dem finnisch-US-amerikanischen Initiator des freien Betriebssystems Linux, Linus Torvalds, ein unabhängiges Arbeitsumfeld zu sichern und

das Projekt vor der Einflussnahme eines Konzerns zu schützen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Nutzung von Linux durch Standardisierung und Zertifizierung zu erleichtern.

Rechtlich gesehen handelt es sich um ein gemeinnütziges Konsortium, das sich durch die Beiträge seiner Mitglieder finanziert – zu denen auch Google, Facebook und Microsoft gehören. Die Aktivitäten der Stiftung nehmen in schwindelerregender Weise zu: Während sie 2013 gerade einmal zehn Projekte durchführte, 23 Millionen US-Dollar Einnahmen erzielte und 39 Mit­ar­bei­te­r:in­nen beschäftigte, stieg die Zahl der Projekte bis 2019 auf 156, die Einnahmen auf 81 Millionen US-Dollar und die Zahl der Mitarbeitenden auf 178.6

In der umfangreichen Kommunikation nach außen betont die Stiftung stets die Bedeutung von Dokumenta­tion und Sicherheit, um die Entwicklung von Software zu „professionalisieren“ und Unternehmen außerhalb des IT-Sektors, die freie Software verwenden, zu beruhigen. Die Stiftung bemüht sich außerdem um ein communitygerechtes Image: Auf ihren Konferenzen setzen sich hochdotierte Redner, etwa von Intel oder GitHub, für die armen chinesischen „Devs“ (für developer, Entwickler) ein, die staatlicherseits daran gehindert würden, zu den Gemeingütern beizutragen.

Wie ein Mantra verbreitet die Linux Foundation die Vorstellung, Unternehmen und nichtfinanzielle Projekte bildeten eine Gemeinschaft, eine „Community“. Auch in der Präsenta­tio­nen der IT-Konzerne taucht der Begriff Community ständig auf, um die gemeinsamen Interessen von Freiwilligen und Konzernangestellten zu betonen, die zum selben Projekt beitragen.7

Unternehmen, die Programmcode auf GitHub veröffentlichen, betonen ebenfalls den gemeinschaftlichen Charakter ihrer Projekte, da jeder Veränderungen einreichen kann, die allerdings durch den Urheber genehmigt werden müssen. So behalten die Konzerne das letzte Wort und können gleichzeitig den Eindruck horizontaler Strukturen erwecken. Die Vorstellung einer „eingeschworenen Community“ findet sich auch in vielen Artikeln von Fach­me­dien, die über die Kooperation zwischen Unternehmen und nichtkommerziellen Projekten berichten.

Diese geradezu orwellsche Umkehrung der Bedeutung von positiv besetzten Begriffen wie „Gemeinschaft“, „Zusammenarbeit“ und „Offenheit“ ist ein typisches Merkmal des Überwachungskapitalismus, in dem die Geschäftsmodelle auf dem Abschöpfen persönlicher Daten basieren.8 Tatsächlich haben wir es mit einer Art digitalem Ausbeutungsprozess zu tun. Die IT-Konzerne kapern beispielsweise gern die Hochschulforschung. So wurden 78,3 Prozent der 17 405 Veröffentlichungen von Mi­cro­soft-­Mit­ar­bei­te­r:in­nen zwischen 2014 und 2019 gemeinsam mit Wis­sen­schaft­le­r:in­nen verfasst. Im selben Zeitraum erhielt das Unternehmen 76 109 Patente, von denen jedoch nur 0,2 Prozent mit Externen geteilt wurden.9

Eine anderer Trick besteht darin, dass Unternehmen jungen Ent­wick­le­r:in­nen attraktive Angebote für Forschung und Entwicklung (F&E) unterbreiten. Sobald daraus entsprechende Innovationen resultieren, bricht das Unternehmen alle Brücken ab und erstellt kurzerhand seine eigene Version. Google ATAP und Google X, die F&E-Abteilungen des Google-Mutterkonzerns Alphabet, haben sich darauf spezialisiert. Meta, wie der Facebook-Konzern neuerdings heißt, steht ihnen in nichts nach.

Warum waren die Copyleft-Lizenzen wie GPL nicht in der Lage, die „freie“ Software-Welt vor den Angriffen der IT-Giganten zu schützen? Zunächst einmal, weil Google es geschafft hat, die freie Technologie zu übernehmen, um sie danach zu torpedieren. Das von Larry Page und Sergey Brin gegründete Unternehmen hat seine dominante Stellung auch dadurch erreicht, dass es Linux zur Grundlage seiner Android-Telefone gemacht hat. Die öffentliche Lizenz verpflichtete Google zwar dazu, den Quellcode aller Änderungen, die es an dieser freien Software vornimmt, zu teilen. Im vergangenen Mai hat Google nun allerdings sein eigenes Betriebssystem, Fuchsia, vorgestellt, das mit einer Non-Copyleft-Lizenz versehen ist.

Die GPL hat auch unter der Entwicklung des Cloud-Computings gelitten, bei dem Daten nicht mehr auf den Computern der Nutzer:innen, sondern auf zentralen Servern gespeichert und verarbeitet werden. Die meisten Copyleft-Lizenzen, einschließlich der GPL, garantieren den Zugang, die Änderung und die Weiterverbreitung des Quellcodes von Software nur, wenn sie an die Nut­ze­r:in­nen geliefert, also auf deren Computer übertragen und installiert wird. Sie greifen nicht, wenn die Software auf den Servern der IT-Konzerne läuft. Das Copyleft wird in diesem Fall nicht aktiviert, da die Software nicht ausgeliefert, sondern bloß aus der Ferne genutzt wird.

Die Adepten der freien Software haben zwar versucht, wirksame Copyleft-Lizenzen gegen die „Cloudifizierung“ zu schaffen, etwa die Affero General Public License (AGPL). Doch die hat Goo­gle mit allen Mitteln bekämpft. Wäre sie von vielen Akteuren übernommen worden, wären Google und Konsorten womöglich gezwungen gewesen, den Quellcode der auf ihren Servern laufenden Software freizugeben, auch für Nut­ze­r:in­nen, die über die Cloud mit dieser Software arbeiten. Seinen eigenen Ent­wick­le­r:in­nen hat der Gigant aus dem Silicon Valley daher die Verwendung von AGPL-basiertem Code schlichtweg verboten.10

Linux, NextCloud und das Protokoll Matrix

Die Technologieunternehmen bilden jedoch keinen monolithischen Block. Betrachtet man die Aussagen ihrer Vertreter auf drei großen Open-Source-Konferenzen, wird klar, dass sich die großen Konzerne wie Google oder Microsoft und kleinere IT-Unternehmen in ihrer Haltung zu Open-Source-Software deutlich unterscheiden.

Die Kleinen stehen dem Geschäftsmodell der Gafam und ihren Reden von einer angeblichen „Community“ eher kritisch gegenüber und konzentrieren sich stärker auf die Nachhaltigkeit von Projekten. Sie betonen die Bedeutung der Lizenzen und der Einhaltung der „freien“ Prinzipien, während die Vertreter der großen Konzerne oft behaupten, das Thema sei heute für die Mehrheit der Mit­ar­bei­te­r:in­nen gar nicht mehr von Interesse.

Teilen und Transparenz sind Grundpfeiler der freien Software. Wenn die Gafam-Konzerne so viel Zeit und Ressourcen darauf verwenden, die Illusion zu nähren, sie seien Teil des nichtkommerziellen, kollaborativen Universums, dann deshalb, weil sie wissen, dass ihre Position moralisch im Grunde nicht haltbar ist. Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, dass die Grundprinzipien der freien Software von diesen Unternehmen systematisch mit Füßen getreten werden. Aber an wen sollte man diese Kritik richten? An die breite Öffentlichkeit? An die Entwickler:innen?

Die Öffentlichkeit interessiert sich zwar kaum für die Prinzipien der freien Software, aber sie ist sehr wohl empfänglich für Fragen der Privatsphäre und der Überwachung, bei denen die großen Tech-Konzerne immer stärker in die Kritik geraten. Infolgedessen könnten sich viele Nut­ze­r:in­nen schrittweise in Richtung dezentralisierter Plattformen und Dienste aus der „freien“ Welt orientieren, wie etwa das quelloffene Protokoll Matrix für sichere und dezentralisierte Echtzeitkommunikation oder NextCloud, eine Cloud-Software mit offener Architektur. Realistisch gesehen können diese Angebote allerdings trotz ihres punktuellen Erfolgs nicht mit der nahezu unbegrenzten Dienstleistungsvielfalt der Big Five konkurrieren, insbesondere wenn es um kulturelle Inhalte geht.

Zusätzlich erschwert wird der Kampf dadurch, dass zahlreiche Open-Source-Entwickler:innen bei den großen Tech-Unternehmen angestellt sind und dass im vorherrschenden Diskurs Innovation praktisch ausschließlich über private Investitionen und Start-ups definiert wird. Die aktuelle Si­tua­tion macht eine breite Diskussion innerhalb der Community der „Freien“ nötig, die sich historisch als Reaktion auf die zahlreichen Aneignungsversuche aus der Privatwirtschaft gebildet hat.

Die Übernahme von Sun Microsystems durch den US-Konzern Oracle im Jahr 2010 etwa bedrohte einige der von Sun unterstützten Open-Source-Projekte. Mitglieder der Community beschlossen daraufhin, eine alternative freie Version des Datenbankverwaltungssystems MySQL zu entwickeln, die sie in MariaDB umbenannten.

Ein beträchtlicher Teil der digitalen Infrastruktur des Internets basiert auf Open-Source-Software wie Linux und Kubernetes. Um diese Infrastruktur – und damit auch Suchmaschinen, soziale Netzwerke und andere Serviceplattformen für Unternehmen und private Nut­ze­r:in­nen – vor der Aneignung durch große Konzerne zu schützen, braucht es die Unterstützung der breiten Öffentlichkeit.

Obwohl auf beiden Seiten unterschiedliche Kulturen vorherrschen, geht es heute darum, die Open-­Source-­Be­wegung und den Staat zusammenzubringen. Vor dem Hintergrund zunehmender Automatisierung und steigender Arbeitslosigkeit stellt sich auch die Frage, wie in Zukunft freiwillige Aktivitäten honoriert werden und in welchem Verhältnis der gemeinnützige, der staatliche und der private Sektor stehen sollen. Die Économistes At­terrés, eine Gruppe progressiver Ökonomen in Frankreich, und der Philosoph Bernard Stiegler haben etwa verschiedene Formen von „Arbeitsgemeinrechten“ (droits communs du travail) vorgeschlagen, die all denjenigen, die zum Gemeinwohl beitragen, Zugang zu so­zia­len Dienstleistungen gewähren.11

Aber kann sich die Open-Source-Community tatsächlich als politische Größe konstituieren, die über ihr eigentliches Arbeitsfeld hinaus über die Gesellschaft als Ganzes reflektiert? Kann sie der ökonomischen Orthodoxie und dem schier unendlichen Wachstumspotenzial der Rechenleistung etwas entgegensetzen? Obwohl ihr eigener Erfolg davon abhängt, deutet die Entwicklung der vergangenen Jahre leider auf das Gegenteil hin.

1 Siehe Philippe Rivière, „Logiciels libres: et pourtant, ils tournent“, in: „Pour changer le monde“, Manière de Voir, Nr. 83, Oktober/November 2005.

2 Evgeny Morozov, „The Meme Hustler“, The Baffler, April 2013.

3 Keenan Szulik, „Open source is everywhere“, blog.tidelift.com, 12. April 2018.

4 Siehe Sébastien Broca, „Wie frei ist die freie Software?“, LMd, September 2014.

5 Siehe Benjamin Birkinbine, „Incorporating the Digital Commons: Corporate Involvement in Free and Open Source Software“, London (University of Westminster Press) 2020; sowie Arwid Lund und Mariano Zukerfeld, „Corporate Capitalism’s Use of Openness: Profit for Free?“, New York (Palgrave Macmillan) 2020.

6 Bradford Biddle, „Linux Foundation is eating the world“, in: Journal of Open Law, Technology & Society, Bd. 11, Nr. 1, 2019.

7 Mathieu O’Neil, Xiaolan Cai, Laure Muselli, Fred Pailler und Stefano Zacchiroli, „The Coproduction of Open Source Software by Volunteers and Big Tech Firms“, News and Media Research Centre – Digital Commons Policy Council, Canberra 2021.

8 Siehe Shoshana Zuboff, „Google sucht dich“, LMd, Januar 2019.

9 Siehe Cecilia Rikap und Bengt-Ake Lundvall, „Big Tech, Knowledge Predation and the Implications for Development“, Innovation and Development, London 2020.

10 „AGPL policy“, Google Open Source.

11 Siehe Calimaq (Lionel Maurel), „Droits communs du travail et droit au travail dans les Communs“, S.I.Lex, 18. November 2017.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Mathieu O’Neil ist außerordentlicher Professor für Kommunikation an der Universität von Canberra; Laure Muselli ist Dozentin an der Télécom ParisTech; Fred Pailler ist Soziologe am Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History; Stefano Zacchiroli ist Professor an der Télécom ParisTech.

Le Monde diplomatique vom 13.01.2022, von Mathieu O'Neil, Laure Muselli, Fred Pailler und Stefano Zacchiroli