Nur für Franzosen
Die nationale Präferenz, Allheilmittel der französischen Rechten, löst kein einziges Problem
von Benoît Breville
Sobald eine Wahl näher rückt, ist sie sofort wieder da. Sie ist Grundpfeiler jedes rechtsextremen Wahlprogramms, sie ist der Stein der Weisen, der Frankreich wieder den Glanz von Einst zurückbringen soll; sie ist das Allheilmittel für sämtliche Probleme – von der Arbeitslosigkeit bis zur Staatsverschuldung, von der Wohnungsnot bis zur Krise der Asylpolitik, von der Kriminalität bis zur Rentenproblematik. Die Rede ist von der préférence nationale, der „nationalen Präferenz“.
Neben seiner Prägnanz hat der Begriff einen weiteren Vorteil: Er passt einfach immer und spart die Mühe, sich immer wieder neue Argumente ausdenken zu müssen. Ihm nützt der chauvinistische Reflex, der in Zeiten der Krise und Ressourcenverknappung besonders gut gedeiht.
Sozialwohnungen? „Die werden von den Franzosen finanziert und müssen logischerweise bevorzugt an Franzosen vergeben werden“, erklärt Marine Le Pen, Kandidatin des Rassemblement National (RN) für die Präsidentschaftswahl 2022. Staatliche Leistungen für Familien? „43 Prozent der Empfänger von Familienzulagen und Wohngeld sind im Ausland geboren“, ereifert sich der Journalist Éric Zemmour, der seine Kandidatur bisher zwar noch nicht erklärt hat, dem aber entsprechende Ambitionen nachgesagt werden. Arbeitsplätze? Man müsse „dafür sorgen, dass in Frankreich Franzosen französische Produkte herstellen“, predigt Florian Philippot, Chef der Partei Les Patriotes (LP).
Die „nationale Präferenz“ ist so grobschlächtig, wachsweich und beliebig, dass sie sich mühelos in Wahlkampfslogans ummünzen lässt. Beim Rassemblement National (bis 2018 Front National, FN) hörte sich das je nach Anlass so an: „Die Franzosen verteidigen“ (Präsidentschaftswahl 1974); „Franzosen zuerst. Eine Million Arbeitslose heißt: eine Million Einwanderer zu viel“ (Wahlen zur Nationalversammlung 1978); „Bildung, Arbeit, Wohnung: Vorfahrt für dich im eigenen Land“ (Europawahl 2009), „Franzosen zuerst“ (Kommunalwahlen 2010).
Von der extremen Rechte als Lösung aller Probleme gepriesen, stößt die „nationale Präferenz“ beim übrigen politischen Spektrum auf heftige Ablehnung. Für viele ist sie ein absolutes Schreckgespenst und markiert die Trennlinie zwischen dem „republikanischen Lager“ und den Feinden der Demokratie, zwischen den Verteidigern der Menschenrechte und den Ewiggestrigen.
Steht nicht in der Verfassung, dass ohne Ansehen der Herkunft alle die gleichen Rechte und den gleichen Zugang zu Beschäftigung haben? Ist in Frankreich nicht jede Form von Diskriminierung untersagt und stehen die öffentlichen Leistungen nicht jedem zu?
Diese Trennlinie schafft jedoch die Möglichkeit, all jenen die Absolution zu erteilen, die auf der richtigen Seite stehen: Sie dürfen sich einwanderungspolitisch austoben und können sich trotzdem zum Lager der netten Menschenfreunde zählen – sofern sie sich gegen die nationale Präferenz aussprechen. So verspricht zum Beispiel Valérie Pécresse (Les Républicains), Quoten für Migrant:innen einzuführen, die sogenannten Charter-Abschiebungen zu beschleunigen, Asylbewerber:innen in „speziellen Zentren“ unterzubringen und medizinische Hilfeleistungen des Staats auf dringende Fälle und ansteckende Krankheiten zu beschränken. Wenn sie allerdings gefragt wird, worin sie sich vom Programm Marine Le Pens unterscheidet, echauffiert sie sich: „Le Pen spricht von nationaler Präferenz. Dieses Wort würde ich nie in den Mund nehmen!“1
Nach dem Vorbild der savonnette à vilain („Bauern-Seife“) – so nannte man zu Zeiten des Ancien régime scherzhaft die Geldsummen, mit denen Nichtadlige sich in die dem Adel vorbehaltenen Ämter einkaufen konnten – kann man sich mit „Demokraten-Seife“ von dem Verdacht reinwaschen, man wäre xenophob.
Geprägt wurde der Begriff den nationalen Präferenz Mitte der 1980er Jahre von Jean-Yves Le Gallou, einst hoher Verwaltungsbeamter, Dozent an der Eliteuni Sciences Po und Mitbegründer des nationalliberalen Gesprächskreises „Club de l’Horloge“. Der Club wurde1974 von Absolventen der Elite-Verwaltungsuni ENA gegründet, von denen später einige zum FN überliefen. Als Le Gallou 1985 sein Buch „La Préférence nationale: réponse à l’immigration“ (Nationale Präferenz: Antwort auf die Immigration) veröffentlichte, war er noch Parteimitglied der UDF (Union pour la démocratie française). Weniger Monate später trat auch er dem FN bei.
Hohe Hürden für Sozialleistungen
Sein Buch war eine Reaktion auf den Bericht des UDF-Politikers Bernard Stasi „L’immigration, une chance pour la France“ (Immigration, ein Chance für Frankreich) und liest sich wie das Werk eines Verwaltungsfachmanns. Es macht den Leser mit Statistiken und Rechtsvorschriften ganz schwindelig und zeichnet das apokalyptische Bild eines von Islam und Invasoren-Migranten, von Unsicherheit und Bankrott bedrohten Frankreichs. Das Einzige, was das Land vor dem Verderben retten könne, sei die nationale Präferenz.
Wenn der Staat Menschen ohne französischen Pass von Sozialleistungen und öffentlich gefördertem Wohnraum ausschließe, so Le Gallou, spare er erhebliche Mittel ein und könne sein Defizit abbauen. Gleichzeitig werde Frankreich für Zuwanderer unattraktiv, sodass diese zu Hause blieben oder ein anderes Ziel ansteuerten und das Land von potenziellen Unruhestiftern verschont werde. Und die Ausländer, die bereits im Land seien und wegen der nationalen Präferenz ihren Arbeitsplatz verlören, würden veranlasst, das Land zu verlassen.
Da der FN nicht an die Macht gelangte, hatte er zum Glück keine Gelegenheit, dieses Programm in die Tat umzusetzen. Er versuchte es auf anderem Weg – über die Rathäuser –, stieß dabei allerdings auf rechtliche Hürden. So zum Beispiel 1997 in Vitrolles, als die dortige FN-Bürgermeisterin Catherine Mégret eine „kommunale Geburtenprämie“ ausschließlich für französische Familien einführen wollte. Die Maßnahme wurde drei Monate später vom Verwaltungsgericht in Marseille gekippt.
Wenn man genauer hinsieht, wird das Prinzip der nationalen Präferenz allerdings in vielen Bereichen schon angewandt. Nicht-EU-Bürger kommen für den öffentlichen Dienst nicht infrage – außer bei Personalknappheit; da tut es auch ein tunesischer Anästhesist. Die sogenannten hoheitlichen Aufgaben (Polizei, Justiz, Verteidigung, diplomatischer Dienst) bleiben französischen Staatsbürgern vorbehalten. Laut der Beobachtungsstelle für Ungleichheiten (Observatoire des inégalités) bleiben in Frankreich mehr als 5 Millionen Jobs und damit jeder fünfte Arbeitsplatz2 für Nicht-EU-Bürger unerreichbar. Dazu gehören auch Stellen in der Privatwirtschaft, in der rund 50 Beschränkungen aus den 1930er Jahren bis heute Bestand haben – insbesondere bei den freien Berufen.
Damals war man in den oberen Schichten beunruhigt vom Zustrom der Flüchtlinge aus intellektuellen Milieus und fürchtete die ausländische Konkurrenz: Rechtsanwälte, Ärzte, Notare, Wirtschaftsprüfer, Architekten, Apotheker, Tierärzte, Gerichtsvollzieher, Auktionatoren und Landvermesser wurden aktiv, um ihren Berufsstand abzusichern.
Die Parlamentarier zeigten sich aufgeschlossen: Zusätzlich zur französischen Staatsbürgerschaft wurde ein französisches Diplom zur Voraussetzung gemacht, sodass auch viele Eingebürgerte faktisch ausgeschlossen wurden. Die Bestimmungen wurden seither ein wenig gelockert, aber für Nichtfranzosen gelten bis heute erhebliche Berufsbeschränkungen. Zwingende sachliche Gründe gibt es für diese diskriminierenden Regelungen der 1930er Jahre meist nicht. Frankreich geriet nicht ins Wanken, als 1971 die Vorschrift abgeschafft wurde, dass nur Staatsangehörige als Gerichtssachverständige gehört werden können, oder als 1985 der Beruf des Physiotherapeuten für Ausländer geöffnet wurde.3 Doch beim Schutz der eigenen Arbeitsplätze passt der Oberschicht die nationale Präferenz besser ins Konzept.
Auch der Zugang zu Sozialleistungen unterliegt diversen Beschränkungen. Den Behauptungen von Marine Le Pen und Éric Zemmour zum Trotz: Nicht jeder, der einen Fuß auf französischen Boden setzt, erhält die Mindestrente, Familienbeihilfen oder das sogenannte Solidaritätseinkommen (Revenu de solidarité active, RSA). Um diese Hilfen zu bekommen, muss man zahlreiche bürokratische Hindernisse überwinden und Kriterien erfüllen, die bestimmte Gruppen von Migrant:innen faktisch ausschließen.
Eins dieser Kriterien ist die „Rechtmäßigkeit des Aufenthalts“. Sie wurde 1993 durch das Pasqua-Gesetz zur Voraussetzung für sämtliche Sozialleistungen: Um sie zu bekommen, müssen Antragssteller über ordnungsgemäße Papiere verfügen. Das erscheint logisch. Der Wirtschaftswissenschaftler Antoine Math gibt jedoch zu bedenken: „Es gibt ebenso viele Definitionen des Begriffs ‚Rechtmäßigkeit des Aufenthalts‘ und ebenso viele verschiedene Aufenthaltstitel, wie es Sozialleistungen gibt. Und je stärker die ‚Rechtmäßigkeit des Aufenthalts‘ als Voraussetzung für eine bestimmte Leistung eingegrenzt wird, desto höher ist die Zahl der rechtmäßig in Frankreich weilenden Ausländer, die nicht den ‚richtigen‘ Titel für einen Leistungsanspruch haben.“4
Ein besonders wirksames Ausschlusskriterium ist auch die Aufenthaltsdauer. So ist vorgeschrieben, dass man für einen Leistungsanspruch eine bestimmte Zeit lang in Frankreich gelebt haben muss. Auch das leuchtet zunächst ein. Der Haken ist allerdings, dass der Begriff „bestimmte Zeit“ vollkommen willkürlich ist und von den Gesetzgebern nach Belieben gestreckt werden kann, was diese auch gern tun. Musste man früher seit mindestens drei Jahren in Frankreich wohnhaft sein, um das „Mindesteinkommen zur Eingliederung“ (RMI) zu bekommen, setzte das heutige RSA, das Nachfolgemodell des RMI, fünf Jahre voraus. Es gab Zeiten, da konnten Nichtfranzosen die Alterssolidarbeihilfe (Aspa, quasi eine Mindestrente) erhalten, sobald sie ein Jahr in Frankreich gelebt hatten. In zwei Schritten wurde die Latte höher gelegt: 2006 auf drei Jahre und 2011 auf zehn Jahre. Und nichts hindert den Gesetzgeber, eines Tages 20 oder 30 Jahre zu verlangen.
Lob der Kelten und der Kathedralen
Dass es in Frankreich bereits versteckte Formen der nationalen Präferenz beziehungsweise des „Sozialpatriotismus“ gibt, um einen Lieblingseuphemismus von Marine le Pen zu zitieren, ist der beste Beleg dafür, dass sie nicht das Wundermittel ist, das ihre Fürsprecher in ihr sehen wollen. Die stetige Verschärfung des Zugangs zu Sozialleistungen hat auf die Migration in Richtung Frankreich überhaupt keinen Einfluss.
Denn für Bevölkerungsbewegungen sind – wie Migrationsexperten wissen – die sogenannten Push-Faktoren ausschlaggebend, also die Gründe, warum jemand seine Heimat verlässt. Die Gründe, warum jemand ein bestimmtes Zielland ansteuert (Pull-Faktoren), spielen in erster Linie bei hochqualifizierten Migrant:innen eine Rolle, die sich wegen eines konkreten Arbeits- oder Studienplatzes auf den Weg machen. Von ihnen wird in den Medien und anderswo häufig gar nicht als von „Migranten“, sondern von „Expats“ gesprochen.
Nur so erklärt sich, dass ein Land mit einem nicht gerade freigiebigem Sozialsystem wie die USA jedes Jahr hunderttausende Menschen anzieht, während niemand seine Familie und seine Freunde verlässt, um sich in Frankreich niederzulassen in der Hoffnung, die personenbezogene Mietbeihilfe (APL) abzugreifen. Die nationale Präferenz beruht auf einem Mythos – dem Mythos von Migranten als „Sozialschmarotzer“ – und hat keinerlei Lenkungswirkung auf die Migrationsbewegungen.
Die Bevorzugung französischer Staatsangehöriger beim Besetzen von Stellen im Kampf gegen ausländische Arbeitsplatzräuber kann sogar tatsächlich kontraproduktiv sein. In der Krise der 1930er Jahre empfanden es viele französische Arbeiter angesichts steigender Erwerbslosenzahlen „als unverzeihliche Ungerechtigkeit, dass Franzosen ohne Beschäftigung waren, während Ausländer Arbeit hatten“, schreibt die Historikerin Claudine Pierre.5 In den Fabriken kam es zu Prügeleien; die gewählten Volksvertreter wurden in Briefen und Petitionen gedrängt, die nichtfranzösischen Arbeiter nach Hause zu schicken.
Am 10. August 1932 reagierte die radikalsozialistische Regierung von Édouard Herriot mit einem „Gesetz zum Schutz der nationalen Arbeitskräfte“, das die Voraussetzungen für Ausländerquoten in einzelnen Unternehmen oder Branchen schuf. In den von der Wirtschaftskrise stark betroffenen Sektoren entließen die Arbeitgeber daraufhin vorzugsweise Ausländer. Binnen fünf Jahren standen hunderttausende Polen, Italiener und Belgier ohne Arbeitsvertrag da und mussten in ihre Heimat zurückkehren.
Die Arbeitslosigkeit stieg trotzdem weiter, und die nationalistische Empörung legte sich keineswegs. Ohne ihre ausländischen Arbeiter, die sie hemmungslos hatten ausbeuten können, stiegen in manchen Unternehmen die Kosten und sie gerieten noch tiefer in die Krise. So mussten lothringische Hüttenwerke „bei einbrechenden Gewinnen einen höheren finanziellen Aufwand treiben, um arbeitsfähig zu bleiben“, konstatiert der Historiker Gérard Noiriel.6 „Die ‚Lösung‘, unverheiratete Einwanderer zu entlassen, verschärfte das Problem, weil die Arbeitgeber damit auf einen besonders flexiblen Teil ihrer Belegschaft verzichten mussten.“
Zudem hatten die Franzosen es nach dem Weggang der Ausländer nicht eilig, die gefährlichen, schlecht bezahlten und kräftezehrenden Jobs an den Hochöfen zu übernehmen. Weder im Lothringen der 1930er Jahre noch im heutigen Frankreich kann davon die Rede sein, dass zugewanderte Arbeitskräfte die einheimischen Beschäftigten verdrängen. Sie übernehmen vielmehr die Jobs, die die Einheimischen nicht machen wollen, weil sie zu unattraktiv sind.
Damals waren das Bergbau und Stahlindustrie; heute sind es Gastronomie und Reinigungsbranche, personennahe Dienstleistungen oder die Bauwirtschaft – lauter Sektoren, die unter Personalmangel leiden und auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. Als während des Lockdowns im Frühjahr 2020 die marokkanischen und rumänischen Saisonarbeiter nicht nach Frankreich reisen konnten, um bei der Ernte zu helfen, standen die Franzosen trotz wiederholter Appelle der Regierung nicht gerade Schlange, um deren Jobs zu übernehmen.
Jean-Yves Le Gallou, der Theoretiker der nationalen Präferenz, hat sein Konzept mittlerweile zugunsten einer neuen Idee fallen gelassen. Er propagiert jetzt die „Zivilisationspräferenz“ oder „europäische Präferenz“.7 „Die nationale Präferenz war vor 30 Jahren das Gebot der Stunde. Heute ist die Zivilisationspräferenz ein absolutes Muss“, verkündete er 2016.8 An die Stelle wirtschaftlicher Auseinandersetzungen sei der Kampf der Kulturen getreten, in dem der Feind durchaus einen französischen Pass besitzen könne: „Wir stehen auf der Seite derer, die megalithische Steinkreise, griechische Tempel, keltische Oppida, romanische Kirchen, gotische Kathedralen, Renaissancepaläste, Barockschlösser und Jugendstilhäuser errichtet haben“, so Le Gallou weiter. „Wir müssen zeigen, dass wir fest entschlossen sind, unsere Zivilisation zu bewahren, ihre Traditionen fortzusetzen, zu bereichern und an unsere Nachkommen weiterzugeben. Kurz: Es geht darum, der Tabula rasa und dem Großen Austausch, der auf einen Genozid hinausläuft, entgegenzutreten.“ Über die Frage, wen er zum Ministerpräsidenten machen könnte, braucht sich Éric Zemmour, sollte er 2022 Präsident werden, nicht mehr den Kopf zerbrechen.
1 Pressekonferenz vom 5. Oktober 2021.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Le Pens Brevier
Das zweibändige Werk „Cartel des fraudes“ (Betrugskartell) des Pariser Richters Charles Prats, das 2020/21 erschien, ist das Brevier von Éric Zemmour und Marine Le Pen. Darin finden sie stets das passende Zahlenwerk für ihre Reden von der nationalen Präferenz.
So stammt aus diesem Buch zum Beispiel der folgende Satz, den Zemmour gebetsmühlenartig zu wiederholen pflegt: „43 Prozent der Menschen, die Leistungen der Familienausgleichskasse CAF beziehen, sind im Ausland geboren.“ Die Zahl ist jedoch irreführend, weil hier die Zahl der im Ausland Geborenen, die Anspruch auf Familienleistungen haben (5,3 Millionen), auf die Zahl der leistungsberechtigten Haushalte (12,7 Millionen) bezogen wird, zu denen aber meistens mehrere Personen gehören.
Wenn die Faktenchecker das Täuschungsmanöver entdecken und entlarven – egal. Entscheidend ist, dass immer neue Zahlen aufgetischt werden und der verbalen Panikmache dienen. So behauptet Zemmour, weil es die Staatliche Medizinische Hilfe (Aide médicale d’État; AME) für Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung gebe, würden „die Krankenhäuser von Leuten aus der ganzen Welt belagert“.
Die AME hat ein Volumen von 990 Millionen Euro im Jahr; das sind 0,5 Prozent der Krankenversicherungsausgaben. Im Jahr 2019 wurden nach Zahlen des Branchenblatts Le Quotidien du médecin im Krankenhausverbund Hôpitaux de Marseille 2513 AME-Berechtigte behandelt. Der Verbund der Hospices civils de Lyon versorgte in demselben Jahr 905 solcher Patienten. Das bedeutet, dass jedes der 13 Verbundkrankenhäuser im Schnitt alle fünf Tage einen Patienten oder eine Patientin aufnahm. Ein Belagerungszustand sieht anders aus.
Ein anderes Beispiel: Marine Le Pen sagt, Sozialwohnungen würden „im großen Stil“ an Nichtfranzosen vergeben; es gebe es gar eine „préférence étrangère“, eine Bevorzugung von Ausländern. „Unter den Sozialmietern sind Haushalte von Einwanderern doppelt so stark vertreten wie andere“, behauptet Le Pen. 2015 wurden laut dem Statistikamt Insee 22,3 Prozent aller Sozialwohnungsanträge von Nichtfranzosen gestellt, ihr Anteil an den erfolgreichen Antragstellern betrug nur 16,8 Prozent.
Und dass 34 Prozent der Familien, deren Haushaltsvorstand im Ausland geboren ist, 2015 in einer Sozialwohnung lebten (bei den in Frankreich Geborenen betrug der Anteil 16 Prozent), liegt schlicht daran, dass sie es sind, die die Vergabekriterien erfüllen: Sie leben häufiger in gesundheitsgefährdenden und extrem beengten Wohnverhältnissen, werden öfter ohne Ausweichquartier vor die Tür gesetzt und haben geringere Einkommen als andere. Ungesundes Wohnumfeld, Zwangsräumungen, Armut – in diesen drei Bereichen gilt tatsächlich die Regel: Ausländer zuerst. ⇥Benoît Bréville