11.11.2021

Erhöhte Temperatur

zurück

Erhöhte Temperatur

Historische Fieberkurve der algerisch-französischen Beziehungen

von Akram Belkaïd

Massenverhaftung algerischer Demonstranten am 17. Oktober 1961 in Paris JACQUES BOISSAY/akg-images
Audio: Artikel vorlesen lassen

Am 2. Oktober kündigte die Regierung in Algier an, ihren Botschafter in Paris „zu Konsultationen“ zurückzurufen. Anlass waren die „unverantwortlichen Äußerungen“, die Präsident Emma­nuel Macron am 30. September gemacht hatte.

Vor 18 jungen Leuten mit algerischen Wurzeln, die er im Élysée-Palast empfangen hatte, erklärte Macron, das heutige Algerien zehre von einer „Erinnerungsrente“. Und die streiche ein „politisch-militärisches System“ ein, das die Geschichte umschreibe und „Hass gegen Frankreich“ verbreite.1 Außerdem stellte der Präsident die Existenz einer „algerischen Nation vor der französischen Kolonialisierung“ infrage.

Krisen zwischen Paris und Algier sind nichts Neues.2 Eine besonders schwere ereignete sich 1971. Auslöser war damals die Entscheidung des algerischen Präsidenten Houari Boumediène, die Öl- und Gasvorkommen des Landes zu verstaatlichen. Es folgten ein mehrjähriges diplomatisches Tauziehen und französische Vergeltungsmaßnahmen wie ein Importverbot für algerischen Wein. Die Regierung in Algier wiederum warf der ehemaligen Kolonialmacht vor, angesichts einer Welle von Morden und rassistischen Gewalttaten gegen Ein­wan­de­re­r:­in­nen nichts zu unternehmen.

Auch der historische Besuch von Va­léry Giscard d’Estaing, der im April 1975 als erstes französisches Staatsoberhaupt ins unabhängige Alge­rien reiste, änderte nichts. Erst mit der Wahl von François Mitterrand im Mai 1981 wurden die Beziehungen besser. Auch danach kam es zu weiteren di­plo­matischen Krisen, die oft einen innenpolitische Hintergrund hatten, vornehmlich in Frankreich.

Dabei ging es häufig um die koloniale Vergangenheit. Im Februar 2005 formulierten rechte französische Parlamentarier und Minister einen Entwurf für ein Kolonialismusgesetz, das die „positive Rolle der französischen Präsenz in Übersee, insbesondere in Nordafrika“ würdigte.3 Daraufhin forderten bekannte Mitglieder der algerischen „revolutionären Familie“ – also Veteranen des Unabhängigkeitskriegs – von Paris eine offizielle Entschuldigung für die 132-jährige Kolonialherrschaft über Algerien.

Manchmal kam es auch zu völlig unerwarteten Konflikten. Im Dezember 2013 war das Verhältnis zwischen Paris und Algier eigentlich ungetrübt; elf Monate zuvor war französischen Kampfflugzeugen erstmals gestattet worden, den algerischen Luftraum für ihren Einsatz in Mali zu nutzen. In diese Stimmung platzte eine scherzhaft gemeinte Bemerkung von François Hol­lande. In einer Rede vor dem Repräsentativrat der jüdischen Institu­tio­nen in Frankreich (CRIF) witzelte der Präsident, sein Innenminister Manuel Valls sei „wohlbehalten“ von einer offiziellen Reise nach Algerien zurückgekehrt, und fügte hinzu: „Das ist schon viel.“

In Algier verstand man diese Bemerkung als eine erneute Kritik an der Sicherheitslage im Land. Außenminister Ramtane Lamamra sprach von einem „bedauernswerten Vorfall“, und in den algerischen Medien brach ein Proteststurm los, sodass sich Hol­lande entschuldigen musste.

In einem Fall wurde ein kontroverses Thema sogar vorher offen angesprochen, um Konflikte zu verhindern. Zum Beispiel bei einem Treffen zwischen Präsident Chirac und seinem algerischen Amtskollegen Ab­del­aziz Bouteflika zu Beginn des Jahres 2002. Damals hat Chirac – Ohrenzeugen zufolge – seinen Amtskollegen darüber informiert, dass im Vorfeld der anstehenden französischen Präsidentschaftswahlen womöglich Reden gehalten würden, die sich positiv auf die koloniale Vergangenheit beziehen.

Der französische Präsident bat seinen Kollegen, daraus kein großes Thema zu machen, was Bouteflika versprach. Er warnte Chirac jedoch, andere algerische Amtsträger würden nach wie vor die Ex-Kolonialmacht kritisieren – schon im Hinblick auf die sehr sensible öffentliche Meinung.

Heute gibt es jenseits der Auslassungen Macrons reichlich Themen, die den Konflikt zwischen beiden Seiten wieder anheizen können. Auf algerischer Seite ist man überzeugt, dass Frankreich in Sachen Erinnerungspolitik hart bleiben wird. Algier geht auch davon aus, dass Paris einige Bestimmungen des Evian-Vertrags revidieren möchte, desgleichen ein bilaterale Abkommens von 1968, das algerischen Einwanderern die Niederlassung in Frankreich leichter macht als Angehörigen anderer Nationen. Schließlich fordern die algerischen Behörden, bislang vergebens, die Auslieferung einiger Oppositioneller. Zu ihnen gehört Ferhat Mehenni, Gründer der Bewegung für die Autonomie der Kabylei (MAK), die Algier als terroristische Vereinigung einstuft.

In Paris wünscht man sich von Algier mehr Kooperation bei der Bekämpfung der „illegalen Migration“ und die Aufnahme von algerisch-französischen Doppelstaatlern, die sich mit dem IS-Terrorismus in Syrien und Irak eingelassen hatten.

Von all diesen Streitigkeiten zeigen sich zwei wichtige Bereiche bisher weitgehend unberührt. Zum einen sind die schon immer existierenden institutionellen Beziehungen im Komplex Verteidigung und Geheimdienste von den diplomatischen Querelen eher verschont geblieben.

Der andere Bereich ist die wirtschaftliche Verflechtung. Zwar hat China inzwischen Frankreich als wichtigster Handelspartner Algeriens abgelöst. Aber die ehemalige Kolonialmacht liegt bei den Importen Algeriens mit 10,6 Prozent immer noch auf Platz zwei: hinter China (16,8 Prozent), aber vor Italien (7,1 Prozent) und Deutschland (6,5 Prozent).4 Frankreich ist auch der zweitgrößte Abnehmer für ­algerische Exporte (13,3 Prozent), hinter Italien (14,7 Prozent), aber vor Spanien (10 Prozent) und China (5 Prozent).

Der Konflikt spielt also quasi in einem Theater mit zwei Bühnen: Auf der dem Publikum zugewandten werden die offenen Streitereien ausgetragen und Versöhnungen inszeniert. Auf der Hinterbühne betreiben die Militärs, die Geheimdienste und die Unternehmen ihre diskreten Geschäfte.

Doch dieses Arrangement ist offenbar im Wandel begriffen. Das erklärt zum Teil die Frustration Macrons angesichts eines algerischen Regimes, das er auch dann noch mit Samthandschuhen angefasst hat, als es durch die Hirak-Bewegung unter Druck geriet.5

Machtwechsel in ­Algier mit ­Folgen

Innerhalb der algerischen Machtelite gab es seit jeher Rivalitäten zwischen verschiedenen Clans, die sich aber stets zusammenrauften, wenn das Gesamtsystem gefährdet schien. Zurzeit ist dieses System dabei, sich neu zu formieren. In den letzten zwei Jahren sind zahlreiche Schlüsselakteure, die zum Machtzirkel des kürzlich verstorbenen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika gehörten, in Ungnade gefallen oder im Gefängnis gelandet. Da häufig unklar ist, wer in den Macht- und Kon­troll­zentren das Sagen hat, ist es für Paris schwierig, die richtigen Gesprächspartner zu finden. Auch kann sich die französische Seite nicht sicher sein, dass gegebene Versprechen eingehalten werden.

Paris hat also wichtige Mittler und auch echte Verbündete verloren. Dazu gehören Bouteflikas Bruder Said, Ex-Regierungschefs, einflussreiche Minister und auch Geschäftsleute wie Ali Haddad, der ehemaligen Chef des algerischen Unternehmerverbands. Dagegen werden die Leute, die jetzt in wichtige Positionen gelangen, wenig Rücksicht auf die Interessen Frankreichs nehmen. Zwei französische Unternehmen haben schon wichtige Aufträge verloren: In Algier wird die Metro nicht mehr vom französischen Staatsunternehmen RATP betrieben, das Wassernetz nicht mehr vom Suez-Konzern. Bedroht ist auch die Dominanz der französischen Getreideproduzenten, die bislang 56 Prozent der Weizenmenge liefern, denn Algier möchte sein Importe diversifizieren.

Auch in der algerischen Verwaltung und im diplomatischen Apparat beginnt der französische Einfluss zu schwinden. Hier haben sich mittlerweile Eliten durchgesetzt, die ihre Ausbildung in Algerien (und nicht in Frankreich) durchlaufen haben, also nicht mehr frankofon oder gar frankophil sind wie ihre Vorgänger.

Auch das algerische Militär (Armée nationale populaire, ANP), traditionell der zentrale Stützpfeiler des Regimes, durchläuft einen Wandel. Fast alle hohen ANP-Offiziere, die einst in der französischen Armee dienten, sind nicht mehr da. Paris kann also nicht mehr auf seine natürlichen Verbündeten und Gesprächspartner von einst setzen. Auch zwei vormals mächtige Generäle, die Ex-Chefs des Geheimdienstes und der Inneren Sicherheit, sind abserviert worden. Ihre Nachfolger wurden zwar teilweise auch in Frankreich ausgebildet – wie der aktuelle Generalstabschef Saïd Chengriha, der eigentliche starke Mann Algeriens –, üben aber demonstrative Zurückhaltung gegenüber der ehemaligen Kolonialmacht.

Die algerischen Militärs haben Paris zudem nie verziehen, dass es in der Westsahara-Frage stets Marokko unterstützt hat. Am 24. August 2021 brach Algier die diplomatischen Beziehungen zum benachbarten Königreich ab und verwies auf „wiederholte feindselige Handlungen“ mit Unterstützung Is­raels. Auf Betreiben Washingtons hatte Rabat im Dezember 2020 sein Verhältnis zu Israel normalisiert.

Bis 2019 konnten Bouteflika und seine Clique die französische Parteinahme für Rabat in der Westsahara-Frage noch herunterspielen. Heute sieht das in der politischen oder militärischen Führung Algeriens niemand mehr mit so viel Nachsicht. Präsident Abdelmadjid Tebboune scheint sogar Partei für die „Falken“ zu ergreifen, die eine Eskalation mit Marokko befürworten.

Im Übrigen sträubt sich die algerische Armee dagegen, die französischen Truppen zu ersetzen, die Anfang 2022 abgezogen sein sollen. Zwar erlaubt die neue Verfassung erstmals den Einsatz des Militärs außerhalb der Landesgrenzen, aber die Vorbehalte gegen Auslandsinterventionen sind immer noch groß.

In Algier denkt man zudem an die Rückkehr zu einer „offensiveren autonomen Diplomatie“. Im Fall Mali etwa, sagte uns ein Diplomat, werde man sich nie der französischen Kritik an der herrschenden Junta anschließen. Auch dem Regime in Tunesien hat Algerien „Unterstützung und Nichteinmischung“ in die inneren Angelegenheiten versprochen.

Präsident Macron hat inzwischen deutlich gemacht, dass er beim Thema koloniales Erbe und Erinnerung mehr Sensibilität zeigen will. Zwar war Algier mit Macrons Ehrung der Opfer des Massakers von Paris am 17. Oktober 1961 nicht ganz zufrieden.6 Doch es ist möglich, dass die Spannungen nachlassen und Botschafter Mohamed Antar Daoud nach Paris zurückkehren wird.

Insgesamt bleibt das Thema wenige Monate vor den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit immer noch heikel. Der französische Präsident erklärt jedem, der es hören will, dass er sich für eine „Versöhnung der Erinnerungen“ einsetzt.

Viele in Algerien sehen diesen Ansatz jedoch skeptisch. Präsident Tebboune hat erklärt, man könne „unmöglich den Henker und sein Opfer auf dieselbe Stufe stellen“. Auch wird der Verdacht geäußert, dass Macron mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen im April 2022 bei der rechten Wählerschaft punkten will.

In den Medien wird die Frage heftig diskutiert, welcher Rede Macrons man Glauben schenken soll? Der vom Februar 2017, als der Präsidentschaftskandidat Macron erklärte, die Kolo­nia­li­sierung sei „ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“? Oder der vom 30. September 2021, in der er die Existenz einer algerischen Nation vor 1830 anzweifelte?

Was diese jüngste Rede betrifft, so wurde in Algier heftig spekuliert, warum wohl der Le-Monde-Journalist Mustapha Kessous vom Élysée-Palast ausgewählt wurde, um über Macrons Treffen mit den „Enkeln des Algerienkriegs“ zu berichten. Denn Kessous ist Autor eines Dokumentarfilms über die algerische Jugend und die Hirak-Bewegung, der im Mai 2020 ausgestrahlt wurde. Das hatte damals in Algier heftige Kritik ausgelöst und zu einem ersten Rückruf von Botschafter Daoud geführt.7

Dass es sich bei dieser Wahl um einen bloßen Zufall handeln könnte, ist für viele in Algerien eine abwegige Vorstellung. Man ist davon überzeugt, dass Frankreich, was seine Beziehungen zur ehemaligen Kolonie angeht, eine bis ins kleinste Detail geplante Strategie verfolgt.

1 Mustapha Kessous, „Le dialogue inédit entre Emma­nuel Macron et les ‚petits-enfants‘ de la guerre d’Algérie“, Le Monde, 2. Oktober 2021.

2 Siehe Naoufel Brahimi El Mili, „France-Algérie. 50 ans d’histoires secrètes“, 2 Bände, Paris (Fa­yard) 2017 und 2019.

3 Siehe Claude Liauzu, „Hausaufgaben für Kolonialisten“, LMd, April 2005.

4 „Algérie: relations économiques bilatérales“, Minis­te­rium für Wirtschaft und Finanzen, Paris, 10. Oktober 2021.

5 Siehe Hicham Alaoui, „Das große Nachbeben“, LMd, März 2020.

6 Damals wurden mehrere zehntausend Algerier, die friedlich für die Unabhängigkeit ihres Landes demonstrierten, von der Polizei brutal attackiert; es gab mindestens 200 Tote.

7 Siehe Tewfik Hakem, „Algérie mon amour, le documentaire qui déchaîne les passions“, France Culture, 29. Mai 2020.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von Akram Belkaïd