11.11.2021

No Cup of Tea

zurück

No Cup of Tea

Auch in Großbritannien steigen die Energiepreise – vor allem Erdgas wird knapp

von James Meek

Matthias Garff, Waschbär, 2021, Metall, Nieten, Textil, 77 × 50 × 40 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Es war eigentlich kein richtiges Experiment. Es war so eine Art Messung, die man in der Grundschule als Experiment ausgibt: Vom Einkaufen zurück, setzte ich den Wasserkessel auf. An unserem Smart Meter – der intelligente Stromzähler war schon bei unserem Einzug installiert – kann man ablesen, dass das Gerät pro Stunde etwa drei Kilowatt reinzieht. Zum Wasserkochen brauchte es eine Minute. Die Firma Octopus, die uns den Strom verkauft, passt ihren Tarif alle halbe Stunde an die Preise an, die sich bei den Auktionen ergeben, über die sie und andere Käufer ihre Strommengen von den großen Energieproduzenten ersteigern.

Es war kurz vor 11 Uhr morgens und der Preis lag bei 35 Pence für die Kilowattstunde. Wenn ich richtig gerechnet habe, kostet das bisschen Teewasser 1,75 Pennies. Fast nichts. Aber vom Tee mal abgesehen, kommt einiges zusammen. Hier ein Router, dort ein Kühlschrank, ständig eingeschaltet. Mach einen Wäschegang, lass den Geschirrspüler laufen, knipse Lampen an, lade die Smartphones und die Laptops auf, schalte die Mikrowelle ein, back einen Kuchen – und eh du dich versiehst, klettert die Monatsrechnung auf einen hohen zweistelligen Pfund-Betrag, mindestens.

Am Morgen eines Werktags Ende September außerhalb der abendlichen Spitzenverbrauchszeiten ist der Strom normalerweise billiger zu haben. Vor einem Jahr hätte das Teewasser nur einen halben Penny gekostet. Und das lag nicht am reduzierten Energiebedarf während der Pandemie, denn vor zwei Jahren, also vor Covid, lag der Preis noch mal um die Hälfte niedriger.

35 Pence für die Kilowattstunde an einem sonnigen Herbstmorgen ist ein Notstandspreis, der eine extreme Belastung des Systems anzeigt. Es ist der höchste Tarif, den die britische Regierung den Stromanbietern gestattet, die sonst mehr verlangen würden. Doch da dies nicht erlaubt ist, können die kleineren Unternehmen nicht kostendeckend arbeiten und gehen reihenweise Bankrott, schon zehn seit Jahresbeginn: Farewell, People’s Energy, Utility Point, PfP Energy, MoneyPlus Energy, Hub Energy, Green Network Energy, Simplicity Energy, Avro Energy and Green Supplier.

Nun müssen 1,5 Millionen Stromkunden zu größeren Anbietern wechseln, die bislang noch überlebt haben, weil sie gegen die Raubtier-Usancen auf dem Energiemarkt finanziell besser gewappnet sind. Innerhalb dieser Festungen ist jedoch kein Platz für einen plötzlichen Ansturm neuer Haushalte. Nachdem die großen Unternehmen von der Privatisierung des Stromsektors profitiert haben, rufen sie nach staatlicher Unterstützung – ohne dass irgendjemand die Rückzahlung der früheren überhöhten Dividenden fordern würde.

Warum sind die Preise so hoch? Während ich dies schreibe, scheint die Sonne. Das bringt ein paar willkommene Gigawatt an Solarenergie, aber ein Großteil des britischen Stroms wird durch Wind erzeugt, und derzeit herrscht hierzulande Flaute. Nur vor der Nordwestküste bläst ein stürmischer Wind, aber dort draußen ist das Meer zu tief, um Windparks zu bauen.

Auch das Speicherproblem bei Windenergie ist noch nicht gelöst: Es gibt zwar schon praktische Lösungen, aber noch keine ausreichend großen Anlagen. Die meisten britischen Kohlekraftwerke sind abgeschaltet; beim Atomkraftwerk Hartlepool im Nordosten Englands haben beide Reaktoren den Geist aufgegeben; das neue AKW Hinkley Point C in Somerset wird frühestens in fünf Jahren Strom erzeugen.

Je länger der Übergang zu erneuerbaren Energien dauert, desto mehr ist Großbritannien auf das transeuropäische Stromnetz angewiesen, sodass wind- oder sonnenarme Tage auf der Insel durch sonniges oder stürmisches Wetter anderswo kompensiert werden können. Aber die Kapazität der Starkstromleitung zwischen Frankreich und der britischen Kanalküste ist seit einem Kabelbrand Ende September stark reduziert, und eine neue Leitung, die Großbritannien mit Norwegen verbindet, wurde gerade erst in Betrieb genommen.

Für all diese Probleme ist nicht nur der Brexit verantwortlich, wie es einige Remain-Anhänger gern hätten, aber Tatsache ist, dass es nicht gerade sinnvoll war, den europäischen Energiebinnenmarkt zu verlassen und damit auch nicht mehr am sogenannten Market-Coupling teilzunehmen, das den Preis von grenzübergreifend gehandeltem Strom innerhalb Europas harmonisieren soll.

All dies hätte nicht zu den aktuellen Schwierigkeiten geführt, wenn es nicht noch einen weiteren, viel gewichtigeren Faktor gäbe. Es ist das Gas, dem wir zu verdanken haben, dass die Lichter (noch) nicht ausgehen. Die Menge an Kohle-, Atom-, Wind-, Solar- und importiertem Strom reicht nicht aus, um den britischen Bedarf zu decken. An einem windlosen Morgen liefern die Gasturbinenkraftwerke die Hälfte der britischen Elektrizität, während nur 15 Prozent von AKWs und nur 8 Prozent durch Windkraft erzeugt werden.

Ob es uns gefällt oder nicht: Erdgas ist zurzeit die unverzichtbare Auffanglösung, nicht nur für Großbritannien. Aber diese Ressource ist in den vergangenen Monaten sehr schnell teurer geworden. In den letzten fünf Jahren kostete das in Europa gehandelte Erdgas nie mehr als 29 Euro pro Megawattstunde. Anfang November lag der Preis bei rund 65 Euro, nachdem er im Oktober zwischenzeitlich auf über 116 Euro gestiegen war.

Warten auf die Gastanker

Die Zeiten, als das eigene Nordseegas den Bedarf in Großbritannien decken konnte, sind längst vorbei. Dass diese fossilen Brennstoffreserven so schnell verbrannt wurden, lag auch daran, dass die Marktpreise den Bau von Gasturbinenkraftwerken begünstigten. Heute ist man auf norwegisches Gas angewiesen, das per Unterwasserpipeline an die britische Ostküste gelangt, und auf Flüssiggas, das über zwei LNG-Terminals im walisischen Milford Haven und einen auf der Isle of Grain importiert wird.

Der steile Anstieg des Gaspreises geht zum Teil darauf zurück, dass die Produktion in den Industrieländern wieder zugelegt hat, weil die Welt die Pandemie in den Griff bekommt oder zumindest mit ihr zu leben lernt. Aber all das reicht als Erklärung nicht aus. Die steigende Gasnachfrage rührt auch daher, dass einige Länder ihre Kohlekraftwerke stilllegen, ohne sie durch erneuerbare Energiequellen zu ersetzen; und dass sich Japan und Deutschland nach der Fukushima-Katastrophe von 2011 von der Atomkraft abgewandt haben. Wobei Japan seine Reaktoren sehr behutsam wieder hochfährt, während sie in Deutschland schnellstmöglich abgeschaltet werden.

Die ersten Anzeichen der aktuellen Krise machten sich Ende letzten Jahres in Asien bemerkbar. Der Energienotstand in China, Japan und ganz Nordostasien machte tieferliegende strukturelle Probleme sichtbar, weshalb der Reuters-Analyst John Kemp die Situa­tion mit dem schrecklichen Winter von 1947 in Großbritannien und mit der globalen Ölkrise von 1973 verglich.1

In Pakistan zeichnete sich ein riesiger Gasengpass bereits im Oktober 2020 ab, und die Regierung zog bereits veröffentlichte Ausschreibungen für LNG-Importe zwischenzeitlich zurück, weil Flüssiggas einfach zu teuer wurde. Im Sommer mussten Fabriken schließen, und fast täglich gab es Stromausfälle. Mit denen ist auch im bevorstehenden Winter zu rechnen, was sich auf die Produktion und die Exporte, aber auch auf die Stimmung in der Bevölkerung auswirken wird.2

Da auch Indien und Bangladesch die von einem Verkäufermarkt diktierten Preise nicht zahlen konnten, blieb die Bevölkerung ohne konstante Gas- und Stromversorgung. In Dhaka mussten die Leute teils bis in die frühen Morgenstunden aufbleiben, bis wieder Gas zum Kochen zur Verfügung stand.

In China resultierten die Engpässe und die hohen Gaspreise zum Teil aus der Umstellung vieler regionaler Fernheizungsnetze von Kohle auf Gas. In Südkorea und Japan ließ ein bitterkalter Winter den LNG-Preis klettern; und in Japan wurden überalterte Kohlekraftwerke reaktiviert, um die Kapazitäten der abgeschalteten AKWs zu ersetzen.

In Europa hat der wichtigste Gaslieferant Gazprom, der vom russischen Staat kontrolliert wird, die Befüllung seiner Speicher verzögert und damit die Preise weiter hochgetrieben. Kritische Stimmen beschuldigen den Konzern, die Ängste vor Lieferengpässen bewusst zu verstärken, um mit diesem Druckmittel die Genehmigung der neuen Nord-Stream-2-Gasleitung, die ukrai­ni­sches Territorium umgeht, durchzusetzen.

Mit dem nahenden Winter wird sich die durch die Gaskrise verursachte Stromkrise weiter verschärfen. In den armen Ländern Asiens dürfte die Versorgungskrise immer wieder zu Gas- und Stromausfällen führen. In Japan und Europa wird sie eher die privaten Haushalte belasten und Armut, Jobverluste und kalte Wohnungen zur Folge haben. In Italien hat die Regierung schon vor Monaten 1,2 Milliarden Euro für die Subventionierung von Heizkosten der Privathaushaushalte bereitgestellt und Ende September angesichts erneuter Preissteigerungen weitere 3 Milliarden bewilligt. Die spanische und die französische Regierungen haben ähnliche finanzielle Entlastungen versprochen.

In Großbritannien ist die Lage besonders fatal. Nach 40 Jahren neoliberalem Marktfundamentalismus im Vereinigten Königreich bleibt es dort den privaten Unternehmen überlassen, die Speicherung von Erdgasreserven zu finanzieren, um eine Versorgungskrise oder eine Preisexplosion zu verhindern. Die Folge: Es gibt keine Speicherkapazitäten.3 Das Land steht vor einem kalten Winter, in dem es sich von Tanker zu Tanker wärmt.

Ob Großbritannien eine doppelte Energiekrise – bei der Versorgung und beim Preis – erleben wird, muss sich erst noch zeigen. Mike Bradshaw vom britischen Energy Research Centre (UKERC) verweist darauf, dass Flüssiggasimporte ein Fünftel des britischen Gasverbrauchs abdecken, dass aber nur ein kleiner Teil dieser LNG-Menge auf langfristigen Lieferverträgen beruht. Wenn also Japan mehr Geld bietet, werden die Gastanker statt der britischen Inseln japanische Häfen ansteuern. „Das Vereinigte Königreich ist in den Augen der LNG-Händler kein attraktiver Markt“, schreibt Brandshaw, „sondern oft nur die letzte Adresse für überschüssige Mengen, wenn der Markt gesättigt ist.“4

Wie mir der LNG-Experte Graham Wildgoose erklärt, der als Analyst für das Energie-Beratungsunternehmen Poten & Partners arbeitet, hat die Branche bislang immer der Logik des Marktes vertraut, wonach „der Preis bis zu einer Marke steigt, bei der dann das notwendige Angebot einsetzt“. Jetzt aber zeige sich, dass „diese Annahme nicht so belastbar ist, wie man gedacht hatte“.

Gleichwohl ist es wahrscheinlicher, dass Japan und Großbritannien sich ausreichende Gasmengen sichern können. So wie sie sich ausreichend Corona-Impfstoff verschafft haben – ungeachtet dessen, dass ärmere Länder nicht genug abbekamen. Aber die Preiskrise wird das Land hart treffen. Der Marktfundamentalismus hat die brutale Folge, dass die Ärmsten in der Gesellschaft einen unverhältnismäßig hohen Teil der Kosten für den Übergang zur CO2-freien Energieversorgung zu tragen haben.

Die Subventionen für Offshore-Windanlagen und neue Atomkraftwerke sind im Grunde eine Steuer, die über die Stromrechnungen erhoben wird, und zwar ohne Rücksicht auf die Zahlungsfähigkeit der Normalhaushalte, die ohnehin stark belastet sind: durch die steigende Inflationsrate, durch die geplante Anhebung der Sozialversicherungsbeiträge, die einkommensschwache Arbeiterinnen und Arbeiter härter trifft als Besserverdiener, und durch die drohende Kürzung der Sozialleistungen.

Die Energiekosten steigen für alle, aber die finanziellen Einschnitte treffen reiche und arme Haushalte nicht gleichermaßen. Was bei Ersteren nur als kleiner Kratzer zu spüren ist, bedeutet bei Letzteren einen Schnitt bis auf die Knochen.

1 John Kemp, „Big Freeze exposes Asia’s underlying energy crisis“, Reuters, 14. Januar 2021.

2 Siehe „The Global Natural Gas Crunch May Switch Off Lights In Pakistan“, Bloomberg, 27. September 2021.

3 Die britische Speicherkapazität entspricht nur 6 Prozent des Jahresbedarfs; in Deutschland, Frankreich und Italien liegt dieser Wert bei 20 Prozent.

4 Mike Brandshaw, „UK consumers pay for the cost of ‚Gas by Default.‘ “, UKERC News, 20. September 2021.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

James Meek ist Journalist und Autor, zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Roman „Liebe und andere Parasiten“, München (DVA) 2013.

© London Review of Books;, für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von James Meek