11.11.2021

Islamabad oder Riad

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Islamabad oder Riad

Tausende asiatische Arbeits­migranten, die während der Pandemie nach Hause gefahren sind, können nicht nach Saudi-Arabien zurückkehren – weil sie mit dem falschen Vakzin geimpft wurden.

von Sebastian Castelier und Quentin Müller

Dhaka im Oktober 2021: Warten auf das Rückflugticket nach Saudi-Arabien SUVRA KANTI DAS/picture alliance/ZUMAPRESS.com
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Pakistan ist ein strategischer Partner in Chinas globalem Infrastrukturnetz und ein wichtiger Baustein in dessen „Impfstoffdiplomatie“. Während der Pandemie hat die Volksrepublik mehr als 1,1 Milliarden Impfdosen an über 100 Länder geliefert – um seine di­plo­ma­tischen Beziehungen zu verbessern und sein Image als „zuverlässiger Partner“ vor allem in jenen Ländern zu stärken, die keinen Zugang zu westlichen Medikamenten haben.

So ließ die pakistanische Regierung vorwiegend die Vakzine des staatlichen chinesischen Pharmakonzerns Sinopharm verimpfen. Doch die sind in Saudi-Ara­bien nicht zugelassen. Abgesehen davon, dass sogar die oberste chinesische Gesundheitsbehörde die vergleichsweise geringe Wirksamkeit dieser Impfstoffe eingeräumt hat1 , stehen viele pakistanische Arbeitsmigranten nun vor dem Problem, dass sie sich die Impfstoffe selbst besorgen müssen, die von dem Gastland akzeptiert ­werden.

In Saudi-Arabien sind das Biontech/ Pfizer, Astrazeneca, Moderna und Johnson & Johnson. Wer aus Pakistan ins Königreich zurückkehren will, muss entweder doppelt mit diesen Vakzinen geimpft sein, zusätzlich zu den zwei Sinopharm-Impfungen eine Einzeldosis dieser Impfstoffe nachweisen, oder ein staatlich organisiertes siebentägiges „Quarantäne-Paket“2 erwerben, das aber für die meisten Arbeitsmigranten unerschwinglich ist.

Im Juni kündigten die pakistanischen Behörden an, Landsleuten mit einer ausländischen Aufenthaltserlaubnis eine beschränkte Menge von Astra­ze­neca-Impfdosen zur Verfügung zu stellen. Daraufhin stürmten am 28. Juni hunderte gestrandete Arbeitskräfte in Islamabad das einzige dafür vorgesehene Impfzentrum. „Die Leute waren völlig außer Rand und Band“, erzählt Ahmad, der dabei war. „Jeder will nach Saudi-Arabien zurück, um seine Arbeit wiederaufzunehmen. Aber der einzige Weg zurück führt über eine Impfung.“

Die Situation verdeutlicht auch das Machtgefälle zwischen den arabischen Golfstaaten und den prekär lebenden südasiatischen Arbeitnehmern. „Saudi-Arabien braucht uns nicht, aber wir brauchen Saudi-Arabien“, meint Na­deem Sajjad, ein pakistanischer Bauarbeiter, der seit 2013 in Riad gelebt hat.

Das Bruttosozialprodukt pro Kopf beträgt in Saudi-Arabien rund das 17-Fache des pakistanischen. In allen südasiatischen Ländern ist die Arbeitsmigration eine wirtschaftlich attraktive Option. Laut einem Bericht von Reuters vom Mai 2020 lebten damals etwa 40 Millionen südasiatische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Ausland, hauptsächlich in der ölreichen Golfregion. 2019 flossen mehr als 110 Milliarden US-Dollar als Rücküberweisungen aus der Golfregion ab, das meiste davon nach Südasien.3

Die strengen Auflagen bezüglich der Covid-Impfungen in den Zielländern haben außerdem den Wettbewerb zwischen den südasiatischen Ländern verschärft. So forderte der Generalsekretär des nepalesischen Arbeitsvermittlungsverbands (Nafea), Sujit Kumar Shreshtha, seine Regierung dazu auf, alle potenziellen Arbeitsmigranten schnellstmöglich zu impfen, um zu verhindern, dass sie durch Inder oder Bangladescher ersetzt werden.

In Saudi-Arabien besteht die größte Bedrohung für die asiatischen Arbeitsmigranten jedoch in den wachsenden Bemühungen Riads, sie durch saudische Staatsbürger zu ersetzen. Angesichts schrumpfender Öleinnahmen durch den absehbar weltweit sinkenden Verbrauch fossiler Brennstoffe und einer wachsenden Belastung des So­zial­staats hat Kronprinz Mohammad bin Salman der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit höchste Priorität eingeräumt. Daher möchte er die Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften reduzieren.

Die Zahlen für das zweite Quartal 2021 zeigen, dass die Arbeitslosigkeit unter saudischen Staatsbürgern mit 11,3 Prozent auf den niedrigsten Stand seit einem Jahrzehnt gesunken ist. Zuvor hatte die Regierung den Zugang ausländischer Arbeitskräfte zu einer ganzen Reihe von Berufen weiter eingeschränkt.4 Der Anteil berufstätiger saudischer Frauen stieg zwischen Anfang 2018 und Ende 2020 um 64 Prozent, wodurch sich das Stellenangebot für Migrantinnen weiter reduzierte.5

Der Bauarbeiter Nadeem Sajjad lobt zwar die Impfprogramme der saudischen Regierung für die Arbeitsmigranten vor Ort. Aber er kritisiert die mangelnde Hilfestellung für die in der Heimat festsitzenden Kollegen: „Die saudische Regierung hätte in ihrem Konsulat hier in Pakistan eine Impfmöglichkeit einrichten sollen.“ Als er wegen einer dritten Impfung im saudischen Konsulat in Islamabad vorstellig wurde, hätten ihm die Diplomaten gesagt: „Dafür sind wir nicht zuständig.“

Impfprivileg für Einheimische

Dabei hat Saudi-Arabien im eigenen Land eine vergleichsweise erfolgreiche Impfkampagne hingelegt. Bis zum 26. Oktober wurden insgesamt rund 45,5 Millionen Dosen verimpft. Etwa 60 Prozent der Bevölkerung haben ihre zweite Dosis erhalten.6 Organisationen, die sich für die Rechte von Migranten im Königreich einsetzen, behaupten diese hätten einen gleichberechtigten Zugang zu Impfungen. Es gibt allerdings keine unabhängigen Untersuchungen, und man muss davon ausgehen, dass die Impfquote unter den Arbeitsmigranten deutlich niedriger ist.

Unter den Mitgliedern des Golfkooperationsrats (GCC) hat nur Kuwait offengelegt, wie viele beziehungsweise wenig Arbeitsmigranten geimpft sind.7 Hier werden die eigenen Staatsbürger bei den Impfungen ganz klar bevorzugt und Arbeitsmigranten explizit diskriminiert. Und in Katar konnten sich Arbeitsmigranten ohne Pass oder einen anderen Identitätsnachweis, die häufig von den Arbeitgebern illegalerweise einbehalten werden, nicht zu Impfungen anmelden.

„Wir finden, wir haben auch ein Recht darauf, geimpft zu werden, schließlich sind wir hier, um die Kuwaitis zu bedienen“, sagt Hari Krishna, der in einem Unterstützernetzwerk für nepalesische Arbeitsmigranten aktiv ist. „Wir arbeiten überwiegend in Jobs mit vielen Kontakten, als Kellner, Lieferanten oder Taxifahrer. Eine Impfung böte uns einen gewissen Schutz.“

Seit Jahrzehnten werben die Staaten am Persischen Golf Ar­beits­mi­gran­t:in­nen aus asiatischen, afrikanischen und anderen Ländern des Nahen Ostens an, die dort als Bauarbeiter, Taxifahrer, Dienstmädchen, Köchinnen, Bankangestellte, Verkäufer, Ärzte und Krankenpfleger oder auch Unternehmer ihr Auskommen fanden. Die ausländischen Arbeitskräfte bildeten das Rückgrat dieser auf Rohstoffreichtum beruhenden Ökonomien und hatten entscheidenden Anteil am Aufstieg der Region zu einer weltweit anerkannten Wirtschaftsmacht. Trotzdem gelten sie bis heute als austauschbar.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werfen den Golfstaaten seit Langem vor, sie ließen den „systematischen Missbrauch und die Ausbeutung“ von Arbeitsmigranten zu.8 Die Kurzlebigkeit der Arbeitsmärkte am Golf leistet dem zweifellos Vorschub. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft ist für Arbeitsmigranten quasi unmöglich – nur die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) haben unlängst begonnen, einigen wenigen Auserwählten die Einbürgerung zu ermöglichen. So verbleiben sie stets in einem Status der Abhängigkeit.

In den Tagen nach dem Sturm auf das Impfzentrum in Islamabad versprach die pakistanische Regierung einer großen Zahl von Arbeitern mit saudischem Aufenthaltstitel, dass sie eine Astrazeneca-Impfung bekommen. Und im September erklärte die US-Regierung, sie wolle zusätzlich zu den 9,2 Millionen Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs, die Washington seit Juni nach Pakistan liefern ließ, weitere 4 Millionen Einheiten schicken. Diese Entwicklung steht stellvertretend für einen Politikwechsel in mehreren asiatischen Ländern, die sich mehr und mehr von den chinesischen Impfstoffen abwenden.9 Thailand, Indonesien und Kambodscha boostern mittlerweile mit Vakzinen westlicher Hersteller.

Die pakistanischen Arbeitskräfte, die inzwischen die saudischen Impfvorschriften erfüllen, stehen jedoch vor einem weiteren Problem: Ihre Arbeitgeber haben die ausstehenden Löhne einbehalten und weigern sich, ihnen den Rückflug zu bezahlen, obwohl das gegen saudisches Arbeitsrecht verstößt. „In dem Jahr, in dem ich hier festsaß, war ich gezwungen meine ganzen Ersparnisse aufzubrauchen. Ich muss also dringend nach Saudi-Arabien zurück“, erzählt Ahmad, dessen Arbeitgeber sich weigert, die Flugkosten nach Jizan zu übernehmen.

Kosmetische Reform des Arbeitsrechts

Rund 39 Prozent der indischen Arbeitsmigranten, die zwischen Mai und Dezember 2020 aus dem Nahen Osten nach Hause geschickt wurden, warteten vergeblich auf ihren Lohn.10 Viele Firmen in den Golfstaaten versuchten die Kosten der Coronakrise auf die schutzlosen ausländischen Arbeitnehmer abzuwälzen. Daraufhin hat Saudi-Arabien im März 2021 eine Arbeitsmarktreform beschlossen.

So wurde das Vergabesystem von Arbeitsvisa, das die Arbeitnehmer an einen bestimmten Arbeitgeber fesselte, ein wenig gelockert. Auch Katar hat im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2022 einige arbeitsrechtliche Änderungen vorgenommen. Es gibt jetzt einen monatlichen Mindestlohn von 1000 Katar-Riyal (rund 240 Euro), und Arbeitnehmer können das Land verlassen oder den Job wechseln, ohne vorher die Erlaubnis ihres Arbeitgebers einholen zu müssen. Verstöße durch Arbeitgeber werden jedoch nur selten geahndet, und Arbeitsmigranten aus Katar berichten, dass sie trotzdem immer noch daran gehindert werden, den Arbeitsplatz zu wechseln. Keiner der vier anderen GCC-Mitgliedstaaten hat während der Pandemie grundlegende Arbeitsmarktreformen angekündigt.

Mehrere zehntausend Ar­beits­mi­gran­t:in­nen in der Golfregion haben während der Pandemie ihre Arbeit verloren. Die politischen Maßnahmen zur Unterstützung der Arbeitnehmer, etwa beim Kündigungsschutz, richteten sich fast ausschließlich an die eigenen Bürger der Golfstaaten, die in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten lediglich 12 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Doch den Arbeitsmigranten, die in den Golfstaaten geblieben sind, erging es kaum besser. Im März 2020 verhängte Katar einen strengen Lockdown über das gesamte Industriegebiet von Doha. Dort leben etwa 425 000 Arbeitsmigranten, oft unter erbärmlichen Bedingungen und streng getrennt von der wohlhabenden Bevölkerung des Emirats.

Malcolm Bidali, ein kenianischer Aktivist für Arbeiterrechte, der als Wächter in Katar gearbeitet hat, berichtet, der Lockdown sei offensichtlich dafür benutzt worden, die Arbeiter in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken: „Sie postierten Polizisten an den Eingängen zum Industriegebiet. Niemand konnte rein oder raus.“

Während des Lockdowns wurden Bidali und seine Kollegen in zwei Einzelhäuser außerhalb des Industriegebiets verlegt, wo „54 Leute in einem Haus wohnten, das für eine einzige Familie gebaut worden war“. Im Mai wurde Bidali verhaftet. Er hatte Augenzeugenberichte über die Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten im Land veröffentlicht.

1 Joe McDonald und Huizhong Wu, „Top Chinese official admits vaccines have low effectiveness“, AP, 11. April 2021.

2 Siehe „Saudi Institutional Quarantine Packages 2021 Available for all Travellers“, Musafir Services, 16. Mai 2021.

3 „Migration and Remittances Data“, World Bank, 2019.

4 Siehe „Saudi unemployment rate falls to lowest in a decade“, Arabian Business, 2. Oktober 2021.

5 Siehe Sofia Gomez Tamayo, Johannes Koetti und Nayib Rivera, „The spectacular surge of the Saudi female labor force“, Brookings, 21. April 2021.

6 Reuters Covid-19 Vaccination Tracker, 26. Oktober 2021.

7 Mitte Februar waren 119 000 Kuwaiter und 18 000 Expats geimpft, siehe „Kuwait Puts Citizens Be­fore Expats as Vaccine Push Stirs Anger“, Bloomberg, 18. Februar 2021.

8 „Covid-19 makes Gulf countries’ abuse of migrant workers impossible to ignore“, Amnesty International, 30. April 2020.

9 Siehe „As Chinese vaccines stumble, US finds new opening in Asia“, The New York Times, 20. August 2021.

10 „Survey: 39 % of workers repatriated from West Asia in 2020 faced non-payment of wages“, The In­dian Express, 30. September 2021.

Aus dem Englischen von Robin Cackett

Sebastian Castelier und Quentin Müller sind Journalisten.

© LMd, London/Berlin

Le Monde diplomatique vom 11.11.2021, von Sebastian Castelier und Quentin Müller