08.07.2005

Kriege um Erinnerungen

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Kriege um Erinnerungen

Unmöglich: eine gemeinsame Geschichte des Kosovo von Jean-Arnault Dérens

Wenige Kilometer außerhalb von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, liegen sich zwei berühmte Gedächtnisorte des Balkans gegenüber. Ein Turm erinnert an die Schlacht von Kosovo Polje, die Schlacht auf dem Amselfeld vom 28. Juni 1389. Hier wurde die vereinigte Streitmacht der christlichen Balkanvölker unter der Führung des serbischen Fürsten Lazar Hrebeljanovic von den türkischen Eroberern vernichtend geschlagen. An dieser Gedenkstätte hat der Politiker Slobodan Milosevic am 28. Juni 1989 anlässlich des 600. Jahrestags vor fast einer Million Serben seine berüchtigte Rede gehalten, in der er den serbischen Nationalismus wieder salonfähig machte und damit die Auflösung Jugoslawiens einleitete. Zehn Jahre später, am 28. Juni 1999, hat das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Pavle, an derselben Stelle vor einer Hand voll Gläubigen und unter dem Schutz der Nato-Truppen einen feierlichen Gedenkgottesdienst für Fürst Lazar gehalten.

Nicht weit von dieser Stelle erhebt sich eine Türbe, das Mausoleum des Sultans Murad, des türkischen Gegenspielers von Lazar in der Schlacht von 1389. Dieses schöne Bauwerk ist von einem kleinen Garten umgeben und eine traditionelle Pilgerstätte für die Muslime des Kosovo. Seit Jahrhunderten wird das Amt des Grabwächters, des Turbetars, in derselben Familie türkischer Herkunft vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Der letzte Turbetar ist 2001 gestorben, und seine Witwe hat die Pflege der Grabstätte übernommen. Sie ist Bosniakin, eine slawische Muslimin aus dem Sandschak im Südwesten Serbiens.

Obwohl sie mit einem Kosovaren türkischer Herkunft verheiratet war, hat sie nie die albanische Sprache gelernt, und sie macht auch keinen Hehl aus ihrer feindseligen Haltung gegenüber den „Schiptari“, wie die Serben und die anderen Südslawen die Albaner verächtlich nennen. Im Innern des Mausoleums ist ein Stammbaum der osmanischen Sultane abgebildet. Auf diese Weise wird die Türbe zu einer Art Vermächtnis eines längst untergegangenen Staates: des Osmanischen Reiches.

Auch sechs Jahre nach der Bombardierung durch die Nato im Frühjahr 1999 kommt die Provinz Kosovo nicht zur Ruhe. Einer der Gründe, warum es im Kosovo so schwierig zu sein scheint, die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu entschärfen, ist die gegensätzliche Interpretation seiner Geschichte durch die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Im Kosovo stoßen die sich widersprechenden kollektiven Erinnerungen des Balkans aufeinander. In erster Linie natürlich die serbischen Erinnerungen und die albanischen Erinnerungen, aber auch die Erinnerungen aller Reiche und aller Völker, die im Laufe der Jahrhunderte an diesem Kreuzungspunkt zwischen Ost und West aufeinander stießen.

Auf den ersten Blick scheint eine Annäherung der Standpunkte von Serben und Albanern ausgeschlossen. Die Albaner wollen nur über die Unabhängigkeit des Kosovo reden, eine Perspektive, die für die Serben völlig inakzeptabel ist. Der Stellenwert, den das Kosovo seit über einem Jahrhundert im nationalen Erinnerungskult beider Völker einnimmt, ist in der Tat maßlos überzogen.

Für die Serben ist das Kosovo gewissermaßen die Wiege der serbischen Nation. Das Kosovo bildete das Kernland des serbischen Reiches, das im 12. Jahrhundert von der Fürstendynastie der Nemanjiden errichtet wurde. Der jüngste Sohn von Stephan Nemanja, dem Gründer dieser Dynastie, der unter dem Namen Sava als Mönch auf dem Berg Athos lebte, gilt als Begründer der Autonomie der serbischen Kirche, die 1219 von Byzanz anerkannt wurde.

Das Kosovo war auch der Schwerpunkt des serbisch-griechischen Feudalreiches von Zar Stefan Dusan, das 1346 ausgerufen wurde. Einige der bedeutendsten serbischen Klöster befinden sich im Kosovo, zum Beispiel das Kloster von Visoki Decani oder von Gracanica. Und schließlich war das Kosovo jahrhundertelang das Zentrum der orthodoxen Kirche. Die Stadt Pec beherbergt den Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche. Das Patriarchat von Pec symbolisiert die Autokephalie – die kirchliche Unabhängigkeit – der serbischen Orthodoxie. Obwohl der Patriarch heute in Belgrad residiert, trägt er noch immer den Titel „Patriarch von Pec“, und sein Amt und seine Funktionen werden ihm zumindest symbolisch im Kosovo verliehen.

Das Amselfeld – Pathos und Mythos

Mit der verlorenen Schlacht vom Juni 1389 wird das Kosovo aber auch zum traumatischen Symbol für das politische Verschwinden der serbischen Nation. Die Historiker erinnern daran, dass es nicht die Schlacht auf dem Amselfeld war, die den osmanischen Eroberern den Weg nach Europa frei machte, sondern bereits der türkische Sieg an der Maritza im Jahr 1371. Eine historische Tatsache ist auch, dass das Heer des serbischen Fürsten Lazar Hrebeljanovic nicht nur aus serbischen Truppen bestand, sondern aus den Truppen aller christlichen Völker des Balkans, u. a. des bosnischen Königs Stefan Tvrtko. Das Heer des Fürsten Lazar hatte keinen „nationalen“ serbischen Charakter, ganz abgesehen davon, dass der Begriff „national“ für das Mittelalter ein Anachronismus ist.

Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde über die Jahrhunderte in Legenden und Dichtungen mystisch verklärt und zu einem Nationalmythos des serbischen Volkes. Die Heldentaten der serbischen Heerführer wurden nach dem Vorbild der altfranzösischen Heldenepen des Mittelalters im westlichen Europa in Volksliedern besungen. Politische Bedeutung erhielt der Kosovo-Mythos jedoch erst im 19. Jahrhundert, als der religiöse und volkstümliche Mythos zu einem politischen Anspruch auf das Kosovo hochstilisiert wurde.

Denn seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts versuchte das serbische Großfürstentum, das seit 1830 autonom war, seinen Machtbereich nach Süden auszudehnen. Der Stratege dieser Ausdehnung war Innenminister Ilija Garasanin, der „serbische Bismarck“ mit seinem berühmten geheimen „Entwurf“, dem „Nacertanije“. Nach Norden und Westen war den Serben die Expansion durch das Habsburgerreich verwehrt, und die Gebiete, die noch unter türkischer Kontrolle standen, wurden von immer häufigeren und immer heftigeren Aufständen und nationalen Protesten erschüttert.

Der serbische Nationalismus des neunzehnten Jahrhunderts suchte nach einer Rechtfertigung seiner politischen Forderungen – und fand sie in der literarischen und religiösen Tradition des Kosovo-Mythos. Erst der moderne Nationalismus verwandelt den Mythos in einen territorialen Anspruch. Ein willkommener Anlass für die Bekräftigung dieses Anspruchs auf das Kosovo war der fünfhundertste Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, der 1889 mit großem Pathos begangen wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war es vor allem die serbische Kirche, die an diesem Mythos festhielt, vor allem wegen der Entscheidung, die Fürst Lazar der Legende nach getroffen hatte.1

Bei der Umschreibung und politischen Instrumentalisierung dieses Mythos spielt die orthodoxe Kirche jedoch nur eine relativ unbedeutende Rolle. Nachdem die serbische Kirche seit der Abschaffung des Patriarchats von Pec im Jahre 1766 ihres Zentrums beraubt worden war und sich nach Sremski Karlovci in der Vojvodina (damals unter österreichischer Herrschaft) zurückziehen musste, spielte sie in der Tat bei der Entstehung des modernen serbischen Staates nur eine untergeordnete Rolle.

Das Problem war nur, dass im Kosovo zur gleichen Zeit auch der albanische Nationalismus erwachte. Die Liga von Prizren, die 1878 gegründet wurde, ist der erste Ausdruck der albanischen Nationalbewegung. Die albanische Bevölkerung des Balkans war fest in die Strukturen des Osmanischen Reiches eingebunden und daher nicht unmittelbar vom Entstehen des Nationalismus betroffen, der im ganzen Europa des 19. Jahrhunderts sichtbar wurde.

Während die christlichen Völker sich gegen das Osmanische Reich auflehnen und es in seinen Grundfesten erschüttern, bleiben die Forderungen der albanischen Delegierten in Prizren zweideutig. Sie verstehen sich als loyale Untertanen des Osmanischen Reiches und wollen lediglich eine Wiedervereinigung und eine administrative Autonomie der albanischen Gebiete. In Prizren stellen die Muslime die große Mehrheit, aber auch katholische Delegierte sind anwesend. Dies zeigt, dass die politische Geburt der albanischen Nation keinen konfessionellen Charakter hat.

Das gleichzeitige Erstarken des serbischen und des albanischen Nationalismus in einer Zeit der Krise des Osmanischen Reiches hat die ersten gewalttätigen Zusammenstöße der Bevölkerung im Kosovo zur Folge. Nachdem serbische und albanische Bauern Jahrhunderte lang weitgehend friedlich nebeneinander gelebt hatten, kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu immer häufigeren und heftigeren Gewaltakten, angeheizt durch den höllischen Mechanismus der Rache. Die in Jahrhunderten gewachsene friedliche Koexistenz der Bevölkerungsgruppen, von den subtilen Regeln einer „guten Nachbarschaft“ (komsiluk) geregelt, hielt dem Sturm der Nationenwerdung nicht stand.

Von dem Augenblick an, in dem die beiden Nationalismen Gestalt annahmen und Forderungen erhoben, die im Hinblick auf das Kosovo vollkommen unvereinbar sind, machten beide Seiten sich auch daran, die Geschichte der Region neu zu interpretieren – jeder auf seine Weise und im Widerspruch zu der anderen Seite. In dieser allgemeinen Mobilisierung der Vergangenheit haben die Albaner eindeutig die schlechteren Karten. Die Ortsnamen des Kosovo sind überwiegend slawisch. Die „albanischen“ Ortsnamen, die die Nationalisten als verbindlich einführen wollen, sind häufig neueren Ursprungs und meist albanisierte Formen slawischer Ortsnamen. Da die Albaner diese Tatsache nicht abstreiten können, machen sie die gewalttätige „Kolonialisierung“ durch die Slawen seit dem Mittelalter hierfür verantwortlich und betonen, dass die Serben erst „viel später“ in diese Region gekommen seien.

Die Albaner weisen auch auf die forcierte Politik der Serbisierung des Kosovo in den Dreißiger- und den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts hin, auch wenn es dabei nur um einige zehntausend Menschen geht, die das Kosovo seit 1999 alle wieder verlassen haben. Ein weiteres Argument, das die Albaner in diesem Krieg der Erinnerungen gern anführen, ist der Hinweis auf ihre sehr viel älteren Wurzeln. Sie argumentieren, die Albaner seien Nachkommen der Illyrer und daher die einzige „autochthone Bevölkerung“ in der Region.

Tatsächlich hat der Stamm der Illyrer in der Antike einen großen Teil des westlichen Balkans bevölkert, und zwar so nachhaltig und so erfolgreich, dass die meisten Völker dieser Region ihre Abstammung in mehr oder weniger starkem Maße auf die Illyrer zurückführen können, vor allem in den Küstenregionen Albaniens, Montenegros oder Dalmatiens. Allerdings gibt es nichts, was für eine privilegierte Verbindung zwischen den Illyrern der Antike und den heutigen Albanern sprechen würde. Diese Verbindung, die von nationalistischen Historikern vorgebracht wird, dient in erster Linie dazu, den „Urbevölkerungscharakter“ der Albaner zu betonen, die sich so als „ältestes Volk Europas“ präsentieren und es, was das Alter ihres Volkes betrifft, sogar mit den Griechen aufnehmen können.2 Slawen sind dagegen erst seit dem sechsten und siebten Jahrhundert in dieser Region zu Hause, als sie im Zuge der Völkerwanderung in das Kosovo einwanderten. Dass die serbische Geschichte ihren Ursprung im Kosovo hat, ist aus der Sicht der militanten Albaner lediglich das Ergebnis einer „kolonialen“ Eroberung.3 Und das veranlasst die albanischen Nationalisten zu der Schlussfolgerung, dass die Serben „keinerlei Recht“ am Kosovo haben.

Die Serben haben ähnliche Theorien zur Untermauerung ihres Anspruchs auf das Kosovo entwickelt. So argumentieren sie, dass die zahlenmäßige Überlegenheit der Albaner erst eine Entwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts sei. Dieses Phänomen habe keine natürlichen Ursachen, sondern sei auf eine massive Invasion albanischer Einwanderer aus den Bergregionen Nordalbaniens zurückzuführen. Antikommunistische, nationalistische Kreise in Serbien werfen im Übrigen dem Regime von Marschall Tito vor, diese Invasion nach 1945 gezielt gesteuert zu haben, um Serbien und das serbische Volk zu schwächen, während gleichzeitig restriktive Gesetze eine Rückkehr der serbischen Siedler der Dreißigerjahre ins Kosovo verhindert hätten. Die einzigen Gesetze, die in dieser Zeit verabschiedet wurden, waren jedoch die Gesetze zur Agrarreform. Da sie eine Enteignung von Grundbesitz vorsahen, konnte es durchaus sein, dass sie in einigen Fällen für die serbischen und montenegrinischen Siedler, die sich in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im Kosovo niedergelassen hatten, von Nachteil waren.

Eine weitere „Trumpfkarte“ für die Serben, die die Albaner nicht gelten lassen: die orthodoxen Klöster und Kirchen. Diese heiligen Stätten der orthodoxen Kirche, so argumentieren die albanischen Nationalisten, seien auf Ruinen katholischer Kirchen und Klöster errichtet worden, die natürlich sehr viel älter waren. Sie erinnern daran, dass die Kosovo-Albaner vor ihrem Übertritt zum Islam, der im Übrigen erst sehr spät erfolgt ist – eine generelle Islamisierung des Kosovo erfolgte erst im 17. und 18. Jahrhundert – katholisch gewesen seien. Nachdem die katholische Diözese des Kosovo diese nationalistische These offiziell übernommen hat, sind die Chancen für einen ökumenischen Dialog denkbar gering. Nach Auffassung der serbischen Mönche, die in zu Festungen umgewandelten Klöstern eingepfercht sind und von Nato-Soldaten geschützt werden müssen, verfolgen die albanischen Extremisten eine doppelte Strategie der Leugnung: Während seit Juni 1999 fast 150 Kultstätten der Orthodoxie verwüstet, entweiht oder gar völlig zerstört wurden, werde die orthodoxe Identität der noch intakten Klöster von den Albanern in Frage gestellt.

Islamisierung als Zufall der Geschichte

Diese Polemik macht deutlich, dass der Kampf um die kollektive Erinnerung nach wie vor in vollem Gang ist. 2002 haben die serbischen Abgeordneten beschlossen, das Parlament des Kosovo zu boykottieren. Diesem Eklat vorausgegangen war eine andere Provokation, die von der internationalen Schutztruppe nicht ausreichend geahndet worden war: Die Lobby des Parlamentsgebäudes war mit Fresken ausgeschmückt worden, die ausschließlich Szenen aus der Geschichte des albanischen Volkes zeigen und damit die Geschichte der anderen Völker des Kosovo „vergessen“. Es hat sich also nichts geändert. Nach wie vor beharrt jede der beiden Bevölkerungsgruppen auf dem ausschließlichen Charakter ihrer eigenen Rechte auf das Kosovo. Die Präsenz der „anderen“ kann demnach nur das Ergebnis von Usurpation, Gewalt oder Kolonialisierung sein.

Da die Kosovo-Albaner erst sehr spät zum Islam konvertiert sind, konnten einige der nationalistischen Gruppen, vor allem die um Ibrahim Rugova, den Präsidenten des Kosovo, die Islamisierung des Kosovo als einen „Zufall der Geschichte“ darstellen. Die wahre Religion der Kosovo-Albaner sei der Katholizismus und die katholische Religion sei es, was die Kosovo-Albaner von der albanischen Bevölkerung in Albanien unterscheide.

In dieser ideologischen Konstruktion nimmt die mit fünf Prozent winzige albanisch-katholische Gemeinde des Kosovo eine privilegierte Position ein, ebenso wie die Gemeinden, die der „kryptokatholischen“ Tradition treu geblieben sind. Diese waren während der osmanischen Herrschaft, um Diskriminierungen zu entgehen, zum Schein zum Islam übergetreten, hatten aber ihren katholischen Glauben bewahrt.4

Eine ähnliche Rolle bei der Konstruktion der nationalen Identität fiel in Albanien dem Bektaschi-Orden zu. Dieser Derwischorden war im Süden Albaniens besonders einflussreich. Aus ihm sind zahlreiche Intellektuelle hervorgegangen, die in der Bewegung der „nationalen Wiedergeburt“ (rilindja) Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine führende Rolle spielten.

Die Bektaschi-Gemeinschaft konnte durchaus als eine eigenständige Religionsgemeinschaft angesehen werden. Die heutige Realität ist jedoch bitter. Seit 1999 ist die katholische Gemeinde des Kosovo häufigen Angriffen ausgesetzt, und die Derwische, gleichgültig ob sie dem Bektaschi-Orden angehören oder anderen Bruderschaften, sind bevorzugte Zielscheibe der Intoleranz all derjenigen, die im Kosovo einen strenggläubigen Islam sunnitischer Prägung einführen wollen.

Dubiose dardisch-katholische Identitäten

Zahlreiche Türben wurden zerstört, ohne dass sich irgendjemand darüber empörte. Dabei stellten diese Bauwerke einen bedeutenden Teil des historischen und geistigen Erbes des Kosovo dar. Auch hier finden wir einmal mehr eine doppelte Logik. Ibrahim Rugova versucht, eine dardanische Identität zu begründen (nach dem Namen der römischen Provinz, deren Gebiet zum Teil identisch war mit dem Gebiet des heutigen Kosovo), die ihre Wurzeln in der katholischen Vergangenheit der Region habe. Manche Intellektuelle, vor allem die Gruppe um die Zeitschrift Java, predigen einen militanten Antiislamismus. Diese Intellektuellen wie Java-Herausgeber Migjen Kelmendi versuchen auch, regionale Varianten der albanischen Sprache wieder einzuführen; die albanische Schriftsprache wurde erst sehr spät nach der toskischen Variante standardisiert, einem im Süden Albaniens gesprochenen Dialekt. Diese Bemühungen wollen eine nationale Identität der Kosovaren bestätigen, die anders ist als die der Albaner in Albanien.

Der politische Plan einer Eigenständigkeit des Kosovo wurde in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und gewann vor allem in den Neunzigerjahren an Bedeutung, im Widerstand gegen das serbische Regime von Milosevic. Im Gegensatz zu den Gruppen, die aus der Guerillabewegung der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) hervorgegangen sind, wollten die Intellektuellen, die sich in der Demokratischen Liga des Kosovo zusammengeschlossen haben, kein „Großalbanien“. Ihre Ziele laufen jedoch Gefahr, von den Forderungen nach Zusammenschluss aller albanischen Gebiete auf dem Balkan und vom Vordringen eines normierten sunnitischen Islam, der in der islamischen Gesellschaft des Kosovo immer mehr an Einfluss gewinnt, hinweggefegt zu werden. Gibt es in der Geschichte so etwas wie eine Pendelbewegung? 1913 wurde das Kosovo Teil des serbischen Königreichs. In den Jahren 1918 bis 1941 verfolgte das spätere Königreich Jugoslawien eine entschiedene Politik der Zentralisierung und Serbisierung des Kosovo, zum Nachteil der albanischen Bevölkerung. Diese rächte sich dann im Zweiten Weltkrieg. In diesen Jahren war das Kosovo in mehrere Teile gespalten. Der Norden mit seinen Bergwerken stand unter direkter deutscher Verwaltung, ein anderer Sektor war von Bulgarien besetzt, und der größte Teil des Kosovo war „Großalbanien“ zugeschlagen worden, das unter der Ägide des faschistischen Italien geschaffen worden war. Die multinationale Partisanenarmee von Marschall Tito hat im Kosovo erst sehr spät Fuß fassen können: Während des Zweiten Weltkriegs standen sich im Kosovo in erster Linie die Tschetniks (serbische Ultranationalisten) und die Besatzungstruppen mit ihren albanischen Kollaborateuren gegenüber.5

Die Zeiten der Herrschaft des einen über das andere Volk wechseln sich ab: von 1918 bis 1941 serbische Vorherrschaft, von 1941 bis 1945 albanische Vorherrschaft, anschließend in den ersten Jahren des sozialistischen Jugoslawien erneut die serbische Vorherrschaft. In dieser Zeit verfolgte Innenminister Aleksandar Rankovic, ein Serbe, eine zentralistische Politik, die argwöhnisch alles verfolgte, was auch nur im Entferntesten an ein Wiederaufleben des albanischen Nationalismus erinnern konnte. Der Sturz von Rankovic (1965) und vor allem die neue jugoslawische Verfassung des Jahres 1974 mit ihren weitgehenden Autonomierechten für das Kosovo bedeutete für die albanische Bevölkerung eine kurze Blütezeit. Zwischen 1974 und 1981 erlebte das Kosovo ein „goldenes Zeitalter“ unter der Leitung lokaler kommunistischer Führer, die mehrheitlich Albaner waren.

Dieses labile Gleichgewicht wurde jedoch schon sehr bald wieder durch die Entwicklung nationaler albanischer Forderungen in Frage gestellt. Die Teilnehmer der Massendemonstrationen des Jahres 1981, die von der serbischen Polizei und dem serbischen Militär gewaltsam niedergeschlagen wurden, forderten, die Kosovoprovinz in den Rang eines jugoslawischen Bundesstaates zu erheben. Von diesem Augenblick an entwickelten sich die beiden politischen Richtungen – die Forderung nach der Unabhängigkeit in einer eigenen Republik Kosovo und der Anschluss an Albanien – nebeneinander. Während die Professoren der Universität Pristina, die 1968 gegründet worden war und ein Zentrum der nationalen Wiedergeburt war, die besondere Identität des Kosovo betonten, forderten ihre Studenten in Untergrundbewegungen den Anschluss des Kosovo an ein „Großalbanien“.

Diese Bewegungen wurden vom stalinistischen Albanien des Enver Hodscha aus kontrolliert. Aus diesen Untergrundbewegungen, die im Übrigen unter den Exilalbanern in Westeuropa starken Rückhalt fanden, entstand in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die UCK6 . Seit der Abschaffung der Autonomie im Jahre 1989 regierte das serbische Regime von Slobodan Milosevic die Kosovoprovinz bis 1999 mit eiserner Hand.

Auf der anderen Seite führte die Strategie des „passiven und gewaltfreien Widerstands“ von Ibrahim Rugova und seiner „Demokratischen Liga des Kosovo“ (LDK) zur Entwicklung einer albanischen Gegengesellschaft. Diese war zwar in erster Linie eine Gegenreaktion auf die von Belgrad ausgehende Gewalt. Die Folge war jedoch, dass dadurch jegliche Chance auf eine Versöhnung in der Zukunft zunichte gemacht wurde.

Parallel zu dieser Schaffung einer albanischen Gegengesellschaft wurde im Ausland intensiv Propaganda betrieben. Ziel war es, das Kosovo-Statut als Kolonialstatut darzustellen, bei dem die „eingeborene“ (albanische) Bevölkerung von einer ausländischen Macht unterdrückt wird. Die entsprechenden demografischen Schätzungen wurden ebenfalls mitgeliefert. So wurde immer wieder erklärt, das mehr als 90 Prozent der Einwohner des Kosovo Albaner seien. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 1981 waren es allerdings nur 81 Prozent.

Die serbischen Historiker haben den spezifischen Anspruch ihres Volkes auf die Kosovoprovinz theoretisiert, indem sie die „historischen“ Rechte Serbiens den „demografischen“ Rechten der Albaner, die zumindest seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts die Bevölkerungsmehrheit im Kosovo bildeten, entgegengestellt haben. Sowohl bei den Serben als auch bei den Albanern haben die Schulbücher einen nicht unerheblichen Anteil an der Reproduktion und Verankerung dieser widersprüchlichen Interpretation der Vergangenheit im Bewusstsein der beiden Gemeinschaften.

Einer der Gründe, warum das internationale Protektorat Kosovo gescheitert ist, ist sicherlich, dass versäumt wurde, eine echte Reform der Lehrpläne in den Schulen in Angriff zu nehmen. Ebenso wie es keinerlei Initiative gegeben hat, die beiden Gemeinschaften zu veranlassen, ihre gegensätzlichen Identitätsprojektionen endlich zu überwinden.7

Die Nato verhinderte die „Rücksäuberung“ nicht

Das offizielle Ziel der Bombardierungen durch die Nato im Frühjahr 1999 war, die Übergriffe der serbischen Armee und der serbischen Polizei im Kosovo zu stoppen, die ihrerseits auf die Aktionen der albanischen Guerilla reagierten. Die albanische Bevölkerung im Kosovo hat das Engagement der atlantischen Allianz dessen ungeachtet als Unterstützung für ihre Unabhängigkeitsforderungen angesehen und die Nato-Soldaten als „Befreier“ begrüßt. Die Nato hat nichts unternommen, um die „ethnische Rücksäuberung“ durch die Albaner zu verhindern, deren Opfer die Serben und andere nichtalbanische Gemeinden waren.

Ist das Kosovo inzwischen für die Serben „verloren“? Sollte sich die internationale Gemeinschaft zur Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durchringen, würde dies aller Wahrscheinlichkeit nach den Exodus von rund 100 000 Serben bedeuten, die immer noch in diesem „internationalen Protektorat“ leben. Dadurch, dass die Gemeinschaft sich auf einen nationalen Diskurs eingelassen und ihn damit legitimiert hat, hat sie genau die Werte, die sie selber predigt – nämlich die Werte einer offenen und toleranten Gesellschaft – untergraben. Sie hat damit eine ungeheure Verantwortung auf sich geladen.

Darüber hinaus hat sie sich in eine Sackgasse manövriert – indem sie sich für ein rein albanisches Kosovo einsetzt, ohne die Unabhängigkeit des Kosovo formal anzuerkennen. Dies könnte dazu führen, dass die internationale Gemeinschaft es sich mit allen Bevölkerungsgruppen des Kosovo verdirbt. Und es könnte auch dazu führen, dass es in dieser Region zu einer neuen Spirale der Gewalt kommt.

Fußnoten: 1 Am Vorabend der Schlacht, so erzählt die Legende, habe ein Engel Fürst Lazar Hrebeljanovic gefragt, was ihm wichtiger sei: der Sieg und das Königreich dieser Welt – oder das Königreich im Himmel. Lazar entschied sich für Letzteres, wie sich dies für einen guten Christen gehört. 2 Die Projektion der modernen Nation in die Vergangenheit ist charakteristisch für die Nationalismen. In diesem Zusammenhang kann man zum Beispiel die Überbetonung der „dakisch-römischen“ Wurzeln der Rumänen unter der Herrschaft von Nikolai Ceausescu zitieren. Diese Mechanismen einer A-posteriori-Rechtfertigung wurden unter anderem untersucht von Ernest Gellner, „Nations et nationalisme“, Paris (Payot) 1999. 3 Die albanischen Thesen wurden von Rexhep Qosja zusammengefasst (übersetzt von Christian Gut), „La question albanaise“, Paris (Fayard) 1995. 4 Die Katholiken sind vor allem im Westen des Kosovo vertreten, und zwar in den Regionen Prizren und Djakovica. Die Tradition des Kryptokatholizismus ist vor allem in Vitina oder Gnjilane lebendig. 5 Der Vater von Ibrahim Rugova, ein Mitglied der Nationalen Volksfront, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im Rahmen der politischen Säuberungen von den Kommunisten hingerichtet. 6 Christophe Chiclet, „Die UCK – eine militärische Karriere“, „Le Monde diplomatique“, Mai 1999. 7 Besnik Pula, „Kosovo: l’école et l’expérience de l’Etat“, „Le Courrier des Balkans“, www.balkans.eu .org/article4757.html. Aus dem Französischen von Sonja Schmidt Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur des „Courrier des Balkans“ in Belgrad (www.balkans.eu.org).

Le Monde diplomatique vom 08.07.2005, von von Jean-Arnault Dérens