„Die Stadt wird dir folgen“
Forster, Durrell, Kavafis – Dichter und Schriftsteller und die Sehnsucht nach Alexandria von Amos Elon
Alexandria ist heute eine heruntergekommene mediterrane Stadt mit mehr als fünf Millionen Einwohnern, von denen viele in verdreckten und übervölkerten Elendsvierteln wohnen, doch zugleich ist sie heute wohl die einzige Metropole, deren kulturelle und politische Attraktion nach wie vor nicht auf dem beruht, was sie ist, sondern auf dem, was sie war. Dabei bietet die Stadt keine der üblichen touristischen Sehenswürdigkeiten. Gegründet wurde sie 331 v. Chr. von Alexander dem Großen, der für sein Weltreich eine neue Hauptstadt brauchte. Laut Plutarch soll Homer Alexander im Traume erschienen sein und ihn zu diesem Ort geführt haben, wo sich zwischen dem Meer und dem Mariut-See eine schmale Landzunge aus den vom Nil aus Äthiopien herangeführten Schlammmassen gebildet hatte, die eine Meile breit war. Plutarch zitiert die Zeilen Homers: „Ein Eiland liegt, wo laut die Wogen rauschen / Pharos genannt, an der Küste Ägyptens“, wobei er hinzufügt, dass Homer „über seine anderen hervorragenden Fähigkeiten hinaus auch ein hervorragender Architekt“1 gewesen sei.
Im Jahre 1922 war Alexandria eine Stadt mit etwa 400 000 Einwohnern. Obwohl achtzig Prozent der Einwohner Ägypter waren, die unter elendigen Verhältnissen lebten, galt die Stadt vielen als ebenso „europäisch“ wie Neapel oder Marseilles. Der große Hafen war praktisch in britischer Hand, wobei die Engländer, die ihn betrieben, bei ihrer Arbeit einen Fes trugen. Im selben Jahr, in dem E. M. Forster seinen berühmtesten Roman, „A Passage to India“ (deutsch „Indien“), zu Ende schrieb, veröffentlichte er einen – auf seine Art einzigartigen – „Reiseführer“ zu den unsichtbaren antiken Monumenten Alexandrias. Heute sind diese Reste spurlos verschwunden. Wir wissen nicht einmal genau, wo sie sich befunden haben. Vielleicht sind sie im Meer versunken oder unter den Straßenbahnschienen verschwunden, über die heute kreischend die Tram fährt, oder unter den zerfallenden Villen, die seit langem verlassen und von Brombeerhecken überwuchert sind.
Zweifel an der Schönheit von Kleopatra
Als Forster in Alexandria lebte, war eine seiner schönsten Erfahrungen die Freundschaft mit Konstantinos Kavafis, dem großen griechischen Dichter (1863 bis 1933), der in seinen Gedichten, wie Forster damals schrieb, „die Kultur seiner auserwählten Stadt auf so ergreifende Weise vergegenwärtigt“. Kavafis war ein Dichter der Niederlagen und des Scheiterns. Forster zitiert in seinem Reiseführer das Gedicht „Der Gott verlässt Antonius“, ein wunderbares Gedicht, das von den Ahnungen handelt, die dem römischen Kaiser Markus Antonius seinen Fall ankündigen.
Forsters Buch, das mehrere Neuauflagen erlebt hat und mit vollem Titel „A History and Guide of Alexandria“ heißt, breitet wunderbare Eindrücke und Bilder vor uns aus. Lehnstuhlreisende sind bezaubert vom Stil des Bandes und beeindruckt von seiner Nützlichkeit. Während wir beim Lesen durch die schmutzigen Straßen wandern, wo heute in einem Labyrinth von schäbigen Läden schlecht gemachte Schuhe und billige Kleider dargeboten werden, erscheint in unserer Fantasie eine „Geisterstadt“ und lässt vor unserem inneren Auge die antiken, beidseitig von Marmorsäulen gesäumten Straßen entstehen. An jenem „unscheinbaren Ort“ etwa, an dem heute die Endhaltestelle einer Straßenbahnlinie liegt, erhob sich „einst ein gewaltiger Tempel, das Caesareion“2. Ausdrücklich warnt Forster vor dem Gang durch das Griechisch-Römische Museum mit seiner Fülle von Büsten, Münzen, Terrakotten, Mumien und vorzüglichen Statuetten; denn dort erwarte den Besucher „nichts als eine vage empfundene Erschöpfung“. Der Besucher solle „die Sammlung erst dann besuchen, wenn er bereits etwas über die antike Stadt erfahren und sie sich schon ausgemalt hat. Dann mag er verspüren, dass ein kleines Stück Vergangenheit wieder lebendig geworden ist.“3 Ein solches kleines Stück mag der feine Marmorkopf gewesen sein, der angeblich Kleopatra darstellen sollte, mit Kinn und Lippen, die in unverkennbaren, machtkündenden Schwüngen modelliert sind, während die vorspringende Stirn an der gängigen Ansicht, dass Kleopatra eine große Schönheit gewesen sei, eher Zweifel aufkommen lässt.
Forsters Führer durch dieses unsichtbare Museum beginnt und endet mit dem klassischen Bildungswissen über Cäsar, Markus Antonius und Kleopatra, das Serapium4 , das Mouseion5 und das Caesareion, das Antonius zu Kleopatras Ehren begonnen hatte, dann aber – nach dem Selbstmord der beiden – von Oktavian sich selbst zu Ehren vollendet wurde, das Grab Alexanders (dessen Leichnam angeblich – wie der Lenins – in einem Glassarg aufbewahrt wurde), den berühmten Leuchtturm – eines der sieben Weltwunder der antiken Welt – und natürlich die riesige Bibliothek mit ihren 400 000 Schriftrollen, die das gesamte Wissen und die literarische Hinterlassenschaft der Griechen aufbewahrten und die im hellenistischen Zeitalter die bedeutendsten Dichter und Denker in das lebendige, kosmopolitisch geprägte Alexandria lockten: Griechen und Römer, Phönizier, Ägypter und hellenisierte (d. h. assimilierte) Juden.
In seinem vorzüglichen Buch „Alexandria. City of Memory“, das ganz im Geiste Forsters Erinnerungen und Fantasiertes, Biografisches, Politisches und kulturelle Forschungen zu einer faszinierenden Darstellung verschmilzt, schreibt Michael Haag: „Wäre mehr von der Stadt übrig geblieben, wäre man ihr weniger verfallen. Die Fantasie darf sich zu träumen gestatten, und für einige wird der Traum greifbar und wirklich. Anders als Rom oder Athen, wo so viele Denkmäler der Vergangenheit noch vorhanden sind, existiert das alte Alexandria einzig und allein als Andeutung.“6
Alexandria war das New York der antiken Welt. Laut dem griechischen Geografen Strabo war es die erste Weltstadt: ungeheuer reich, das „größte Warenhaus“ der besiedelten Erde. Die Stadt war (wie Manhattan) von Wasser umgeben, und ihre Straßen waren durchweg als gerade Linien angelegt, rechtwinklig durchkreuzt von prächtigen Alleen. Wie in New York trafen hier die verschiedenen Völker, Sprachen, Kulturen und Religionen aufeinander. Und wie New York war auch Alexandria die Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde der Welt. Hier gab es eine jüdische Diaspora schon lange vor der Zerstörung von Jerusalem im Jahre 70 A. D. Mehr als drei Jahrhunderte lang war Alexandria der gelehrteste Ort auf Erden. Hier fand die Welt des alten Ägypten eine neue Gestalt im rationalen Geiste von Hellas. Jerusalem verschmolz mit Athen.
Archimedes erfand hier die Wasserschraube
Alexandria war nicht immer ein toleranter Ort. Griechen und Juden bekämpften sich oft erbittert. Wie der jüdische Historiker Flavius Josephus (38–100 n. Chr.) berichtet, hielt es der römische Kaiser Claudius einmal für angezeigt, die Juden Alexandrias zu ermahnen, sie sollten die Götter der anderen nicht so verächtlich behandeln. Und der Philosoph Philon von Alexandria führte im hohen Alter eine jüdische Delegation nach Rom, die bei Kaiser Caligula vorstellig wurde und ihn bat, der Verfolgung durch die Griechen ein Ende zu setzen. Caligula freilich wollte von den Juden nur wissen, warum sie ihn nicht als Gott verehrten.
Die Bewohner der Stadt sind außerdem berühmt für ihre technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften. Archimedes etwa erfand die Wasserschraube, die heute noch zur Bewässerung verwandt wird. Euklid wies nach, dass Wissen mittels rationaler Methoden zustande kommt. Hysicles unterteilte den Himmelskreis in 360 Grad. Aristarchos scheint 1 800 Jahre vor Kopernikus die Vorstellung eines heliozentrischen Systems entwickelt zu haben, Eratosthenes berechnete hier den Umfang der Erde.
Überall in der Stadt gab es palastartige Villen, Theater und sportliche Übungsstätten (Gymnasion genannt). Die wichtigste Ost-West-Achse, die Kanopische Straße, die das Sonnentor mit dem Mondtor verband, war mit weißem Marmor ausgelegt, den man wahrscheinlich aus dem italienischen Carrara importiert hatte. Der arabische Eroberer Amr ibn al-As behauptet, er hätte sich seine Augen schützen müssen, als er 614 n. Chr. in die Stadt einzog, um von all dem Marmor nicht geblendet zu werden. Unter den Arabern erlebte Alexandria einen langsamen Niedergang. Als Napoleon 1798 nach Ägypten kam, fand er nur ein kleines Fischerdorf vor.
Die moderne Stadt entstand erst einige Jahre später, als Mehmet Ali (1768 bis 1849), ein Abenteurer albanischer Abstammung, zum Khediven von Ägypten wurde und sich vom osmanischen Sultan in Istanbul lossagte. Er forderte ausländische Unternehmer auf, sich in Alexandria niederzulassen, und bot ihnen Grundstücke für Häuser und Parks, für Gotteshäuser und Schulen an. Griechen und Italiener, Franzosen und Engländer, einige wenige US-Amerikaner und viele levantinische Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten folgten seinem Aufruf. Als der englische Schriftsteller William Makepeace Thackeray 1844 die Stadt besuchte, wollte er sich eigentlich den Mysterien des Orients hingeben, doch er fand eine Stadt vor, die ihn eher an Portsmouth erinnerte.
Etliche der neuen Siedler brachten es zu großem Reichtum als Baumwollkönige, Banker, Börsenmakler, Reeder und Industrielle. Einige von ihnen erhielten Adelstitel von Napoleon III. oder dem österreichisch-ungarischen Kaiser. Ihre Ingenieure und Architekten entwarfen und bauten die großen Prachtstraßen. Sie legten ein neues, modernes Stadtzentrum an, mit prächtigen Parks (die mittlerweile fast ausnahmslos verschwunden sind) und einem Geschäftsviertel, das heute eine heruntergekommene und zwielichtige Gegend ist. Eine zehn Meilen lange Strandpromenade erstreckte sich von Fort Kait Bey (der früheren Pharos-Insel, wo der berühmte Leuchtturm stand) bis zur Bucht von Abukir, wo Admiral Nelson 1798 die französische Kriegsflotte vernichtete. Die neue rue Rosette folgte dem Verlauf der antiken Kanopischen Straße. Sie war eine der Hauptverkehrsstraßen der Stadt; später wurde sie in rue Fuad Premier und unter Nasser dann schließlich in Sharia Horreya (Straße der Unabhängigkeit) umbenannt.
Unter den ausländischen Bürgern gab es eine Reihe prominenter und exzentrischer Persönlichkeiten. Zum Beispiel die korpulente Amerikanerin Ada Borchgrevink, Tochter eines Maismillionärs aus dem Mittleren Westen, die als Opernsängerin ausgebildet war. Sie änderte ihren Vornamen von Ada in Aida und ließ sich in einer eleganten offenen Kutsche durch die Stadt fahren, wobei sie Wagner-Arien sang. Ein anderer Exzentriker war Hauptmann Jorge y Nelken Waldberg, ein Rumäne mit schwedischem Namen und einem Offizierspatent der argentinischen Armee, der US-amerikanischer Staatsbürger war, eine französischsprachige Zeitung herausgab und als Mann jüdischer Abstammung ein Ehrenamt in der griechisch-orthodoxen Gemeinde bekleidete.
Die Griechen unterstützen die Neubegründung von Byzanz
Wie heute in den USA neigten auch damals die Ausländerkreise dazu, die stark nationalistischen Strömungen in ihren Herkunftsländern zu fördern. Die Griechen von Alexandria zum Beispiel unterstützten enthusiastisch den Athener Ministerpräsidenten Elephterios Venizelos und die von ihm verfochtene Megali Idea (Große Idee), die auf eine Neubegründung des Byzantinischen Reiches zielte, wobei Griechenland seine Grenzen bis weit nach Anatolien hinein vorschieben sollte. Ein griechischer Baumwollkönig in Alexandria schenkte seinem alten Land zu diesem Zweck ein voll ausgerüstetes Schlachtschiff. Mit finanzieller Unterstützung aus Alexandria besetzten griechische Truppen 1920 den Westen Kleinasiens und begannen einen verhängnisvollen militärischen Eroberungsfeldzug, der bis 1922 dauerte. Die griechische Niederlage hatte den Vertrag von Lausanne (1923) zum Ergebnis, der die Vertreibung von etwa 1, 5 Millionen Griechen aus Anatolien und über 600 000 Türken aus Griechenland besiegelte.
Entsprechend unterstützten die Italiener von Alexandria die Faschisten in Italien, bejubelten die Annexion von Äthiopien und steckten ihre Söhne und Töchter in die Schwarzhemden der Balilla-Jugend. Der Deutsche Rudolf Heß, der spätere „Stellvertreter des Führers“, ist ebenfalls in Alexandria geboren und aufgewachsen. Von der Anklagebank des Nürnberger Kriegsverbrechertribunal schrieb er 1945 an seine Mutter in Alexandria: „Was für ein Paradies war doch unser Garten am Rande der Wüste!“7
Obwohl es unter den Juden Alexandrias nur wenige Zionisten gab, waren tausende von ihnen auf den Straßen, um den zionistischen Führer Chaim Weizmann zu begrüßen, wenn dieser, auf dem Weg von und nach Palästina, in Ägypten in der eleganten Villa des kakanischen Barons Felix de Menasce Station machte. Der Sohn des Barons, ebenfalls mit dem Namen Felix, finanzierte den Transport illegaler jüdischer Immigranten nach Palästina.
Neben den reichen Europäern gab es in der Stadt natürlich weit mehr Immigranten der Mittel- und der unteren Mittelschichten: Juweliere und Uhrmacher, Schneider, Barbiere, Steinmetzen (zumeist Italiener), Tischler, Kellner, Krämer, Mechaniker, Fleischer, Bäcker und Konditoren, aber auch Barmänner und Bordellbesitzer – wobei einige Bordelle in Alexandria zu den exotischsten in der ganzen Mittelmeerregion gehörten. Ende des 19. Jahrhunderts erschien Alexandria als die Stadt, in der die wildesten viktorianische Sexualfantasien zur Realität wurden, ein androgyner Garten Eden, wo nach den Schilderungen des britischen Reiseschriftstellers Lawrence Durrell (1912–1990) die sexuellen Gelüste jedes erdenklichen Geschlechtes auf bemerkenswert vielfältige Weise bedient wurde.
Gegenüber den etwa 500 000 einheimischen Muslimen machten die anderen eingewanderten Gruppen allerdings zu keiner Zeit mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus, obwohl die Griechen rund 30 000 Köpfe zählten, die Italiener 20 000 und die Juden 25 000, die überwiegend aus Russland, Nordafrika und der Levante stammten. Die meisten von ihnen waren rechtlich gesehen Staatenlose, was aber in den entspannteren Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg oft nicht mal ein Handikap war.
Unter den verschiedenen Ausländergruppen herrschte eine relative gegenseitige Toleranz, denn sie alle konnten ja auf die Araber hinunterblicken. So beklagte etwa der englische Kolonialbeamte Ronald Storrs (der später britischer Militärgouverneur von Jerusalem wurde), dass in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die Ehefrauen britischer Beamter die Zähne zusammenbeißen mussten, um nachmittags ein oder zwei Stunden der Gesellschaft einheimischer Ladys zu opfern, die häufig aus besseren Familien stammten, gebildeter, belesener, modischer gekleidet und schöner waren als sie selbst.
Viele der in Ägypten geborenen Ausländer – ob Griechen, Italiener, Russen oder Rumänen – gingen zum Studium ins Ausland. Sie wurden zu echten Kosmopoliten, viele beherrschten fließend vier oder fünf Sprachen. Nur wenige sprachen Arabisch, und wenn, dann vornehmlich im Imperativ. Wenn sie sich überhaupt für die örtlichen politischen Verhältnisse interessierten – in Ägypten begann sich damals der Nationalismus zu regen –, hielten sie es mit Politikern wie Saad Zaglul und Nahas Pascha, deren Vision ein säkulares, multikulturelles Ägypten war. Der prominente Maler Mohammed Nagui, der an einer Akademie in Italien studiert hatte, war ein begeisterter Anhänger von Zaglul.
Naguis berühmtestes Gemälde (heute verschollen) feierte „Die Schule von Alexandria“ und war deutlich von dem entsprechenden Raffael-Fresko im Vatikan inspiriert. Die Hauptfiguren auf Maguis Gemälde waren Alexander der Große, die heilige Katharina, Archimedes und der arabische Philosoph Averroes von Cordoba, flankiert von einigen zeitgenössischen Bewohnern Alexandrias ausländischer Abkunft, wie etwa Taha Hussein und Konstantinos Kavafis.
Damals unterstützten viele ägyptische Nationalisten die Idee einer „mediterranen Kultur“, im Gegensatz etwa zu einer arabischen oder muslimischen. Nasser war einer der ersten Politiker, die von „Arabismus“ sprachen. Sein Nachfolger Anwar al-Sadat betonte häufig, er sei der islamische Präsident eines islamischen Volkes in einem islamischen Staat. Mit seinem multikulturellen Bekenntnis gewann Zaglul die natürliche Unterstützung der ägyptischen Kopten und Juden, beide Gruppen spielten innerhalb seiner Partei entsprechend eine herausragende Rolle.
Viele ausländische Bewohner Alexandrias neigten dazu, die demografischen Realitäten Ägyptens zu übersehen, und hofften ständig, die Stadt werde auch weiterhin eine Art Corpus separatum bleiben. Diese Vorstellung wurde erstmals von Evaristo Breccia artikuliert, dem in Italien geborenen Gründer und langjährigen Direktor des Griechisch-Römischen Museums, der die Stadt „Alexandrea ad Aegyptum“, also Alexandria bei – und nicht in – Ägypten nannte. Die Stadt war ein kleines Universum für sich, und die Einwanderung aus Europa, dem Irak, Syrien und Palästina ging bis zum Zweiten Weltkrieg weiter.
Ihr klägliches Ende kam, als englische, französische und israelische Truppen im Suezkrieg von 1956 ihren gemeinsamen Angriff auf Ägypten begannen. Doch es wäre ohnedies zu Ende gewesen. Nach dem Suezkrieg wurden fast alle ausländischen Bewohner ausgewiesen, selbst wenn sie schon in der vierten oder fünften Generation in Alexandria gelebt hatten. Sie wurden entschädigungslos enteignet. Die Kopten sind bis heute Bürger zweiter Klasse.
Lauter als Ägypter verkleidete Europäer
Auch Michael Haag schenkt der arabischen Bevölkerung von Alexandria wenig Aufmerksamkeit, obwohl sie stets eine überwältigende Mehrheit war. Er schreibt mehr, als wir womöglich wissen wollen, über die besseren Kreise der Ausländer und deren Vergnügungen. Auch der unglückliche, noch junge und schlanke König Faruk taucht bei ihm auf, der selbst ein als Ägypter verkleideter Europäer war. Diese Kreise kommen dem Autor als Hintergrund für seine drei Hauptzeugen gelegen, nämlich die drei Schriftsteller, die mit der Stadt verbunden sind: den Poeten Konstantinos Kavafis, den Romancier Edward Morgan Forster und den Poeten und Romancier Lawrence Durrell. Alle drei, Kavafis, Forster und Durrell, waren Teil dieser privilegierten Gesellschaft.
Über die verschiedenen ausländischen Communities von Alexandria gibt es bereits ziemlich viel Literatur, und gerade in den letzten Jahren sind viele persönliche Memoiren erschienen.8 Haag hat wichtige neue Quellen ausgewertet, unter anderem die unveröffentlichten Aufzeichnungen von Jasper Yeats Brinton, einem faszinierenden Juristen aus Philadelphia. Brinton diente viele Jahre als Richter und Vorsitzender der „Gemischten Gerichtskammer von Alexandria“, die zu osmanischer Zeit aufgrund der so genannten Kapitulationen, also der von den westlichen Nationen durchgesetzten Privilegien, statt der einheimischen Gerichte für ausländische Staatsbürger zuständig waren. Ausländer und ihre einheimischen Nachkommen unterlagen also der Gerichtsbarkeit dieser gemischten Gerichte, die mit Europäern und ein paar verwestlichten orientalischen Herren (im Kolonialjargon WOGs genannt: Westernized Oriental Gentlemen) besetzt waren.
Nach dem Ersten Weltkrieg erschienen diese gemischten Gerichte selbst den Briten bedenklich, weshalb sie vor der Versailler Friedenskonferenz erklärten, dass diese moralisch kaum mehr zu rechtfertigen seien. Zudem befürchteten sie, dass europäische Ausländer, wenn sie von ausländischen Richtern geschützt würden, den Abzug der Engländer aus Ägypten befürworten könnten. Paradoxerweise jedoch zeigten die ägyptischen Nationalisten keine große Lust, die gemischten Gerichte aufzugeben. Vielleicht fürchteten sie, nach deren Abschaffung würden die Briten nur noch mehr Einfluss auf das gesamte Rechtssystem gewinnen.
Von den drei literarischen Zeugen, die Haag in seinem Buch vorstellt, war nur Kavafis in Alexandria geboren. Und in dieser seiner Stadt ist er auch im Alter von 70 Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben. Die triste Ereignislosigkeit seines Lebens in einer kleinen, über einem Bordell gelegenen Wohnung hätte, wie es Joseph Brodsky einmal formulierte, „den strengsten aller Vertreter der New-Criticism-Schule glücklich gemacht“9 . Kavafis war der große Dichter der modernen Stadt, so wie Kallimachos10 es für die antike Stadt gewesen war. Laut seinem Biografen Robert Liddell hat Kavafis nicht Arabisch gesprochen. Selbst Griechisch sprach dieser allergrößte griechische Dichter mit einem leichten englischen Akzent. Für das vorhellenistische Ägypten hatte er nicht viel übrig: „Ich verstehe nichts von diesen großen unbeweglichen Dingen.“11 Dem griechischen Dichter Giorgos Seferis sagte er einmal, er sei kein Grieche, sondern ein „Hellene“. Seferis war darüber so beglückt, dass er ihn umarmte.12
In dem Gedicht „Die Stadt“ schrieb Kavafis die folgenden viel zitierten Zeilen:
Du sagtest: „Ich werde in ein anderes Land fahren,
An ein anderes Meer. Ich werde eine bessere Stadt finden
Als diese, wo jede meiner Anstrengun- gen zum Scheitern verurteilt
Ist, wo mein Herz – wie eine Leiche – begraben liegt.
… Du wirst keine neuen Länder entdecken, keine anderen Meere.
Die Stadt wird dir folgen. Du wirst durch dieselben Straßen
Streifen, in denselben Vierteln alt werden …*
Das traf gewiss auch auf Forster und Durrell zu. Die Stadt folgte ihnen noch auf Jahre hinaus, nachdem sie ihr längst den Rücken gekehrt hatten; Alexandria hielt sie in seinem Bann. E. M. Forster war 1915 als freiwilliger Rotkreuzhelfer nach Alexandria gekommen, um dem Militärdienst zu entgehen. Als Verfasser der Romane „Wiedersehen in Howards End“ und „Zimmer mit Aussicht“ war er schon damals berühmt. Wie viele seiner Freunde aus dem Bloomsbury-Kreis13 war er ein entschiedener Gegner des Ersten Weltkriegs. Mit diesem kündete sich, wie er zu Recht befürchtete, der Zusammenbruch der Zivilisation an.
Forster hatte gerade seinen Roman „Maurice“ abgeschlossen, der wegen seiner unverhüllten Darstellung homosexueller Liebe nicht publiziert werden konnte, jedenfalls nicht, wie Forster selbst es formulierte, „vor meinem oder dem Tode Englands“.14 In Alexandria schrieb er Briefe für verwundete Soldaten und las ihnen aus Büchern vor. In Alexandria traf Forster auch drei Mitstudenten vom King’s College in Cambridge, an dem er studiert hatte. Robin Furness war Chef der Militärbehörde, die für die Zensur der Presse und des Briefverkehrs zuständig war (dieses Amt war in der Hafenstadt angesiedelt, weil man hier die Kommunikation zwischen Ägypten und dem Ausland besser überwachen konnte); George Valassopoulos war einer der Ersten, die Kavafis ins Englische übersetzt hatte; der Palästinenser George Antonius publizierte später ein wichtiges und einflussreiches Buch über „Das Arabische Erwachen“. Alle drei waren zugleich Freunde und Bewunderer von Kavafis und kamen oft im Haus des Dichters zusammen, um sich über Poesie und das alte Alexandria zu unterhalten.
Es mag einer dieser drei Freunde gewesen sein, der Forster zu einem Besuch bei Kavafis in dessen Wohnung in der rue Lesseps mitnahm. Unten im Haus war ein Bordell, gegenüber lag ein Krankenhaus, eine Ecke weiter stand eine griechisch-orthodoxe Kirche. „Wo könnte ich besser leben“ meinte Kavafis, „das Bordell unter mir ist für die fleischlichen Begierden zuständig. Dann gibt es eine Kirche, die einem die Sünden vergibt. Und hier ist das Krankenhaus, wo ich sterben werde.“ Es kann aber auch so gewesen sein, dass Forster von einem der Freunde mit Kavafis auf der Straße bekannt gemacht wurde, vielleicht auf der rue Missala, die zu Kavafis’ Billardsalon führte. Eine solche Begegnung hat Forster in einem anderen Alexandria-Buch15 beschrieben: „Die wunderbare Erfahrung, den eigenen Namen ausgerufen zu hören, in bestimmter und doch meditativer Tonlage, die nicht so sehr eine Antwort zu erwarten scheint, die vielmehr der Individualität als solcher Respekt erweisen will. Die Angesprochenen drehen sich um und sehen einen griechischen Gentleman mit einem Strohhut, der völlig bewegungslos dasteht, in einem spitzen Winkel zum Universum.“
Forster hat Kavafis’ poetisches Werk im Westen bekannt gemacht, wo es in T. S. Eliot und vielen anderen große Bewunderer fand. Kavafis war ein aktiver Homosexueller. Wenn er sich einsam fühlte, suchte er sich junge Männer von der Straße. Auf der linken Straßenseite der nahe gelegenen rue de Seurs paradierten jede Nacht weibliche, auf der rechten Seite männliche Prostitutierte. Kavafis ließ seine homoerotischen Gedichte frei in seinem Freundeskreis zirkulieren, was in Alexandria keine Probleme machte. Ganz anders war es damals noch in Athen – in London wurde Kavafis denn auch früher als großer Poet anerkannt als in Athen. Dort musste ein Vortrag über seine Gedichte, den einer seiner Freunde halten wollte, noch 1910 wegen des schlechten Rufs von Kavafis abgesagt werden.
31 Jahre später wurde Lawrence Durrell, ein kaum bekannter Dichter, der eng mit Henry Miller befreundet war, für die Dauer des Zweiten Weltkriegs nach Alexandria verschlagen. Kavafis war bereits tot. Durrell hatte einige Jahre in Korfu und Athen gelebt und wurde nach dem Einmarsch der Deutschen in Griechenland im April 1944 im letzten Moment auf einem britischen Kriegsschiff nach Ägypten evakuiert. Mit Forsters Reiseführer in der Tasche, der für ihn „ein kleines Kunstwerk“ war, durchstreifte er Alexandria und freundete sich mit Kavafis’ früheren Gefährten an.
Durrells Tätigkeit als Leiter des britischen Informationsbüros kann keine besonders anspruchsvolle oder zeitraubende Arbeit gewesen sein. Jedenfalls blieb ihm viel Zeit, das Leben im Kreise der europäischen Schickeria, mit Diplomaten, Baumwollkönigen und Bankiers zu genießen. Von Letzteren ließ er sich auf Jagdausflüge einladen, die er später in seinem Alexandria-Quartett beschrieben hat.
Der luziferische Charme der Stadt
Bei Kriegsende ging Durrell aus Alexandria weg und übernahm einen neuen Posten in der britischen Militärverwaltung, zunächst auf dem Dodekanes, mit Sitz in Rhodos, und anschließend in der Kronkolonie Zypern.16 Begleitet wurde er von Eve Cohen, einer jungen, hochneurotischen Frau aus Alexandria (die „Justine“ seines „Alexandria Quartet“). Sie wurde seine zweite Ehefrau, die ihn später, wie schon die erste, sitzen ließ. Ihr widmete er den ersten Band des Quartetts mit den Worten: „Für Eve diese Erinnerungen an ihre Heimatstadt“. Auch seine dritte Frau, Claude, stammte aus einer jüdischen Familie Alexandrias.
Der luziferische Charme Alexandrias nahm Durrells Geist noch auf Jahre hinaus gefangen. Ich erinnere mich an einige lange Abende mit ihm in Zypern, an denen er über fast nichts anderes sprach. 1954 wurde er Pressesprecher der britischen Kolonialregierung in Nikosia. Doch er machte sich kaum Illusionen über die Fähigkeit der Briten, die Insel als Kolonie zu behalten. Ende 1956 quittierte er seinen Posten. Sein Buch „Bitter Lemons“, das seine Erfahrungen in Zypern verarbeitet, war erhellend, bewegend und schön geschrieben, in jenem reichen, poetischen Stil, der ihm eigentümlich war – der ab und zu aber auch von Parodisten aufs Korn genommen wurde.
Als „Justine“ herauskam, wurde Durrell fast über Nacht zu einem der anerkanntesten Romanautoren in Europa und in den USA. Und dieser Ruf wurde noch gefestigt, als die weiteren Bände „Balthasar“, „Mountalive“ und „Clea“ erschienen, die von denselben Begebenheiten, aber aus jeweils anderem Blickwinkel handeln und mit einer verblüffenden Klimax enden. Im Zentrum des Roman-Quartetts steht durchgehend das moderne Alexandria. Thematisch kreiste es um die Liebe in modernen Zeiten, und die Charaktere waren so exotisch, wie sie es öfter auch in dem realen Leben waren, das Durrell damals in Alexandria führte. Wohl wurde Durrell einmal von T. S. Eliot als der neue englische Autor hervorgehoben, der ihn für die Zukunft der englischen Prosa hoffen lasse, doch sein Werk hat die Zeit nicht so gut überstanden wie das von Forster und das von Kavafis. Sein überladener, gleichwohl häufig poetischer Prosastil wurde viel kritisiert, doch die Kontroverse ist noch nicht ausgestanden. Auch daran zeigt sich, dass hier etwas in der Vergangenheit angelegt ist, was jeden Augenblick wiederkehrt: „… nicht noch einmal, sondern noch immer Alexandria“, wie es der Freund von Kavafis ausgedrückt hatte.
* Kavafis’ Gedicht „Die Stadt“ stammt aus der Übersetzung von Robert Elsie, in: ders. (Hg.), „Konstantinos Kavafis. Das Gesamtwerk (Griechische und Deutsch)“, Zürich (Ammann) 1997, S. 167 bzw. S. 87. „Die Stadt“ hat Lawrence Durrell in „Justine“ extrem „frei“ ins Englische übersetzt. Das Ende der hier zitierten ersten Strophe etwa lautet bei Durrell: „To a city lovelier far than this / Could ever have been or hoped to be“ (A. d. Ü.).