08.07.2005

Assad junior sitzt in der Falle

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Assad junior sitzt in der Falle

In Syrien lassen demokratische Veränderungen auf sich warten von Samir Aita

So offen und mutig wie derzeit wurde in Syrien seit langem nicht mehr politisch debattiert. Kein Thema ist tabu. Diskutiert wird natürlich der Einmarsch der USA in den Irak, der dortige Widerstand und die Demokratie, die den Irakern nach dem Sturz Saddam Husseins versprochen wurde – und die nun irgendwo im ethnischen und religiösen Durcheinander auf der Strecke geblieben ist. In der syrischen Bevölkerung werden Forderungen nach mehr politischen Rechten laut, nach Bürgerrechten und echten Reformen, abgelehnt wird die von den Amerikanern vertretene „konstruktive Instabilität“. Ohne Staat könne es keine Demokratie geben, aber es müsse ein Staat sein, der weder korrupten Machthabern ausgeliefert noch auf den Schutz amerikanischer Panzer angewiesen ist. Die Stimmung im Land ist gedrückt, vor allem nach dem Bruch mit dem früheren Verbündeten Frankreich und dem erzwungenen Abzug der syrischen Truppen aus dem Libanon.

Natürlich erinnern sich die Syrer nun an die Gründung der Nation, an den demokratischen Kompromiss, durch den der Staat entstehen konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg formierten sich in der Region konfessionell bestimmte Verwaltungseinheiten: die Staaten von Damaskus und Aleppo sowie der Alawiten- und der Drusenstaat. Um diese von Frankreich gewollte Zersplitterung zu überwinden, einigten sich die politischen Führungsschichten auf einen Zusammenschluss (1936 bis 1942). Sie akzeptierten dabei die Schaffung eines unabhängigen Libanon. Ihm wurden auch vier mehrheitlich von Muslimen bewohnte Verwaltungsbezirke zugeschlagen, die ehemals zu Damaskus gehörten, eine Maßnahme, die bei der dortigen Bevölkerung auf Widerstand stieß, aber verhindernsollte, dass der Libanon zu einem mehrheitlich maronitisch wurde. Die politischen Parteien, die entstanden, waren durchweg populistisch, jedoch ohne religiöse oder regionale Ideologie. Die Baath-Partei war eine davon.

In den sechs Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit (1946) wurden die bürgerlichen Freiheiten in Syrien immer nur kurzfristig gewahrt. Wiederholt machten Staatsstreiche (so 1949 der Putsch Adib Schischaklis) diese Errungenschaften zunichte. Sie waren eine Folge der Rivalitäten westlicher Mächte in der Region. Dennoch konnte sich die noch ungefestigte demokratische Tradition erstaunlich gut behaupten: Auf der Konferenz von Homs einigten sich 1953 diverse politische Bewegungen und Teile des Militärs darauf, den Diktator Schischakli in den Ruhestand zu schicken und freie Wahlen abzuhalten – zu jener Zeit beispiellos in der arabischen Welt. Die Muslimbrüder wie die Kommunisten gewannen dabei je einen Parlamentssitz. Doch die junge Demokratie erlag, mitten im Kalten Krieg, den antikolonialen und sozialen Kampfparolen, der Rivalität der Großmächte und der Politisierung des Militärs.

Die autoritäre Stabilität hat einen hohen Preis

Trotz aller Turbulenzen entstanden in dieser Periode die wichtigsten staatlichen Institutionen des Landes (so richtete Syrien 1953, als erstes arabisches Land, eine Zentralbank ein); zugleich wies die Wirtschaft die höchsten Wachstumsraten auf und die Demokratisierung des Bildungs- und Gesundheitswesens machte Fortschritte.

Heute wissen die meisten Syrer, vor allem die jungen Leute, nichts über diese Zeit. Sie sind unter der autoritären und stabilen Herrschaft aufgewachsen, die Hafis al-Assad nach seiner so genannten Korrekturbewegung (1970) aufgebaut hatte. In Assads neuem System perfektionierte ein Clan innerhalb der alawitischen Gemeinschaft die Kontrolle aller Machtbereiche.1

Syriens Bevölkerung zahlte für diese Stabilität einen hohen Preis. Bis zum Jom-Kippur-Krieg von 1973 (im arabischen Lager „Ramadankrieg“ genannt) gab es noch politischen Spielraum für das städtische Bürgertum und die in der Progressiven Nationalen Front neu formierten politischen Parteien. In jenem Krieg gegen Israel beschwor Hafis al-Assad mit Erfolg die nationale Einheit. Doch die Stimmung schlug um, nachdem Syrien 1976 im Libanon interveniert hatte – gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und deren Verbündete auf der Linken. Nun ging das Regime mit harter Hand gegen alle Organisationen der Zivilgesellschaft vor, die eine Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustands2 forderten: Berufsverbände (z. B. der Juristen, der Ingenieure) und die nicht in der Nationalen Front vereinten Parteien. Viele Aktivisten handelten sich jahrzehntelange Gefängnishaft ein.

Die Situation verschärfte sich durch eine Reihe von Anschlägen, die von radikalen Islamisten verübt wurden. Sie erhielten logistische Unterstützung aus dem Nachbarland Irak. Dort herrschte, geführt von Saddam Hussein, ein anderes, gegnerisches Baath-Regime. Syrien erlebte eine Art Bürgerkrieg, der in dem Massaker von Palmyra (1980) und Hama (1982) gipfelte. Eine Streikbewegung des sunnitischen Bürgertums endete durch einen Kompromiss mit dem Regime.

Danach herrschte Friedhofsruhe in Syrien. Damaskus pflegte seine guten Beziehungen zur UdSSR und unterstützte die iranische Revolution von 1979. Obwohl die arabischen Staaten sich mit Syrien darüber einig waren, Ägypten wegen seines Separatfriedens mit Israel (1979 in Camp David) zu verurteilen, blieb Damaskus in der Region politisch isoliert. Aber das Regime überstand auch die erneute Niederlage beim israelischen Einmarsch in den Libanon im Juni 1982 und behielt seine bestimmende Rolle in der libanesischen Politik.

1986 deutete sich erstmals eine Kurskorrektur an. Die Machthaber revidierten die Landreform und schufen durch eine „Liberalisierung“ des Außenhandels mehr Spielraum für private Unternehmen. Das Regime stellte so sicher, dass Syrien weiter das einzige Land der Region ohne Nettoimport von landwirtschaftlichen Produkten blieb. Es erneuerte damit den Pakt mit der nationalen „Bourgeoisie“. Zudem legte Damaskus ein Strukturanpassungsprogramm nach dem Vorbild der Maßnahmen des Weltwährungsfonds auf – lehnte aber jede „Hilfe“ von seiten der internationalen Finanzinstitutionen ab. Mit einem Mal schien der „Sozialismus“ in Syrien auf zwei Phänomene beschränkt: die Einheitspartei und die staatliche Bürokratie. Der zweite Schritt auf diesem Weg kam 1990, als sich Damaskus nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait der Koalition gegen Saddam Hussein anschloss, auch wenn dieser Kurswechsel in Syrien unpopulär war.

1989 beendeten die Abkommen von Taif den libanesischen Bürgerkrieg und bestätigten, mit internationaler Duldung, die Vormachtstellung Syriens im Nachbarland. Mit Israel begannen Verhandlungen über die Rückgabe der Golanhöhen. Und die ersten wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen sowie die Ölexporte ließen die Wachstumsraten steigen – eine kurze Schönwetterperiode.

Der syrische Geheimdienst und Teile der Nomenklatura profitierten von Vetternwirtschaft und fragwürdigen Geschäftspraktiken, die die im Libanon von Rafik Hariri geleiteten Wiederaufbauprogramme kennzeichneten. Dann geriet der Friedensprozess mit Israel in eine Sackgasse: Israels Ministerpräsident Ehud Barak verweigerte dem Abkommen, das Hafis al-Assad schon als sein politisches Vermächtnis sah, seine Zustimmung. Im März 2000 scheiterte auch der letzte Vermittlungsversuch von US-Präsident Bill Clinton in Genf.

Hafis al-Assad starb kurz darauf, am 10. Juni 2000. Um seinen Sohn zum Präsidenten machen zu können, musste in aller Eile die Verfassung geändert werden – Baschar al-Assad hatte nicht das vorgeschriebene Mindestalter. Die Antrittsrede des jungen Präsidenten weckte dann in der Bevölkerung Syriens und Libanons Hoffnungen, dass die bleierne Zeit nun endlich vorbei sei. Man begann, von neuen Freiheiten zu träumen, von Wirtschaftsreformen, die Beschäftigung und Wohlstand bringen würden, von einer neuen Rolle Syriens auf der internationalen Bühne. Heute, fünf Jahre später, sind diese Hoffnungen verflogen.

Der junge Präsident hatte allerdings keine leichte Aufgabe: Er sah sich konfrontiert mit der Schockwelle des 11. September und dem geplanten Rachefeldzug der USA gegen den Irak. Syrien war von den Problemen der Nachbarländer mit radikalen islamistischen Bewegungen verschont geblieben. Der Untergang eines anderen laizistischen arabischen Staates konnte Syrien kaum gefallen, auch wenn man in Damaskus dem Rivalen Saddam Hussein nicht nachtrauerte. Syrien hatte wie die übrigen Anrainerstaaten des Irak die internationalen Wirtschaftssanktionen gegen den Irak unterlaufen und vom Embargo profitiert. Im UN-Sicherheitsrat verweigerte Damaskus die Billigung der Angriffspläne der USA und schloss sich der Haltung Frankreichs, Deutschlands und Belgiens an. Und ähnlich wie Deutschland und Frankreich hoffte Syrien, nach dem Krieg in Bagdad eine stabilisierende Rolle spielen zu können. Damaskus verfügte immer noch über Kontakte zu irakischen Baathisten und zu religiösen und tribalen Gruppierungen.

Die Macht liegt im Präsidentenpalast

Doch auf diesem Ohr blieb die US-Regierung taub. Sie führte schließlich einen ideologischen Kampf. Mit der Verabschiedung des Syria Accountability Act3 durch den Kongress am 11. November 2003 sollte der Druck auf Damaskus erhöht werden. Anfang Mai hatte Außenminister Colin Powell erklärt, Syrien habe seine Finger im Libanon, im Irak und in Palästina – und die USA seien gewillt, sie ihnen abzuschlagen. Um die Demokratie in Syrien macht man sich in Washington wenig Gedanken, die angekündigten Sanktionen gegen Mitglieder der Führung wurden bisher nicht in Kraft gesetzt. Präsident Bush hat sich darauf verlegt, den Staat und die Wirtschaft des Landes zu schädigen, durch Handelsbeschränkungen oder durch den Vorwurf, die wichtigste staatliche Bank betreibe Geldwäsche. Dem haben die syrischen Machthaber durch immer neue Gesten des guten Willens – etwa in der Sicherheitszusammenarbeit – entgegenwirken wollen.

Doch die größte Überraschung bereiteten Baschar al-Assad seine französischen Partner. Schon im Juni 2004 hatte Präsident Chirac George Bush vorgeschlagen, in einer Resolution des Sicherheitsrats den sofortigen Rückzug der syrischen Truppen aus dem Libanon zu fordern. Die Gründe für diesen Politikwechsel blieben im Dunkeln. Spielten persönliche Beziehungen Chiracs zum ermordeten Präsidenten Rafik Hariri eine Rolle? Oder ist das Verhältnis zu seinem jungen Protegé an der Spitze Syriens grundsätzlich gestört?

Chirac hatte sich eigentlich in Syrien eine bedeutende Rolle als Mentor des wirtschaftlichen und demokratischen Wandels erhofft. Er hatte Baschar al-Assad wiederholt einen großen Empfang bereitet, Reformen in der Verwaltung und im Justizwesen unterstützt und sich für die Unterzeichnung des Partnerschaftsabkommens zwischen Syrien und der EU stark gemacht. Doch vielleicht war dieser Reformdeal, bei dem das Thema der politischen Strukturen ausgeklammert blieb, von Anfang an fragwürdig.

In Syrien, wie in fast allen arabischen Staaten, liegt die Macht längst nicht mehr bei den Institutionen des Staates. Sie geht vom Präsidentenpalast und den Geheimdienstzentralen aus, deren Vorgehen notwendig die Schwächung des Staates, also der Ministerien oder Planungsinstanzen, bedeutet.. Das öffentliche Leben dominiert eine regierende Partei, die von den Machthabern nur noch benutzt wird, um ihre Diadochenkämpfe auszutragen. Sie hatte Baschar al-Assad auf den Schild gehoben und in ihre Gewalt gebracht. Assad senior hat die Falle aufgestellt, in der sein Sohn nun sitzt.

Seit Syrien durch den Rückzug aus dem Libanon seine Trumpfkarte im regionalen Spiel verloren hat, ist die Struktur dieses Systems deutlicher geworden. Und inzwischen steht es von allen Seiten in der Kritik. Ob bewusst oder unabsichtlich – Baschar al-Assad hat seit seinem Amtsantritt für frischen Wind in der Politik gesorgt. 2001 war schon vom „Damaszener Frühling“ die Rede, die Aufhebung des Ausnahmezustands und die Stärkung der Bürgerrechte wurden gefordert und sogar innerhalb der Baath-Partei waren kühne Forderungen laut geworden. Wer aufbegehrte, wurde mit exemplarischer Härte bestraft.

In den drei vergangenen Jahren hat sich die Hoffnung auf zügige wirtschaftliche Reformen ohne grundlegende politische und institutionelle Veränderungen (nach dem berühmten chinesischen Modell) gänzlich zerschlagen. Auf dem Parteitag im Juni 2005 versprach Baschar al-Assad als Weg aus der Krise einen Neubeginn im Reformprozess. Neue Hoffnungen: Eine Verfassungsänderung würde es ermöglichen, der Monopolstellung der Baath-Partei „in Staat und Gesellschaft“ (Artikel 8) und dem „sozialistischen“ Charakter der Wirtschaft, also dem Staatskapitalismus, (Artikel 13) ein Ende zu setzen. Schon suchen die Oppositionskräfte nach neuen Bündnispartnern – bei den Muslimbrüdern ebenso wie in den Reihen der Baath-Partei selbst. Würden beide Gruppierungen sich auf demokratische, laizistische Regeln einlassen und ihre Fehler der Vergangenheit eingestehen, dann würde es möglich, einen Schlussstrich unter die Jahre der Repression ziehen. Ein Prozess der nationalen Versöhnung muss beginnen.

Das Ergebnis des Parteitags kann man nur mit gemischten Gefühlen bewerten. Vorausgegangen war ihm ein symbolischer Akt der Repression: das Verbot des letzten demokratischen Forums, des Atassi-Salons – so genannt nach einer legendären politischen Persönlichkeit der Baath-Partei, berühmt wegen ihrer Weigerung, der Einheitsfront unter Assad senior beizutreten. Zugleich hatte man der Privatwirtschaft geradezu unverschämte Angebote gemacht, um sie für das Regime zu gewinnen. Auf dem Kongress kamen tatsächlich fast alle Fragen zur Sprache, die im Land diskutiert werden: die Notstandsgesetze, die Bürgerrechte, die Gewaltenteilung, die Wirtschaftsform und das Staatsbürgerschaftsrecht für die syrischen Kurden. Und die alte Garde der Partei wurde in den Ruhestand geschickt. Aber auf drei wichtige Fragen gab es keine befriedigenden Antworten: Kann es einen demokratischen Machtwechsel geben? Wird eine Verfassungsreform auf den Weg gebracht? Ist die nationale Versöhnung möglich? Überdies sind einige Geheimdienstchefs in führende Parteipositionen aufgerückt – und: Vom Dialog mit den Muslimbrüdern will man nichts wissen.4

Wohin der Weg führt, bleibt ungewiss. Die US-Regierung sähe weiterhin gern ein geschwächtes Regime in Syrien an der Macht. Ein rascher demokratischer und säkularer Wandel fände wenig Billigung bei den USA, er würde nicht gut zu jener ethnisch und konfessionell bestimmten „Demokratie“ ohne Staat passen, wie sie im Libanon und im Irak geprobt wird. Dennoch glauben viele Syrer fest an die Möglichkeit der Veränderung. Ihr Symbol hat diese Bewegung schon gefunden: den Jasmin.

Fußnoten: 1 Die Alawiten, eine muslimische Gemeinschaft (ein Zweig der Zwölferschia) die vorwiegend in nördlichen Ausläufern des Libanongebirges lebt, machen etwa 11 Prozent der syrischen Bevölkerung aus. 2 Nach dem noch immer geltenden Notstandsgesetz von 1962 wurde am 8. März 1963 durch den Erlass Nr. 2 der Putschisten der Ausnahmezustand erklärt. 3 Der Präsident wird durch diese Entschließung ermächtigt, gemäß seiner Einschätzung der von Syrien ausgehenden Bedrohung der amerikanischen Interessen Sanktionen zu verhängen. 4 Nach einem Gesetz von 1980 steht auf Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft die Todesstrafe. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Samir Aita ist Ökonom und Generaldirektor von „A Concept mafhoum“ (www.mafhoum.com).

Le Monde diplomatique vom 08.07.2005, von von Samir Aita