07.10.2021

Hinter den Kulissen von Taipeh

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Hinter den Kulissen von Taipeh

Wie schon sein Amtsvorgänger Trump, bemüht sich auch US-Präsident Biden um engere strategische Beziehungen zu Taiwan – zum Verdruss Chinas, das den Inselstaat weiterhin für sich beansprucht.

von Alice Hérait

Torpedos an der Fassade von Taipehs Militärmuseum CENG SHOU YI/nurphoto/picture alliance
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Auf den ersten Blick ist das American Institute in Taiwan (AIT) am Stadtrand von Taipeh ziemlich unscheinbar. Keine Fahne, keine bewaffneten Ma­rines, keine Autos mit Diplomatenkennzeichen. Nur das US-Wappen über der Eingangstür verweist auf den Eigentümer des Gebäudes, das vor zwei Jahren im Bezirk Neihu eingeweiht wurde – weit ab vom zentralen Stadtteil Xinyi und allen anderen „Repräsentanzen“ von Staaten, die Taiwan nicht offiziell anerkennen.

Die De-facto-Botschaft der USA ist jedoch eine große Institution. Zählt man die Büros in der Hafenstadt Kaohsiung im Süden der Insel dazu, beschäftigt sie 500 Angestellte (an der Botschaft in Peking sind es 1300). Offiziell ist das AIT eine gemeinnützige, von der US-Regierung finanzierte Organisation. Tatsächlich ist sie aber eine der teuersten diplomatischen Einrichtungen der USA in Asien. Allein der Neubau in Neihu hat 190 Millionen Euro gekostet. Im gutgelaunten Plauderton erzählt ­Luke Martin in der „KK Show #67“1 von seinem „Traumjob“ als Leiter der Kulturabteilung im AIT, das „wie jede beliebige Botschaft“ organisiert sei.1

Auch William A. Stanton, der 2009 von Außenministerin Hillary Clinton zum Direktor des AIT berufen wurde2 und drei Jahre auf dem Posten verbrachte, macht keinen Hehl daraus, dass das AIT de facto immer eine Botschaft war: „Grundsätzlich besteht das Mandat darin, die Beziehungen zwischen Taiwan und den USA zu verbessern.“ Man würde nur andere Bezeichnungen verwenden, die Politische Abteilung nennt man beispielsweise Abteilung für Allgemeine Angelegenheiten, erklärt Stanton, der in Taipeh dennoch nicht mit „Herr Direktor“, sondern immer mit „Herr Botschafter“ angesprochen wurde. Tatsächlich erfüllte er ja auch die Aufgaben eines Botschafters, auch wenn der AIT-Direktor nicht vom Präsidenten persönlich berufen und vom Senat bestätigt wird.

Nach der Anerkennung der Volksrepublik China durch Washington 1979 verlegten die USA ihre Botschaft nach Peking und vermieden fortan jede offizielle Präsenz in Taiwan. Bis 2002 mussten die US-amerikanischen Angestellten ihren Diplomatenstatus aufgeben, bevor sie eine Stelle in Taipeh annehmen konnten. Das Gleiche galt für die Militärvertreter, wie uns Stanton erzählt. Heute ist das nicht mehr so.

Im Laufe der Jahre und insbesondere unter der Trump-­Administration haben die US-amerikanisch-taiwanischen Beziehungen einen immer offizielleren Charakter angenommen, wodurch sich allerdings auch die Spannungen zwischen China und Taiwan verschärft haben. Dazu hatte schon der Wahlsieg der Juristin Tsai Ing-wen bei der Präsidentschaftswahl vom Januar 2016 beigetragen.3 Die Juristin und ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) fährt einen ausgesprochen US-freundlichen Kurs.

Am 10. Januar 2021, unmittelbar vor dem Amtsantritt von Joe Biden, verkündete Außenminister Michael Pom­peo schließlich, dass „die Regeln, die eingeführt wurden, um Peking zu besänftigen, überholt“ seien, und hob alle Restriktionen für die offiziellen Kontakte zwischen den USA und Taiwan auf.

In ihrem „harten“ Kurs gegenüber China sind sich US-Demokraten und Republikaner ungewohnt einig. Mit der Diplomatin Hsiao Bi-khim hat Joe Biden übrigens als erster US-Präsident Taiwans Vertretung in Washington zur Amtseinführung eingeladen. Nach über 40 Jahren Pause kommen seit kurzem auch immer öfter hochrangige Besucher aus den USA nach Taiwan, wie im März 2020 Gesundheitsminister Alex Azar oder am 1. April 2021 der US-Botschafter im Inselstaat Palau, wo Washington eine neue Militärbasis eröffnen will.

Gratisimpfdosen aus den USA

In einem Interview für das Magazin The Diplomat erklärte Hsiao Bi-khim am 9. Februar 2021: „Verteidigung und Sicherheit sind das Hauptziel. Danach kommen die wirtschaftlichen Beziehungen und an dritter Stelle unsere internationale Rolle und unsere anderen politischen Partner.“4

Zwischen Taiwan und den USA gibt es kein Verteidigungsabkommen. Durch den 1979 unterzeichneten Taiwan Relations Act haben sich die USA jedoch verpflichtet, den 23,5 Millionen Bewohnern der Insel die Mittel für ihre Verteidigung zu liefern. Washington verfügt in Taiwan über ein Quasimonopol, wenn es um Waffenverkäufe geht. Nur ganz vereinzelt kommen Lieferungen aus anderen Ländern, vor allem aus Frankreich. Und die AIT-Direktoren messen ihren Erfolg bis heute am Umfang der unterzeichneten Verträge. „Während meiner Amtszeit haben wir Waffen für rund 13 Milliarden Dollar verkauft, kaum weniger als später unter Trump“, brüstet sich etwa William Stanton, der 2012 aus dem Amt schied.

Am 9. Juli 2019 genehmigte der US-Kongress den Verkauf von 66 F-16V-Mehrzweckkampfflugzeugen, 108 M1-Abrams-Panzern, 250 Stinger-Luftab­wehr­raketen und anderen Waffen. Unter der Trump-Administration wurde ein System zur Bedarfsermittlung (need-based review system) entwickelt, mit dem man schnell auf Taipehs Bestellungen von militärischer Ausrüstung reagieren kann. Im November 2020 bestätigte der Generalstab der taiwanischen Marine zum ersten Mal die Anwesenheit eines US-Marinecorps aus aktiven – nicht pensionierten – Soldaten auf der Marinebasis Zuoying5 im Süden der Insel, wo taiwanische Soldaten vierwöchige Ausbildungskurse absolvieren.

Die USA weigern sich allerdings, Taiwan F-35-Tarnkappenkampfflugzeuge zu verkaufen, die den chinesischen Jagdflugzeugen Paroli bieten könnten, weil sie die einzige Hüterin des geostrategischen Gleichgewichts in der Re­gion bleiben wollen. „Das Ziel besteht nicht darin, das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen Peking und Taipeh umzukehren“, erklärt Yao-Yuan Yeh, Direktor des Instituts für politische Studien an der St. Thomas University in Houston.

Während die Tsai-Regierung und die internationale Presse die engen Beziehungen zwischen Taipeh und Washington begrüßen, sieht die Opposition darin eine Gefahr. Der Sprecher der Kuomintang-Partei, Ho Chih-yung, sagt: „Leider hat die Regierung ihre vorsichtige Politik zwischen den USA und China aufgegeben; sie hat beschlossen, sich zur Figur auf dem geopolitischen Schachbrett der beiden Großmächte machen zu lassen.“

Für die Kuomintang war die Wiedervereinigung mit China lange das letztendliche Ziel. Heute ist die Partei in dieser Frage tief gespalten. Ein Teil der Mitglieder bekennt sich inzwischen zum „Pazifischen Status quo“, also Washington als strategischen Verbündeten und China als wichtigsten Wirtschaftspartner.

Für die regierende Demokratische Fortschrittspartei (DPP) sind zwar die USA der wichtigste Verbündete, um sich dem chinesischen Druck zu widersetzen – und irgendwann die Unabhängigkeit zu erreichen, die sich auch in der jungen Generation viele wünschen. Doch offiziell empfiehlt auch Tsai den „Pazifischen Status quo“.

„Taiwan hat kein Interesse daran, Partei zu ergreifen, wenn es mit zwei antagonistischen Großmächten verhandelt“, erklärt uns der Kuomintang-Sprecher Ho Chih-yung. „Niemand will, dass die Konflikte sich zuspitzen.“ Der US-Wissenschaftler Yao-Yuan Yeh betrachtet die Beziehungen zwischen beiden Staaten als ausgeglichen: „Taiwan braucht die Unterstützung der USA, um seine Souveränität zu wahren, die USA brauchen Taiwan, um ihre strategischen Interessen zu verteidigen und China die Stirn zu bieten.“

Präsidentin Tsai lässt keine Gelegenheit aus, die Erfolge dieser Annäherung hervorzuheben. Am 6. Juni 2021 prangten die Buchstaben „USA“ weithin sichtbar auf der Fassade des Grand Hotel in Taipeh – zum Dank für 750 000 Impfdosen gegen Covid-19. Und als die USA vierzehn Tage später weitere 2,5 Millionen Impfdosen ankündigten, las man am symbolträchtigen Wolkenkratzer Taipeh 101: „Es lebe die Freundschaft zwischen den USA und Taiwan“.

Die Beziehungen sind nahezu ungetrübt, seitdem Taipeh im August 2020 angekündigt hat, das Importverbot für Schweinefleisch aus den USA zu lockern. In der amerikanischen Schweinezucht wird der Futtermittelzusatzstoff Ractopamin verabreicht, der aber wegen seiner schweren Nebenwirkungen in vielen Ländern, wie beispielsweise China, Russland und den EU-Staaten, verboten ist.

Wegen solcher Konflikte um die Fleischproduktion ist das schon 1994 unterzeichnete Rahmenabkommen über Handel und Investition (Trade and Investment Framework, Tifa) zwischen den USA und Taiwan mehrfach ausgesetzt worden. Die taiwanische Regierung hofft, dass die Wiederaufnahme der Gespräche zu einem umfassenden Freihandelsabkommen führt, um die Abhängigkeit vom größten Handelspartner China zu beenden.

Offiziell versichert Tsai zwar stets, dass sie sich im Unterschied zu ihrem Parteikollegen und Ex-Präsident Chen Shui-bian nicht für Taiwans Unabhängigkeit ausspricht. Doch in Wahrheit bemüht sich die Präsidentin um immer stärkere Sicherheitsgarantien. „Taiwans Fähigkeit zur Abschreckung zu vergrößern, ist langfristig entscheidend für unser Überleben“, erklärt die Diplomatin Hsiao Bi-khim.

Die Lobby der Taiwaner in Washington arbeitet, insbesondere was den Waffenhandel betrifft, äußerst effizient. Ihre Thinktanks liefern Analysen, die eindeutig dazu gedacht sind, die US-Außenpolitik zu beeinflussen. „Dabei erwähnen sie aber nicht ausdrücklich, dass sie von der Vertretung Taiwans in Washington finanziert werden“, berichtet Eli Clifton vom Quincy Institute for Responsible Statecraft, das sich für die Entmilitarisierung der US-Außenpolitik einsetzt.

Das Project 2049 Institute ist einer dieser Thinktanks, die hinter den Kulissen ihren Einfluss geltend machen. Es wird von Taipeh und der US-Rüstungsindustrie finanziert und publiziert zahlreiche Artikel, die darauf hinauslaufen, dass sich Washington für die Aufnahme Taiwans in internationale Organisationen einsetzen soll, die Legitimität des AIT gestärkt und die wirtschaftliche Integration zwischen den Verbündeten im Pazifikraum gefördert wird. Andere Studien malen das Gespenst einer chinesischen Invasion an die Wand.6

Als Beweis führen sie die Rede von Xi Jinping an, die der Präsident am 1. Juli 2021 zum 100. Jahrestag der KP Chinas gehalten hat. Dort hatte er dazu aufgerufen, „die friedliche Wiedervereinigung des Vaterlands voranzubringen“, „jeden Schritt zur Unabhängigkeit Taiwans entschieden zu verhindern“, und die kaum verhohlene Drohung ausgesprochen, niemand sollte die große Entschlossenheit, den festen Willen und die kraftvolle Fähigkeit des chinesischen Volkes zur Verteidigung seiner nationalen Souveränität und territorialen Integrität unterschätzen.7

Weder die neue AIT-Direktion unter der Leitung von Sandra Outkirk noch das taiwanische Verteidigungsministerium wollten unsere Fragen beantworten. Natürlich gebe es auch Gesprächskanäle des AIT zum Militär, meint Hugo Tierny, der über die Verteidigungspolitik in der Formosastraße promoviert. Um dann, wenig überraschend, hinzuzufügen: „Aber dieser Teil der Beziehung wird mit großer Diskretion behandelt.“

1 Siehe das einstündige chinesisch-englische Interview mit Luke Martin, „The KK show #67“ vom 16. Februar 2021 (auf Youtube).

2 Stanton lebt seit seinem Ausscheiden aus dem Amt nach wie vor in Taipeh und hat heute eine Gastprofessor an der renommierten Chengchi-Nationaluniversität (NCCU).

3 Siehe Tanguy Lepesant, „Andere Pläne für Taiwan“, LMd, Mai 2016.

4 Shannon Tiezzi, „What to expect from US-Taiwan relations in 2021 (and beyond)“, Interview mit Hsiao Bi-khim, The Diplomat, Arlington (USA), 11. Februar 2021.

5 Catherine Bouchet-Orphelin, „Exercices militaires conjoints des marines. La gifle américaine“, Asie21-Futuribles, Nr. 144, Paris, November 2020.

6 Jae Chang, „Coordinated competition in the Indo-Pacific“, Project 2949 Institute, Arlington, 1. Juli 2021.

7 german.xinhuanet.com.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Alice Hérait ist Journalistin in Taipeh.

Le Monde diplomatique vom 07.10.2021, von Alice Hérait