08.07.2005

Die Schiiten und ihr Kampf um Gott

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Die Schiiten und ihr Kampf um Gott

Weltliche Herrschaft und religiöser Anspruch von Ahmad Salamatian

Seit im Irak das schiitische Wahlbündnis unter der Schirmherrschaft von Großajatollah Ali al-Sistani die Wahlen vom 30. Januar 2005 gewonnen hat, geht in den Palästen, Regierungssitzen und Medien der arabischen Welt das Gespenst vom „schiitischen Halbmond“ um. Gemeint ist die Region, die vom Libanon über das Zweistromland bis zur Bergprovinz Großchorasan im Nordosten des Iran reicht und die Küste des Persischen Golfs (also den ölreichen arabischen Osten) sowie die iranische Hochebene einschließt.

Die Schreckensvision von der „schiitischen Macht“, die vermeintlich oder tatsächlich mit den Feinden von einst im Bunde steht, entstand in vorwiegend amerikanischen Think-Tanks für strategische Fragen. Die Schiiten finden damit ihren Platz in dem vielfältigen Panorama von Gegnern, die es zu bekämpfen, Gefahren, die es abzuwenden, und Verschwörungen, die es zu vereiteln gilt – an solchen Szenarien herrscht im Nahen Osten kein Mangel.

Dabei stellt sich der Schiismus im Nahen Osten viel differenzierter dar, als es solche Pauschalurteile nahe legen. Es ist richtig, dass die Schiiten im Irak, im Libanon und – in spezieller Weise – auch in Bahrain mehr politische Repräsentanz einfordern. Schließlich bilden sie in diesen Ländern Bevölkerungsmehrheiten, deren Rechte lange Zeit ignoriert, wenn nicht unterdrückt wurden.

Anders liegen die Dinge in Saudi-Arabien: Hier sind die Schiiten in der Minderheit, sind als Häretiker verfemt und ihrer Grundrechte beraubt. Ähnlich in Pakistan und Afghanistan, wo die Angriffe wahhabitisch-sunnitischer Fundamentalisten auf Schiiten dazu führte, dass deren innerer Zusammenhalt eher gestärkt als geschwächt wurde. Davon zu unterscheiden ist wiederum die Situation im Iran: Dort hat das autoritäre Regime inzwischen Mühe, sich gegen die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft zu behaupten.

Bei seinem Staatsbesuch in Frankreich im April 2005 machte Irans Staatspräsident Mohammed Chatami keinen Hehl daraus, dass er mit seiner Reformpolitik gescheitert ist: „Eine religiöse Staatsmacht lässt sich nicht demokratisieren, wenn nicht zuvor geklärt ist, welche Haltung die Religion zu demokratischen Rechtsauffassungen, wie zum Beispiel dem allgemeinen Wahlrecht, einnimmt“, erklärte Chatami. Man könne dies „aus der Geschichte des Christentums und seiner Kirche“ lernen, aber es zeige sich ebenso „in der Geschichte des sunnitischen Islam, der noch stärker anerkennt, dass die Herrschenden von Gott legitimiert sind, und der zur Bürokratisierung der Religionsgelehrten neigt“. Beinahe trotzig fügte Chatami hinzu, er sei aus eigener Erfahrung zu dem Schluss gekommen, dass dies „auch für den schiitischen Glauben gilt, der die Ausnahme von der Regel sein zu können meinte, weil er stärker der Idee der Gerechtigkeit verbunden ist und sich von Anbeginn an den Anmaßungen der Macht widersetzt hat“.

Das iranische Volk ist von den Reformen enttäuscht

So blieb Chatami nur die Einsicht, dass in jeder politischen Ordnung, die sich über eine transzendentale Logik legitimiert, bestimmte Vertreter der Macht „jeden demokratischen Wandel blockieren können, unter dem Vorwand, sie würden damit deren heiligen Status verteidigen, der mit einer ganzen Reihe von heiligen Traditionen und Privilegien verbunden ist“.

Nach acht stürmischen Jahren, die seine Präsidentschaft dauerte, hat einer der treuesten Diener der Islamischen Republik so schließlich mit einer Illusion aufgeräumt. Die Enttäuschung über die Präsidentschaft Chatamis hat in den letzten zwei Jahren stark zugenommen – nicht nur unter den jungen Iranern, die unter der Arbeitslosigkeit und der Verweigerung von Bürgerrechten leiden. Die Desillusionierung hat längst auch die höchsten Ränge des Staates und der schiitischen Geistlichkeit erreicht. Umso mehr überrascht der Erfolg des religiös-konservativen Mahmud Ahmedinedschad bei der Präsidentenwahl vom 26. Juni 2005, der einmal gesagt hat: „Wir haben nicht die Revolution gemacht, um Demokratie aufzubauen. Was wir wollen, ist ein islamischer Staat.“ In seiner Auseinandersetzung mit Rafsandschani – dem reichsten Mann Irans – thematisierte er erfolgreich die Korruption der Herrschenden und versprach einen gerechteren Staat.

In den 1970er-Jahren entstand der Plan für den Aufbau eines schiitischen islamischen Staats. Auf Anregung der schiitischen Korangelehrten im Libanon schickte Ajatollah Mohammed Bakir al-Sadr1 , Gründer der irakischen Al-Dawa-Partei, seinen „ersten Entwurf einer Verfassung der Islamischen Republik Iran“ an Ajatollah Ruhollah Chomeini. Damals lebte der Religionsführer noch im Pariser Exil. In diesem Text werden zum ersten Mal die Grundsätze der Herrschaft der schiitischen Geistlichkeit skizziert. Gemäß dem Prinzip des velayat-e faqih (wörtlich: Regierung der Korangelehrten) sollte diese Herrschaft nicht an Grenzen oder Nationalitäten gebunden sein, sondern sich auf die gesamte Gemeinschaft der Gläubigen (Umma) erstrecken: ein islamischer Staat von umfassender Geltung – bis zur Wiederkehr des „verborgenen Imams“, dessen Kommen die Schiiten sehnlichst erwarten.

Ein Korangelehrter soll an der Spitze des Staates stehen

Die Führungsrolle in diesem System übernimmt der marja-e taqlid („Vorbild zur Nachahmung“ für die Gläubigen). Dieser oberste Korangelehrte vertritt als Stellvertreter des verborgenen Imams den Staat in allen Belangen und stützt sich bei der Ausübung seiner Funktionen auf die Mitglieder der howza, der renommierten Zentren der Gelehrsamkeit. Nach der Revolution im Iran wurden diese Vorstellungen in die neue Verfassung aufgenommen. Das Programm war innerhalb der schiitischen Gelehrtenschaft keineswegs mehrheitsfähig, viele kritisierten oder verwarfen es – so etwa der im irakischen Nadschaf lehrende Großajatollah Choi, der liberale Ajatollah Schariatmadari in Qom oder auch linksorientierte Geistliche wie Ajatollah Taleqani in Teheran. Aus der Theorie entstand der künstliche Staat, die „Islamische Republik“, deren Attribute „Republik“ und „islamisch“ bis heute unvereinbar sind.2

Auf die Wirren der Revolutionszeit und die spektakuläre Geiselnahme in der US-amerikanischen Botschaft (1979) folgte, nachdem Saddam Hussein angegriffen hatte, der verlustreiche Krieg gegen den Irak, der sich acht Jahre lang hinzog.3 Die Demokratiebewegung im Iran hatte vor dem Hintergrund dieser Ereignisse keine Chance, die vollständige Machtübernahme durch eine klerikal geprägte Oligarchie zu verhindern. In diesen Jahren konnte sich der velayat-e faqih als Staatsideologie etablieren, als Schlussstein im Gewölbe eines neu errichteten politischen Islam. Die staatliche Propaganda sorgte dafür, dass niemand dagegen aufbegehren konnte, ohne der Verdammnis anheim zu fallen und als Anhänger des großen Satans (und seiner kleinen Teufel) zu gelten. Noch heute sind die notorischen Parolen bei jeder offiziellen Kundgebung zu hören: „Tod für Amerika! Tod für England! Tod für Israel! Tod für Saddam!“ Und zuletzt: „Tod für die Feinde des velayat-e faqih!“

Für Ajatollah Chomeini stand außer Frage, dass er seine Legitimation als Staatsführer auf Lebenszeit in erster Linie aus seiner religiösen Würde des marja-e taqlid bezog. Diesen Status hatte sich Chomeini in den Zentren der schiitischen Korangelehrsamkeit erworben, zunächst in Qom und (während seines Exils im Irak von 1964 bis 1978) in Nadschaf, wo er tausende von Schülern unterrichtete, die später einflussreiche Lehrer wurden. So verfügte Chomeini in seinem Testament, dass nach seinem Ableben der Ajatollah Golpajegani das Totengebet leiten solle – obwohl dieser bedeutendste marja von Qom in der Machthierarchie keine Rolle mehr spielte.

Der Einzige unter den Weggefährten des Revolutionsführers, der ebenfalls den Ehrentitel eines marja beanspruchen konnte, war Großajatollah Montaseri. Doch wenige Monate vor Chomeinis Tod verlor Montaseri dessen Gunst. Chomeinis Nachfolger mussten sich im Klaren sein, dass sie nach seinem Tod mit einem ernsten Legitimitätsproblem konfrontiert sein würden. Das Triumvirat aus Ali Chamenei, Ali Akbar Rafsandschani und Ahmad Chomeini beeilte sich darum, noch zu Lebzeiten des Religionsführers eine Verfassungsänderung durchzusetzen: Der Titel eines marja sollte nicht mehr Bedingung dafür sein, die Funktion des velayat-e faqih einnehmen zu können. Der erste schiitische Staat der Geschichte gab damit das Primat der Religion über die Politik auf, um sich Probleme bei der Nachfolgeregelung an seiner Spitze zu ersparen. Tatsächlich stand der neue geistliche Führer Ali Chamenei in der Hierarchie der Korangelehrten zu weit unten, um den Rang eines marja zu erwerben, und verfügte damit nicht einmal über die Autorität, den Rechtsschulen und geistlichen Institutionen Weisungen zu erteilen.

Natürlich erhielt Chamenei dennoch volle Machtbefugnisse in allen politischen und religiösen Angelegenheiten. Wer dies nicht rückhaltlos anerkennen wollte, riskierte Strafverfolgung und Ausbürgerung. Doch trotz dieser starken Stellung und der großen finanziellen Mittel, über die er verfügt, ist es Ajatollah Chamenei nie gelungen, sich zweifelsfrei als geistlicher Führer durchzusetzen – weder im Iran noch in der übrigen schiitischen Welt, weder unter den Gläubigen noch innerhalb der Hierarchie der Korangelehrten. Abermals tut sich damit eine Kluft zwischen religiöser und staatlicher Legitimität auf, und die Ansprüche der beiden Lager geraten nicht selten in Widerspruch. Der Iran finanziert sein Budget vor allem durch die Einkünfte aus dem Ölgeschäft, und mit diesem Geld hat sich die Führung auch das Wohlwollen einiger Fraktionen der Korangelehrten erkauft. Für die neuen Profiteure, Sinnbild der zunehmenden sozialen Ungleichheit, hat der Volksmund schon die Bezeichnung agha zadeh (Söhne des Ajatollah) gefunden.

Solche Verquickung von Politik und Religion hat dem iranischen Schiismus die Bürokratisierung der Geistlichkeit und die Abhängigkeit von staatlicher Finanzierung eingebracht – eine Annäherung an die sunnitische Welt. Vorbei die Zeiten, als die Gelehrten nur von den Spenden der Gläubigen lebten und wegen ihrer Unabhängigkeit von den sunnitischen Kollegen beneidet wurden.

Im Übrigen ließ der geistliche Führer Chamenei nichts unversucht, seine schwache Stellung durch Attribute staatlicher Macht aufzubessern, vor allem durch die ständige direkte Aufsicht über das Militär und die Geheimdienste: Chamenei besuchte häufig die Kasernen und nahm gern an den unzähligen Paraden und ähnlichen militärischen Veranstaltungen teil. Weil er nicht über die religiöse Autorität verfügte, die seinem Mentor Chomeini zum Sieg über die Schahmonarchie verholfen hatte, versah sich Chamenei mit Machtmitteln, die ihn den Herrschern aus vorrevolutionärer Zeit immer ähnlicher machten. Nicht wenige Iraner sprechen von ihm nicht als dem „Großajatollah“, sondern nennen ihn ironisch „Seyyed Ali Shah“, was so viel bedeutet wie „der neue Schah“.

Zweifel an der Institution der Stellvertreterherrschaft

Fast hundert Jahre nach der ersten iranischen Revolution, die 1906 die absolute Monarchie stürzen wollte, ist es heute die Figur eines allgewaltigen geistlichen Führers, gegen die sich die demokratische Opposition verbündet. Mohammed Chatamis zweimalige Wahl zum Staatspräsidenten zeugt von dem Protest der Bevölkerung gegen diesen religiösen Absolutismus. Und die Enttäuschung über die Reformer ist nur deshalb so groß, weil es der Politik nicht gelang, die Auswüchse des velayat-e faqih in Schach zu halten. Unter Chatami gab es dabei durchaus einige zivilgesellschaftliche Fortschritte. Heute vereint der auf Lebenszeit bestimmte geistliche Führer Ayatollah Chamenei alle entscheidenden Machtfunktionen auf sich. Er entzieht sich jeder demokratischen Kontrolle und zögert nicht, sich den Rückhalt in den Streitkräften, den Sicherheits- und Unterdrückungsorganen und im Propagandaapparat zu erkaufen.

Hinzu kommt, dass inzwischen die Mehrheit der weniger prominenten Korangelehrten Zweifel an der Institution der geistlichen Stellvertreterherrschaft zu hegen beginnt. Denn nur dem Religionsführer bringt das System von Privilegien und Gunstbezeigungen Nutzen, sie haben keinen Anteil daran. Die Bevölkerung argwöhnt deshalb, dass sich die Geistlichkeit aus den staatlichen Kassen bedient, und sie ist immer seltener bereit zu zahlen – aus Misstrauen und weil sie ihre eigenen Bedürfnisse kaum befriedigen kann. So finden sich neuerdings in den Reihen der demokratischen Opposition und der Organisationen der Zivilgesellschaft zahlreiche Geistliche und Korangelehrte. Ein Teil von ihnen steht in der quietistischen Tradition, der sich die Mehrheit der schiitischen Ulema verpflichtet fühlt. Andere gehören jenem radikalen Lager an, das in den frühen Jahren des velayat-e faqih den Ton angab, und einige dieser Revolutionäre, so Ajatollah Montaseri, bezeichnen ihre damaligen Positionen heute als Irrtum und fordern eine Neubestimmung der Theorie des velayat – um die Rechte des geistlichen Führers eindeutig auf religiöse Angelegenheiten zu begrenzen.4

Im Irak verfolgte das Baath-Regime unerbittlich den „antinationalistischen“ Widerstand arabischer schiitischer Geistlicher. Angeführt wurde er in den 1970er-Jahren von Geistlichen wie Muhsin al-Hakim und Mohammed Bakir al-Sadr. Viele dieser Ajatollahs mussten um ihr Leben fürchten. Nichtarabischen Religionsgelehrten drohte die Verbannung, auch wenn sie schon seit vielen Jahren im Irak lebten.

Andererseits sah die irakische Führung auch die Chance, die jahrhundertealte Bedeutung der Zentren schiitischer Korangelehrsamkeit im Zweistromland (wo die beiden heiligen Städte der Schiiten, Kerbala und Nadschaf, liegen) für ihre Zwecke zu nutzen. Bagdad versuchte, einige der nichtarabischen, vor allem der iranischen Großajatollahs auf subtile Kompromissregelungen zu verpflichten. Das gelang, trotz mancher Konflikte, vor allem beim iranischstämmigen Großajatollah Abolghassem Choi, einem Anhänger der quietistischen Strömung, der gegen die Einmischung der Religion in die Politik war und sich vor allem gegen die Theorie des velayat-e faqih wandte. Er wollte vor allem die hawzeh, die Seminare in der heiligen Stadt Nadschaf, schützen. Sie wurden selbst unter osmanischer Herrschaft geduldet, ihr legendärer Ruf war nun durch das laizistische Baath-Regime bedroht. Außerdem stand Nadschaf damals in heftiger Konkurrenz mit der heiligen Stadt Qom im Iran – dort konnte man, dank großzügiger finanzieller Unterstützung aus Teheran, den Lehrenden und Lernenden weit bessere Bedingungen bieten. Die Freiheit der Lehre in Nadschaf musste gegen die beiden feindlichen Mächte Iran und Irak verteidigt werden.

Ähnliche Positionen vertrat auch Ajatollah Ali al-Sistani, ein Vertrauter Chois, der seine Berufung in den Führungszirkel der schiitischen Korangelehrten – und sein Ansehen im Iran wie im Irak und in den übrigen schiitischen Gemeinden der Welt – nicht zuletzt seiner Entschlossenheit verdankte, den Kurs seines Mentors fortzusetzen. Eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren war sein oberstes Ziel. Nur so glaubte er langfristig die Interessen der schiitischen Gemeinschaft und ihrer Geistlichkeit gegenüber zwei verfeindeten Nationalstaaten bewahren zu können. Und das bedeutete auch, den hochrangigen Korangelehrten und ihren Gefolgsleuten die direkte politische Betätigung zu untersagen. Al-Sistani, der heute noch einen iranischen Pass besitzt, folgte seinem Vorgänger Choi auf dem traditionellen Weg der Schiiten, sich von der weltlichen Macht fern zu halten. Diese stellte in ihren Augen das kleinere Übel dar, hatte man doch Hoffnung auf die Wiederkehr des verborgenen Imams und die Errichtung seines Reiches.

Während Qom, heilige Stadt und Zentrum schiitischer Korangelehrsamkeit im Iran, inzwischen politisch gegängelt wird und weniger Spenden einsammelt als früher, hat Nadschaf, das ältere der beiden Glaubenszentren, seine einstige Stellung wiedergewonnen. Noch immer erhält Qom mehr staatliche Finanzmittel, doch die Kräfteverhältnisse innerhalb der schiitischen Glaubensgemeinschaft haben sich deutlich verschoben, seit Ali al-Sistanis spiritueller Einfluss so massiv zugenommen hat. Seine Autorität in Fragen der Religion ist heute nicht nur in Nadschaf, sondern in der gesamten schiitischen Welt kaum umstritten – gerade im Iran kann es an Popularität, Einfluss und Finanzkraft keiner seiner Gegner oder Rivalen mit ihm aufnehmen.

Es ist, als würde sich die jahrtausendealte Tradition des schiitischen Quietismus am Politaktivismus der islamischen Revolution rächen, die sich inzwischen durch Machtmissbrauch diskreditiert und an den Pflichten einer modernen Staatsführung aufgerieben hat. Schon in den ersten Wochen nach dem Sturz des Baath-Regimes kamen trotz der Anschläge und Sicherheitsrisiken iranische Pilger nach Nadschaf und Kerbela. Sie fanden hier geistliche Führer, die der eschatologischen Botschaft des schiitischen Islam stets treu geblieben waren. Der oberste geistliche Repräsentant von Nadschaf muss ihnen wie das Gegenbild der despotischen Machthaber im eigenen Land erschienen sein. Damit hat ein schiitischer marja die alte Rolle des Gegners der etablierten Mächte wieder eingenommen: Er bietet den Gläubigen Zuflucht vor den Mullahs, die sich die Herrschaft anmaßen.

Im Irak sind die Schiiten zum Kompromiss gezwungen

Im Irak sind die schiitischen Kräfte auf ganz andere Weise zur Macht gelangt als im Iran. Während in Teheran nach einer Volkserhebung einem charismatischen Führer, der als Überwinder der Monarchie galt, das Schicksal des Landes in die Hände gelegt wurde, musste im Irak zunächst die Diktatur durch die militärische Intervention der USA gestürzt werden, damit sich hunderte neue Parteien und politische Gruppierungen formieren konnten.

Die schiitische Bewegung im Irak muss mit anderen politischen Gruppen zusammenarbeiten und die Kompromisse akzeptieren, die die Besatzungsmacht ihr abverlangt. Ajatollah al-Sistani hat zwar taktisches Geschick bewiesen, indem er die schiitische Ulema auf ein gemeinsames und erfolgreiches Vorgehen im Wahlkampf einschwor. Aber die Unterschiede zwischen den politischen und religiösen Vertretern innerhalb des Wahlbündnisses bleiben bestehen und zwingen al-Sistani dazu, einen Ausgleich zu finden und Pluralismus zuzulassen – also demokratischen Spielregeln zu folgen. Alle schiitischen Gruppierungen im Irak, auch die Extremisten, müssen ihre Forderungen mäßigen und bereit sein, Bündnisse mit anderen Bevölkerungsgruppen wie den Kurden und Sunniten einzugehen – das erfordert die vielfach zersplitterte irakische Gesellschaft.

So haben sowohl Ibrahim al-Dschafari, der irakische Ministerpräsident und Vorsitzende der Dawa-Partei, wie die Minister, die aus dem Obersten Rat der Islamischen Revolution im Irak (Sciri) berufen wurden, inzwischen offenbar ihren Traum von der islamischen Republik aufgegeben. Ihnen bleibt keine andere Möglichkeit, als einen demokratisch verfassten Bundesstaat einzurichten, in dem alle gesellschaftlichen Gruppen angemessen vertreten sind. Andernfalls droht ein Bürgerkrieg, und die Besatzungsmacht könnte die Rückkehr zu einer autoritären Staatsführung absegnen.

Noch gibt es sogar Anhänger einer Wiedererrichtung des Kalifats für die gesamte muslimische Welt: Davon künden an den Hauptstraßen Beiruts und einiger Städte im Süden des Libanon große Plakate, die den iranischen Religionsführer Ajatollah Chamenei zeigen: Er wird dort valye amre moslemine genannt – „Hüter des Auftrags, die Muslime der Welt zu regieren“.5 Aber im Libanon standen die Chancen, den Gläubigen den iranischen Führer als „Vorbild zur Nachahmung“ zu empfehlen, noch schlechter als im Iran selbst. Ajatollah Hussein Fadlallah, die einflussreichste Figur in der schiitischen Geistlichkeit des Libanon, hat bereits Zweifel an den Herrschaftsansprüchen des iranischen Führers angemeldet: Er äußerte nicht nur Kritik an der Theorie des velayat-e faqih, sondern gab auch zu bedenken, dass die Gläubigen ihre Vorbilder im Glauben selbst wählen dürfen sollten – nur so könne die Würde des marja bewahrt bleiben.

Selbst die libanesische Hisbollah, die ohne die finanzielle Hilfe aus dem Iran nicht auskäme und deren Führung stets ihre guten Beziehungen zu Teheran betont, spürt die Fernwirkung der politischen Streitigkeiten unter den iranischen Machthabern. Die Debatten über die Theorie des velayat-e faqih, die zwischen Qom und Nadschaf geführt werden, werden auch hier wahrgenommen. Die Hisbollah spielt im Libanon seit langem eine wichtige Rolle wegen ihres sozialen und kulturellen Engagements. Die Parlamentswahlen im Juni haben gezeigt, dass auch ihr politischer Einfluss zunimmt.

Bis vor fünf Jahren stand die schiitische Gemeinschaft geschlossen hinter der Hisbollah und ihrem Widerstand gegen die israelische Besatzung im Südlibanon. Doch seit sich Israel aus diesen Gebieten zurückgezogen hat, sind die alten Streitigkeiten der Hisbollah mit anderen schiitischen Organisationen – der Amal oder dem Rat der schiitischen Geistlichkeit – wieder aufgeflammt. Die Bewegung muss sich fragen, zu welchen Kompromissen sie in der unübersichtlichen politischen Landschaft des Libanon gezwungen sein wird.

Unter diesen Umständen ist der Plan, durch das Konzept des velayat-e faqih alle schiitischen Gemeinschaften der Welt für die Idee eines islamischen Staats zu gewinnen, zum Scheitern verurteilt. Inzwischen hat sich die „Stellvertreterherrschaft“ zum Streitfall unter den Schiiten entwickelt. Und ausgerechnet im Iran, im Mutterland ihrer Verwirklichung, sehen sich ihre Verfechter mit einer starken Bewegung konfrontiert, die für eine stärkere Trennung von politischer Macht und religiöser Autorität eintritt. Die einen suchen ihr Heil im Glauben, die anderen setzen auf Befreiung durch politisches Handeln.

Fußnoten: 1 Nach einer groß angelegten Aktion, bei der zahlreiche Schiiten verhaftet wurden, ließ Saddam Hussein am 9. April 1980 ihren geistlichen Führer Bakir al-Sadr und zahlreiche Mitglieder seiner Familie hinrichten. 2 Siehe dazu Ahmad Salamatian und Simine Chamlou, „Les dix années de la revolution islamique en Iran“, in „Revue du tiers monde“ (Paris), Nr. 123, Juli/September 1990. 3 Siehe Ahmad Salamatian, „La révolution iranienne broyé par ses contradictions“, „Le Monde diplomatique“, Juni 1993, sowie „L’Imam Khomeiny se retourne contre les conservateurs“, „Le Monde diplomatique“, Juni 1988. 4 Eric Rouleau, „Kohabitation im Gottesstaat“, „Le Monde diplomatique“, Juni 1999. 5 Das Kalifat (als Souveränität über die gesamte muslimische Welt) erlosch 1924, als Mustapha Kemal (Atatürk), Gründer der weltlichen türkischen Republik, den letzten osmanischen Kalifen Abdülmedschid absetzen und des Landes verweisen ließ. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Ahmad Salamatian, ehemals Parlamentsabgeordneter für Esfahan, lebt heute als politischer Analyst im Exil, zusammen mit Simine Chamlou Autor von „Les dix années de la révolution islamique en Iran“, „Revue du Tiers Monde“ 123 (Juli/September 1990).

Le Monde diplomatique vom 08.07.2005, von von Ahmad Salamatian