08.07.2005

Übernächtigt in Seattle

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Übernächtigt in Seattle

Die neue Arbeit enteignet die Zeitvon Ulf Kadritzke

Moderne Zeiten. In Polen zum Beispiel. Dass das Land endgültig in der Europäischen Union angekommen ist, zeigen die jüngsten Konflikte um die Arbeitszeiten im Handel. In der polnischen Dienstleistungswirtschaft hat die Ankunft des EU-Kapitals dem zumeist in Teilzeit beschäftigten Personal 15-Stunden-Tage beschert. Gefälschte Aufzeichnungen über die geleistete Arbeitszeit sind an der Tagesordnung.1 Die Klage der Filialleiterin Bozena Lopacka gegen die portugiesische Supermarktkette Biedronka hat großes Aufsehen erregt: Sie deckte auf, wie das Management der Supermarktketten, unter ihnen auch die deutsche Lidl-Tochter Kaufland, ihre Filialleiter zwingen, die Personalkosten so niedrig wie möglich zu halten. Was Schlecker, Aldi und Lidl in Deutschland recht ist,2 ist in Polen noch billiger, zumal die postsozialistischen Gewerkschaften schwach sind.

Ortswechsel. Im Juli 2003 und im August 2004 legte das Bodenpersonal von British Airways in London Heathrow für mehrere Tage den Flugbetrieb lahm. Der vor allem von Frauen getragene Streik weist in seiner Bedeutung über den Anlass – unbezahlter Bereitschaftsdienst und fremdbestimmte Arbeitszeiten– weit hinaus. Er richtete sich gegen die sozialen Folgen einer erzwungenen Flexibilisierung und außerdem gegen verfeinerte Überwachungstechniken, die aus dem Arbeits- ins übrige Alltagsleben vordringen und die persönlichen Zeitrhythmen zerstören.3

Auch in Deutschland und Frankreich drängen vor allem transnationale Unternehmen die Gewerkschaften in die Defensive. Die Marktwirtschaft zieht die von den Gewerkschaften erstrittenen Zeitgewinne der Beschäftigten wieder ein. An vielen Produktionsstandorten der EU-Stammländer werden Arbeitszeiten von 40 Wochenstunden wieder die Regel. Das Ergebnis sind wachsender Arbeitsdruck und weniger Lohn. Volkswirtschaftlich ist das grober Unfug, den Bilanzen tut es gut.

Von den Versprechen des ökonomischen Fortschritts, die Menschen von grober materieller Sorge und hoher Arbeitslast zu befreien, sind wir damit weiter denn je entfernt. Es geht eher rückwärts, die sozialen Spaltungen betreffen nicht nur die Arbeit und Materielles, sondern auch die Verfügungsmacht über die Zeit. Auf die Frage nach der betrieblichen work-life balance versetzt der Personalchef von Microsoft lachend: „Welch dumme Frage! Wir stellen doch gerade diese antriebsstarken Leute ein, die versuchen, die Balance ihr ganzes Leben lang hinzukriegen. … Und wir haben immer ein Auge auf die untersten fünf Prozent, wir testen sie ständig und fragen sie dann: ‚Wäre es nicht mal Zeit, von hier wegzugehen?‘ “4

Die Auskunft des Personalmanagers lehrt, welche zeitlichen Zumutungen die „neue Arbeit“ bereithält. Die Unternehmen fordern nicht mehr nur das Recht auf Nutzung der Arbeitskraft, sondern eine übergreifende Lebensweise, die Körper und Geist, Motivation und die „ganze Person“ der Firma übereignet. Für sie ist der ideale „Arbeitskraftunternehmer“ eine Synthese aus Berufsmensch und organization man unter der Gesamtleitung des Homo oeconomicus. Die marktradikale Sichtweise, die diesem Menschenbild zugrunde liegt, reicht weit über Betrieb und Arbeitsmarkt hinaus. Sie ist Signum einer Entwicklung, die unser Leben auf vielen Ebenen verändert. Ihr Leitbild ist die Selbstrationalisierung des Individuums, eine Ideologie, die dabei ist, Wirklichkeit zu werden.

Zeitpolitische Befunde im Kontext

Misst man den gesellschaftlichen Fortschritt in Geld und Zeit, den gängigen Währungen des vorzeigbaren Glücks, so verteilen sich die Gewinne höchst ungleich auf die formell Gleichen der bürgerlichen Gesellschaft. Es gibt Menschen, die wenig Geld haben und viel arbeitsfreie Zeit: die Arbeitslosen. Andere arbeiten viel und haben dennoch wenig Geld: die working poor – unter ihnen viele allein erziehende Frauen. Ferner gibt es moderne Paare, die in der der flexiblen Arbeitswelt ein Leben mit Kindern nicht mehr riskieren. Und es gibt die Erfolgreichen vom Typ „Vater Morgana“: beruflich allzeit präsent, familiär zumeist abwesend.5

Alles zusammengenommen, haben sich die effektiven Arbeitszeiten in Deutschland seit Mitte der 1990er-Jahre im Durchschnitt wieder ausgedehnt.6 Hinter der Fassade der Tarifverträge driften vereinbarte und reale Arbeitszeiten dramatisch auseinander, nur selten können Betriebsräte und Gewerkschaften diese Entwicklung mit alternativen Zeitmodellen (wie bei VW) durchkreuzen. Den Prozess der zeitlichen Entgrenzung beschleunigt die dezentralisierte Arbeitsorganisation mit ihrem zwiespältigen Angebot einer neuen Selbstständigkeit. Die Unternehmen schrauben die direkte Aufsicht über die Beschäftigten dort zurück, wo sie der Flexibilisierung der Arbeit im Wege steht. Vor allem bei komplexen Aufgaben wird das Zeitmanagement „vertrauensvoll“ in die Hände von Individuen oder Projektgruppen gelegt, was subtil und hinterrücks den Arbeitsdruck verstärkt. Während das Leistungsprinzip noch Kontinuität, Vertrauen und eine verlässliche Zeitplanung voraussetzte, zählt jetzt nur noch der Erfolg.7 Die betriebliche Beurteilung der qualifizierten Arbeitskräfte löst sich von den Maßstäben der Professionalität, an ihre Stelle tritt der Druck des Marktes oder der Kunden. Das Leistungsprinzip differenziert, das Erfolgsprinzip polarisiert. Die einen setzen die Maßstäbe und haben Prestige, die anderen erfüllen die Anforderungen und haben Angst. Was beide Gruppen der „Intrapreneure“ dennoch verbindet, ist der Mechanismus der Selbstausbeutung, der die Lebenswelt zur Kolonie der Arbeitswelt macht.

Menschen unter Zeitdruck: ratlos

Mitleid mit den Mittelklassen? Am stärksten verspüren den Zeitdruck die working poor, die im täglichen Kampf um die Gelegenheitsjobs keine Prämie für ihr ausgedehntes Arbeitsleid einstreichen. Aber zusehends unsicher – wenngleich auf hohem Niveau – fühlen sich auch die qualifizierten „Arbeitskraftunternehmer“. Sie erleben ein ständiges Wechselspiel zwischen innerem Engagement und äußeren Zumutungen. Viele genießen zunächst die (typisch männliche) Rolle des high performer, vor allem in jungen Jahren macht die Probe auf die eigene Belastbarkeit noch Spaß. Auch wer allmählich ahnt, dass das Tempo der ersten Berufsjahre nicht durchzuhalten ist, mutet sich und den nahe stehenden Menschen den Verzicht auf freie Zeit in der Hoffnung zu, irgendwann werde die Balance gelingen. Gefangen im Selbstbild des Könners, fühlt man sich lange als „Herr der Lage“, verdrängt Zeitdruck und Stress wie eine peinliche Krankheit. Aber schon im mittleren Alter wächst die Angst, in Konkurrenz mit Jüngeren den verlangten Beitrag zur „Wertschöpfung“ nicht nachweisen zu können. Von den verunsicherten Empfindungen über die betrieblichen Erfolgsmaßstäbe profitiert ein Zeitregime, das den Mangel an Privatleben durch die Höhe des Gehalts abgilt. Es erzeugt in vielen Angestellten und Managern einen übersteigerten Anwesenheitsdrang, den von französischen Arbeitsmedizinern entdeckten présentisme pathologique.8

Anders als das Elend der Industrieproletarier treten die Belastungen in der modernen Arbeitsorganisation weniger deutlich zutage; nur selten brechen erschöpfte Angestellte im Dienste zusammen. Das wahre Drama ist vielmehr, dass alles weiter seinen Gang geht. Die von Angst oder Leistungswut (oder beidem) überwältigten Angestellten antworten auf ihre Zeitnot mit Gesten der Anpassung oder mit dem kompensatorischen Genuss der „feinen Unterschiede“. Die Folgen sind Erschöpfung und Erholungsunfähigkeit, aber auch die Reduktion der inhaltlichen Ansprüche an die eigene Arbeit, die Verwandlung des „Lustprinzips der Professionalität“ in ökonomischen Zynismus. In der Schlussphase eines Entwicklungsprojekts, die sie mit „Todesmärschen“ vergleichen, fällen in Redmond bei Seattle die übernächtigten Angestellten von Microsoft ihr sarkastisches Urteil über die Qualität des neues Produkts: „Der Kasten explodiert nicht, also wird er ausgeliefert!“9

Time is the new money – eine neue Arbeitszeitpolitik

Die Ökonomie der „neuen Arbeit“ zwingt die betroffenen Menschen, im Einsatz für das Unternehmen ständig an die Grenze der eigenen Kräfte zu gehen, bis schließlich die Reserven für ein ganzes Arbeitsleben nicht mehr reichen. In der Selbstausbeutung und im Verlust der Balance treten die Pathologien der Arbeitswelt als moderne Formen der alten Entfremdung zutage. Neu ist die Offenheit, mit der sie verkündet werden. In den „Intrapreneur’s Ten Commandments“ der Unternehmensberatung Pinchot & Company fordert die Regel Nr. 8 den flexiblen Arbeitsmenschen fröhlich auf: „Come to work each day willing to be fired!“

Die bisherige Diagnose wirft die Frage nach Ansatzpunkten für eine „lebensfreundliche“ Arbeitszeitpolitik auf und nach den Interessenlagen der beteiligten Menschen und Institutionen. Hier ist Nüchternheit angebracht. Die Unternehmen betrachten die sozialen und zeitpolitischen Nebenfolgen ihrer Strategien nur unter dem Blickwinkel des Shareholders. Ihre leitenden Manager handeln in der Regel nach engen, partikularen Interessen. Allenfalls könnten Widerstände und neue Impulse von außen kommen, aus den alten und neuen sozialen Bewegungen.

Mit ihren bislang eher defensiven Antworten auf das Flexibilitätsregime der „neuen Arbeit“ steckt die Politik der Gewerkschaften in einer Sackgasse. Im legendären golden age of capitalism, das von 1950 bis 1975 währte, war es ihnen gelungen, den Lebensstandard der Beschäftigten anzuheben. Diese Phase sieht Madeleine Bunting von einem „faustischen Pakt mit der Lohntüte“ geprägt. Die Arbeitnehmerorganisationen hätten lange übersehen, wie verheerend sich der beschleunigte Kontrollverlust der Menschen auf die individuelle und soziale Zeit in Beruf und Alltagsleben auswirkt.10

Die Erkenntnis des Mangels könnte die Diskussion um neue Ziele beleben. Ein um die Frage der Zeitpolitik erweitertes Leitbild sinnvoller Arbeit haben britische Gewerkschafter nach den Streikaktionen im Flughafen Heathrow ausgerufen: „Time is the new money!“ Die Parole verkündet weder das Ende der Arbeitsgesellschaft, noch will sie besagen, Erwerbsarbeit, Einkommen und Lebensstandard seien für die Masse der Beschäftigten unwichtig geworden. Sie annonciert vielmehr eine Ausweitung der Kampfzone, in der die Menschen ihre Ansprüche auf individuelles Glück und soziale Gerechtigkeit geltend machen.

Neue Maßstäbe für eine Arbeitspolitik, die materielle und „postmaterielle“ Ziele verbindet, sind angesichts der Dominanz neoliberaler Politik nicht leicht zu entwickeln, erklärt diese doch die vertrautesten menschlichen Bedürfnisse nach Kontinuität, Verlässlichkeit und einem Mindestmaß an sozialem Zusammenhalt für einfältig und utopisch. Mein in diesem Sinne utopischer Gedanke nimmt auf das deutsche Arbeitsrecht Bezug. Es verlangt von den berufstätigen Menschen im Urlaub ein Betragen, das der Regeneration der Arbeitskraft dient. Was spräche, naiv gefragt, gegen die spiegelbildliche Pflicht der Unternehmen, die Arbeit aller Beschäftigten so einzurichten, dass diese die freie Zeit wirklich genießen könnten – die Pflicht also, mit einer lebensfreundlichen Zeitpolitik die betrieblich organisierte Erholungsunfähigkeit zu überwinden?

Derart freundliche Ideen stehen freilich vor einem ernsten Begründungsproblem. Das Plädoyer gegen die äußeren Zwänge der Arbeit bezieht sich auf ein „Reich der Freiheit“, das in den einschlägigen Utopien nur vage umrissen ist.11

Geht es nur um die Freiheit der Bohemiens und der Geistreichen, die nach Stunden des angeregten Geplauders zu Bett gehen, während schon die Müllabfuhr fährt? Wer eigentlich, fragt Hans-Georg Zilian, entscheidet in Betrieb und Gesellschaft darüber, wer was arbeitet, wie viel und für welchen Lohn? Für Zilian ist, wo die Eliten die Definitionsmacht über Arbeit und Muße ausüben, die „Spaßkultur einer Hölle ziemlich ähnlich“, und „die moderne Arbeitswelt in ihrer Menschen fressenden Hektik … umso mehr.“12

Vor dem Versuch, dieser „Hölle“ zu entkommen, ist der Zusammenhang zwischen materieller und zeitpolitischer Gerechtigkeit zu bedenken. Eine gründliche Diskussion über die Grundlagen moderner Gerechtigkeit wäre aber erst lohnend, wenn die alten und neuen sozialen Bewegungen gedanklich Abschied nähmen vom Furor des „freien“ Marktes, dessen Produktionsziel „soziale Ungleichheit“ nur mit dem Schmierstoff einer alle verpflichtenden Arbeitsmoral zu erreichen ist. Diese Tugend durchdringt bis heute die fernsten Winkel des Alltagslebens und droht den Menschen mit Tony Blairs Regeln der Arbeitsdienstgesellschaft: „Anyone of working age who can work should work.“13

Dem setzt das wachsende Leiden an der Zeitnot andere Zeichen entgegen. Es signalisiert nicht das Schwinden des Bedürfnisses, sinnvolle Arbeit zu leisten, statt nur Arbeit zu haben, wohl aber die Sehnsucht nach einer Versöhnung von Arbeit, Tätigkeit und Muße. Nach einem Leben, das uns zu der Freiheit befähigte, etwas anderes aus der Zeit zu machen, als die modernen Zeiten mit uns machen.

Fußnoten: 1 Beata Pasek, „A ‚second Walesa‘ for Polish workers“, in „International Herald Tribune“, 25. Februar 2005; Jan Cienski, „Polish workers act against unpaid hours“, in „Financial Times“, 10. März 2005. 2 Siehe die Berichte von Waltraud Schwab über die Handelsketten Aldi, Lidl und Schlecker sowie das Interview mit dem Ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske in: „tagesszeitung“ Nr. 7693 vom 18. Juni 2005, S. 3–5. 3 Will Hutton, „How British Airways clipped its own wings“, in: „The Observer“, 27. Juli 2003. 4 Madelaine Bunting, „Faustian pact with your pay slip“, in: „The Observer“, 11. Juli 2004. 5 Renate Liebold, „ ‚Vater Morgana‘: Über erfolgreiche Männer und abwesende Väter“, in: Ingrid Artus, Rainer Trinczek (Hg.), „Über Arbeit, Interessen und andere Dinge“, München und Mering 2004 (Verlag Rainer Hampp), S. 123–139. 6 Die einzelnen Länder bieten Mitte der 1990er-Jahre ein sehr differenziertes Bild. Vgl. Gerhard Bosch, „Von der Umverteilung zur Modernisierung der Arbeitszeit“, Graue Reihe des Instituts für Arbeit und Technik, Gelsenkirchen 2001/02. 7 Sieghart Neckel, „Erfolg“, in: U. Bröckling, S. Krasmann, T. Lemke (Hg.), „Glossar der Gegenwart“, Frankfurt 2004, S. 63–70. 8 Laurence Folléa, „Le présentisme pathologique ou l’art de souffrir du travail“ in: „Le Monde“, 9. April 1998. 9 „Leben nach Microsoft“ (Dokumentarfilm des ZDF von C. Belz und R. Schilling, 2002). Vergleichbare Zustände herrschen auch hierzulande. Die jüngsten Pannen bei Bosch und DaimlerChrysler sind Ergebnis des notorischen Kosten- und Zeitdrucks. 10 Madeleine Bunting, „Faustian pact with your pay slip“, in: „The Observer“, 11. Juli 2004. 11 Das trifft auch auf den Stand der französischen Diskussion zu; vgl. dazu André Gorz, „Arbeit zwischen Misere und Utopie“, Frankfurt 2000 (Suhrkamp), und Corinne Maier, „Die Entdeckung der Faulheit“, München (Goldmann) 2005. 12 Hans-Georg Zilian, „Unglück im Glück. Überleben in der Spaßgesellschaft“, Graz/Wien (Verlag Styria) 2005, S. 63. 13 Siehe den nebenstehenden Artikel von Anne Daguerre.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2005, von von Ulf Kadritzke