„Plan B“ für Europa
Gesucht: Innovationsgeist in Sachen Demokratie von Bernard Cassen
Nach dem Fiasko des Ratstreffens vom 16. bis 17. Juni, als die Fünfundzwanzig sich nicht auf einen gemeinsamen Haushaltsrahmen für den Zeitraum 2007–2013 einigen konnten, steht eines fest: Das französische und das niederländische Nein zum Verfassungsvertrag am 29. Mai beziehungsweise 1. Juni sind für die Krise der europäischen Einigung nicht verantwortlich, sie brachten sie nur ans Tageslicht. Die Haushaltsdebatte, an der der Gipfel scheiterte, stand mit dem Ausgang der jüngsten Referenden und dem Zeitplan der Ratifizierung in keinem ersichtlichen Zusammenhang. Außerdem ist noch bis April 2006 Zeit, eine Einigung zu erzielen.
Das doppelte Nein eröffnete vielmehr ein neues Diskussionsfeld, das sich offenkundig nicht auf die Höhe der Beitragszahlungen und die „Nutzenerwartungen“ der Unionsländer reduzieren lässt. In Frage gestellt findet sich der gesamte Einigungsprozess; es geht um seine bisherige Stoßrichtung ebenso wie um das, was bislang ausgeklammert blieb. Demokratischer Druck sorgte dafür, dass die Grundlagen Europas abermals zur Diskussion stehen.
Ein normales patriotisches Gefühl
Unterdessen bemühen sich die Führer der EU-Institutionen, nicht vollends das Gesicht zu verlieren, und sei es um den Preis der Faktenleugnung. So verstieg sich der luxemburgische Ministerpräsident und amtierende Ratspräsident Jean-Claude Juncker auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Kommissionspräsident José Manuel Barroso und EU-Parlamentspräsident Josep Borrell in der Nacht zum 17. Juni zu der surrealistischen Aussage: „Ich will hartnäckig daran glauben, dass weder die Franzosen noch die Niederländer die Verfassung abgelehnt haben.“ Und manche Leitartikler glaubten, sie müssten noch Wochen nach dem Referendum ein Kampagne für das Ja führen.1
Doch die Verlängerung der ursprünglich am 1. November 2006 endenden Ratifizierungsfrist bis Mitte 2007 und das für Juni 2006 geplante Treffen zum Diskussionsstand in den Unionsländern sorgten schon jetzt dafür, dass die in Dänemark, Portugal, Tschechien, Polen und Großbritannien vorgesehenen Referenden auf unbestimmte Zeit verschoben wurden. Der Mythos, die öffentliche Meinung befinde sich im Einklang mit den Eliten, die ihrerseits geschlossen hinter dem Verfassungsvertrag stünden, ist zusammengebrochen.
Hubert Védrine, vormals Außenminister der Regierung Jospin, analysiert auf sehr hellsichtige Weise das „Unbehagen“, das die Neinstimmen zutage förderten: „Was die Atmosphäre vergiftet hat, war die Hartnäckigkeit, mit der man jedes normale patriotische Gefühl lächerlich machte, alle noch so legitimen und keineswegs fremdenfeindlichen Bedenken hinsichtlich der Osterweiterung karikierte, den natürlichen Wunsch, im Rahmen der Globalisierung eine gewisse Souveränität über das eigene Schicksal und die eigene Identität zu wahren, beargwöhnte, jede Kritik verächtlich vom Tisch wischte. Dies alles in Verbindung mit der sozialen Unsicherheit, der Identitätsunsicherheit und dem Gefühl von Demokratieverlust versperrte alle Auswege und trieb die Franzosen dazu, so stark zuzuschlagen.“2
Unsicherheit über die eigene Identität, soziale Unsicherheit und das Gefühl von Demokratieverlust hängen eng zusammen. Je nach Land bestimmen diese drei Momente in unterschiedlichem Maße die Ablehnung der europäischen Einigung, wie sie konkret erlebt wird. Das niederländische Nein ist vielleicht eher identitätsmotiviert, das französische Nein eher sozial und klassenmäßig bestimmt (80 Prozent der Arbeiter, 60 Prozent der Angestellten), ein Nein auch und gerade zum Wirtschaftsliberalismus, den selbst viele Verfassungsbefürworter ablehnen. Der Brüsseler Schlagabtausch zwischen Jacques Chirac und Tony Blair zum „Britenrabatt“ – dessen Abschaffung der französische Staatspräsident gemeinsam mit 23 anderen EU-Regierungen zu Recht fordert – und zur EU-Agrarpolitik – deren grundsätzliche Überarbeitung der britische Premierminister mit guten wie mit schlechten Gründen verlangt –, stehen für ein strikt auf ökonomische Fragen vereidigtes Europa, das auf die drängenden Fragen der europäischen Öffentlichkeit keine Antwort weiß.
Wenn Tony Blair abschaffen will, was von der EU-Regulierungspolitik noch übrig ist – und dazu gehört auch die gemeinsame Agrarpolitik –, so wird er seiner Rolle als bedenkenloser Liberaler vollauf gerecht. Ebenso, wenn er sich weigert, den EU-Haushalt und also die Strukturfonds aufzustocken; sie stellen für die zehn Neumitglieder eine unabdingbare Voraussetzung dar, um ihren Entwicklungsrückstand aufzuholen. Nur durch starke Finanzspritzen vor allem für den Ausbau der öffentlichen Infrastrukturen ließe sich verhindern, dass die Neuen verstärkt zu Sozial- und Wechselkursdumping greifen, den einzigen „komparativen Kostenvorteilen“, die sie auf dem großen Markt der Fünfundzwanzig zur Geltung bringen könnten. Schärferer Wettbewerb aber, wie ihn der Verfassungsvertrag durch sein Nein zu jeder Harmonisierung der Sozialnormen zwingend vorschreibt, gehört zu den Dogmen eines Blair ebenso wie der europäischen Arbeitgeberverbände, die darin ein probates Mittel zur weiteren Senkung der Lohnquote sehen. Die britische Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2005 dürfte somit ein Feuerwerk an Initiativen zum Sozial- und Regulierungsabbau bringen.
Sosehr sich Blair in seinen Aussagen stets treu bleibt, so wenig kann dies von Chirac behauptet werden. Zum einen, weil der in seinen Reden wiederkehrende Verweis auf das „französische Sozialmodell“ durch die Politik seiner Ministerpräsidenten – gestern Jean-Pierre Raffarin, heute Dominique de Villepin – praktisch gegenstandslos wird. Zum anderen, weil der Verweis Chiracs Weigerung widerspricht, den EU-Haushalt deutlich zu erhören – das einzige Mittel, um europaweit eine nachhaltige Aufwärtsbewegung in Richtung auf das viel beschworene „Sozialmodell“ in Gang zu setzen. Hinter dem Brüsseler Finanzgerangel steckt also immer die Frage, ob Europa hohe Sozialstandards anstreben soll oder nicht, und in dieser Hinsicht stehen London und Paris faktisch im selben Lager.
Europas Öffentlichkeit kann Brüssels Denkpause nutzen
Was hat man nun von der einjährigen „Erklärungszeit“ zu erwarten, die der Rat beim jüngsten Treffen in Brüssel beschloss, um das Tafelsilber zu retten? Wohl gar nichts, wenn sich die europäische Öffentlichkeit nicht in die Debatte einschaltet. Insofern brachten das Nein der Franzosen und der Niederländer und die Verschiebung der anderen Referenden ansatzweise bereits neuen Schwung in die Debatte, auch und gerade in Ländern wie Italien und Spanien, die den Vertrag im Hauruckverfahren ratifizierten. Beginnen könnten wir mit der gemeinsamen Ausarbeitung eines Alternativvertrags, der sich in wirklich demokratischer Perspektive ausschließlich mit den EU-Institutionen beschäftigt und im Gegensatz zum aktuellen Vertragsentwurf kein bestimmtes Wirtschaftsmodell festschreibt.
Dass der gescheiterte Verfassungsvertrag ein „politisches“ Europa geschaffen hätte, erweist sich in dieser Hinsicht als reine Propaganda. Durch die Einführung eines auf zweieinhalb Jahre ernannten Ratspräsidenten und eines EU-Außenministers lässt sich dieses Ziel jedenfalls kaum erreichen. Bestenfalls handelt es sich dabei um technische Erleichterungen nach Art des qualifizierten Mehrheitsvotums, das den Abstimmungsprozess etwas einfacher gestaltet als die Nizza-Regeln. Politisch existiert Europa nur unter der Voraussetzung, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten einen gemeinsamen oder doch zumindest konvergierenden politischen Willen zeigen.
In wesentlichen Fragen jedoch – etwa dem wünschenswerten Sozialmodell, dem Ja oder Nein zum Diktat der liberalen Globalisierung sowie den Beziehungen zu den Vereinigten Staaten und den südlichen Ländern – herrschen zwischen den Regierungen zumindest verbal große Meinungsverschiedenheiten, zwischen den Regierungen und ihrer jeweiligen Öffentlichkeit abgrundtiefe Differenzen. Der Glaube, Letztere ließen sich durch neue Organigramme aus der Welt schaffen, zeugt jedenfalls von erstaunlicher Naivität.3
Mit Blick auf die Demokratisierung der EU-Institutionen ließe sich jedoch zwischen sehr vielen Parteien, Bewegungen und sozialen Akteuren Einigung erzielen. Eine unvollständige Liste umfasst: An die Stelle von Konkurrenz und Wettbewerb als gemeinschaftsstrukturierenden Normen müssen Solidarität und Zusammenarbeit treten; die Rolle der nationalen Parlamente ist zu stärken; die Kommission darf nicht mehr das Monopol der Gesetzgebungsinitiative haben; die Mitentscheidungsregeln im Verhältnis zwischen Rat und Parlament müssen zugunsten des Letzteren abgeändert werden; Initiativen zur verstärkten Zusammenarbeit sind zu erleichtern; das Initiativrecht der Bürger darf nicht mehr durch die Kommission gefiltert und abgeschwächt werden; die Europäische Zentralbank muss zur Rechenschaftsablegung gegenüber den Wirtschafts- und Finanzministern und dem Parlament verpflichtet werden; die EU-Bürgerschaft muss auch für Gebietsansässige gelten, die nicht aus den EU-Ländern stammen; der Grundsatz der Laizität ist zu respektieren; die Bezugnahme auf die Nato hat in EU-Verträgen nichts verloren. Parteien, Bewegungen und soziale Akteure könnten nun einen „Plan B“ vorschlagen, den die Kommission nicht in der Schublade hat, der aber noch vor dem Ende der „Erklärungszeit“ fertig gestellt werden könnte.4
Nach Klärung der demokratischen Voraussetzungen wäre auf EU-Ebene eine öffentliche Debatte von unten anzustoßen, deren Möglichkeit und Lebendigkeit die Referendumskampagne in Frankreich deutlich vor Augen führte. Hier müssten sich die EU-Mitglieder darauf einigen, was sie im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gemeinsam oder in kleineren Gruppen unternehmen wollen. Dabei darf keine Frage ausgeklammert bleiben. Unter anderem gehört auf den Tisch die Ausgestaltung Europas als Machtfaktor, die Definition der „Grenzen“ der Union und der verschiedenen Möglichkeiten, „zu Europa zu gehören“, das Sozialmodell, eine nichtegoistische Außenhandelspolitik, die Schaffung eines gemeinsamen EU-Raums, der die nationalen Räume überlagert, aber nicht aufhebt, eine Klärung des Subsidiaritätsprinzips und Ähnliches mehr.
Alle Bürger Europas, nicht nur ein kleiner Aeropag nach Art des von Valéry Giscard d’Estaing geleiteten 105-köpfigen Konvents, können sich zur Vorschlagskommission konstituieren. Wenn es überhaupt einen Ausweg aus der derzeitigen Sackgasse gibt, dann auf diesem Wege und nicht durch Vereinbarungen in erlauchtem Kreis oder zwischen den Regierenden. Eine gewiss große Herausforderung, zumal diese Vorgehensweise auf überstaatlicher Ebene noch nie ausprobiert wurde. Wenn Europa jedoch wirklich etwas Neuartiges sein will, eine Idee, hinter der alle europäischen Völker stehen, dann muss es zuallererst in Sachen Demokratie Innovationsgeist zeigen.