07.10.2021

Tödliche Schlangenbisse

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Tödliche Schlangenbisse

Indiens Kampf gegen eine vernachlässigte Tropenkrankheit

von Alexia Eychenne und Rozenn Le Saint

Auf Kobrajagd in Tamil Nadu DANIEL HEUCLIN/pa/NHPA
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Von den Reisfeldern Keralas im Süden bis in die semiariden Ebenen von Rajas­than im Norden winden sich Schlangen durch das Land und bevölkern seit Jahrhunderten Indiens hinduistische und buddhistische Mythen. Hier verwandeln sie sich in die schillernden Nāgas, Wesen zwischen Mensch und Tier, die als „Ursprung von Gefahr und Fruchtbarkeit“ gelten, schreibt der Indologe Michel Angot. In einer Episode aus der jahrtausendealten Geschichtensammlung Pañ­cha­tan­tra, die Angot nacherzählt, entdeckt ein Mann eine Kobra in seinem Brunnen und erstarrt vor Angst – doch die Schlange spricht zu ihm: „Du weißt doch, dass wir nur auf Befehl beißen.“

Die Schlange als verlängerter Arm des Schicksals – Priyanka Kadam kämpft gegen diesen immer noch weit verbreiteten Aberglauben: „Viele Inderinnen und Inder denken bei einem Schlangenbiss, jemand habe sie verflucht“, erzählt die Gründerin der Snake­bite Healing and Education So­cie­ty in Mumbai. „Wenn es sie erwischt hat, gehen sie als Erstes zu einem Heiler oder einer Heilerin.“ Die Sozialarbeiterin reist kreuz und quer durch Indien, um die Menschen aufzuklären: „Schlangenbisse müssen wie ein Herzinfarkt im Krankenhaus behandelt werden!“, schärft sie den Leuten ein.

Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) werden jedes Jahr weltweit etwa 5,4 Millionen Menschen von Giftschlangen gebissen; zwischen 81 000 und 138 0001 sterben daran, und zwischen 240 000 und 420 000 überleben mit schweren Folgeschäden wie Amputationen oder bleibenden Behinderungen. In Indien sind zwischen 2000 und 2019 durchschnittlich jedes Jahr 58 000 Menschen nach einem Schlangenbiss verstorben.2

Auf dem Land leben zahllose Schlangen, die bei ihrer Jagd auf Nage­tiere oft in menschliche Behausungen eindringen. In Indien gibt es etwa 50 Reptilienarten, die Menschen töten können, wenn sie sich bedroht fühlen. Pri­yan­ka Kadam sammelt die Berichte. Die meisten Opfer sind sehr arm, wie die siebenköpfige Familie, die ohne Moskitonetz auf dem Boden schlief, als ein Krait – eine tropische Giftnatter – in die Strohhütte glitt. Der etwa 30-jährige Vater und seine 6 Jahre alte Tochter wurden gebissen und starben keine zwei Stunden später im Krankenhaus.

Das Gift der Kraits und Kobras lähmt die Atemmuskulatur. Viperngift verursacht Blutgerinnsel, Ödeme und Nekrosen. Wenn kein Gegenmittel gespritzt wird, können die Bisse tödlich sein. Die ersten Stunden sind entscheidend, doch zahlreiche Dorfbewohner würden viel zu lange warten oder hätten kein Geld für den Weg in die nächste Klinik, die oft dutzende Kilometer entfernt liegt, berichtet Kadam: „Über die Hälfte stirbt auf dem Weg oder bei der Ankunft im Krankenhaus.“

Die öffentlichen Krankenhäuser, die oft schlecht ausgestattet sind, verabreichen das Gegengift umsonst – vorausgesetzt, sie haben das Antivenom gerade vorrätig. „Die Bundesstaaten verteilen die Dosen, ohne den Bedarf oder Bestand zu prüfen“, erklärt Kadam. „Es gibt überhaupt kein einheitliches Inventur- und Bestellsystem.“

Außerdem reicht eine Dosis manchmal nicht aus. Wenn nach einer Stunde noch keine Besserung eintritt, muss eine weitere Dosis gespritzt werden. „Dann muss man die Reaktion des Körpers beobachten und die jeweiligen Symptome behandeln“, erklärt Jean-Philippe Chippaux vom französischen Forschungsinstitut für Entwicklung (IRD). Doch weil es an ausgebildetem Personal und den geeigneten Mitteln mangelt, fällt die Behandlung häufig aus.

Bisse von Giftschlangen wurden von der Gesundheitspolitik lange vernachlässigt – weil nur arme Länder betroffen sind, und dort fast ausschließlich die Landbevölkerung. Hier werden „keine großen pharmazeutischen oder therapeutischen Programme aufgezogen“, erklärt Chippaux. Erst 2017 hat die WHO auf Druck von NGOs wie Ärzte ohne Grenzen und Health Action International die lebensgefährlichen Schlangenbisse in die Liste vernachlässigter Tropenkrankheiten aufgenommen. 2019 setzte sich die WHO das Ziel, die Zahl der Opfer bis 2030 zu halbieren, und forderte, die schrumpfende Produktion von Antiseren um 25 Prozent zu erhöhen.

Doch die großen, multinationalen Pharmakonzerne schenken wenig rentablen Medikamenten kaum Beachtung. Dazu gehören etwa bereits eta­blier­te Arzneimittel, für die der Patentschutz lange abgelaufen ist, oder teure Produkte, die nur in armen Ländern gebraucht werden. Auf die Antiseren gegen Schlangenbisse trifft beides zu. So hat der französische Pharmariese Sanofi die Produktion von FAV-Afrique, des wichtigsten Kombinationsantiserums für Afrika, schon vor über zehn Jahren eingestellt.

Das Unternehmen rechtfertigte sich damit, es könne bei der wachsenden Konkurrenz durch Schwellenländer und deren geringen Herstellungskosten nicht mithalten. Damit war vor allem Indien gemeint, das zu den wenigen betroffenen Ländern gehört, die ihre Antivenine selbst herstellen können.

Indien kopiert schon seit den 1970er Jahren Medikamente und Impfstoffe. Im Januar 1995 trat es der Welthandelsorganisation (WTO) bei und musste sich damit auch an die Regeln zum geistigen Eigentum halten, wenn es Medikamente exportieren wollte. Heute werden in Indien massenhaft Medikamente hergestellt, die bereits gemeinfrei sind oder für die ein Vertrag mit den Patentinhabern besteht.

Ein aktuelles Beispiel ist die Zusammenarbeit des Serum Institute of India (SII) mit Astrazeneca zur Herstellung eines Corona-Impfstoffs. Bei der absoluten Verkaufsmenge von Medikamenten steht die indische Pharmaindustrie zwar weltweit an dritter Stelle3 , doch bei der Herstellung von Antiveninen hapert es – sowohl bei der Quantität als auch der Qualität.

Die Geschichte der indischen Pharmaindustrie begann 1966 in einer reichen Parsen-Familie im Bundesstaat Ma­ha­rash­tra. Der Vater, Soli Poonawalla, hatte sich in der Rennpferdzucht einen Namen gemacht. Als eines Tages einer seiner kostbarsten Hengste nach einem Schlangenbiss starb, kam sein Sohn Cyrus auf die Idee, ein Antiserum herzustellen, und gründete das SII. Heute ist das Unternehmen der weltweit größte Hersteller von Impfstoffen.

Für das Antiserum griffen die Poonawallas damals auf eine Methode zurück, die Louis Pasteurs Schüler Albert Calmette bereits 1894 entwickelt hatte: Man injiziert einem Tier, meist einem Pferd oder Esel, eine ordentliche Portion Gift, um eine Immunreaktion hervorzurufen. Dann extrahiert man aus dem Blut die Antikörper, reinigt sie und injiziert das gewonnene Serum einem Menschen. Bis heute gibt es keine besser erprobte Technik, auch wenn dabei durch das tierische Eiweiß unerwünschte Folgen entstehen können, von Juckreiz bis zu schweren allergischen Reaktionen. Inzwischen protestieren Tierschutzverbände gegen die Methode.

Die Antiseren können aber nur richtig wirken, wenn sie aus dem Gift erzeugt wurden, das von Schlangen aus der jeweils betroffenen Gegend stammt. Der größte indische Hersteller, Vins Bioproducts, wurde beschuldigt, afrikanischen Ländern nur mäßig oder sogar völlig unwirksame Antiseren verkauft zu haben, weil sie mit Schlangengift aus anderen Regionen produziert worden waren. „In der Vergangenheit mag das vorgekommen sein“, sagt der Laborleiter Ajit Nair. „Aber seit drei Jahren verwenden wir nur Schlangengift aus der Region unserer Abnehmer.“

In Indien wird das Gift für die Serumproduktion vor allem im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu gewonnen. Auf einem Landstreifen zwischen dem Meer und einem Binnensee befindet sich die Forschungsstation des Madras Crocodile Bank Trust, der in den 1970er Jahren von dem Reptilienforscher Romulus Whitaker gegründet wurde. Die Kooperative beschäftigt derzeit über 300 Schlangenfänger vom Stamm der Irula, die nach der Zahl der gefangenen Tiere bezahlt werden. Pro Jahr sind das etwa 2800 Sandrassel­ottern, 2000 Kobras, 2000 Kettenvipern und 1500 Kraits.

Die Schlangen werden in Tonkrügen gehalten. Um an ihr Gift zu gelangen, müssen die Irula einen gefährlichen Trick anwenden. Sie packen die Reptilien mit bloßen Händen am Hals, die dadurch reflexhaft ihr Maul aufsperren. Diesen Moment nutzen die Fänger aus, um blitzschnell eine kleine, spitz zulaufende Metallstange unter die scharfen Zähne zu schieben, die sie über einem Gefäß platzieren. So fangen sie das Gift auf. 2019 haben die Irula insgesamt 1577 Gramm Gift gesammelt, das je nach Schlangenart zwischen 280 und 500 Euro pro Gramm einbringt und damit fünf- bis zehnmal teurer ist als Gold. Nach drei Wochen werden die Tiere wieder freigelassen.

„Früher habe ich das für eine gute Idee gehalten, heute bin ich mir da nicht mehr so sicher“, meint Whitaker. Es ist gefährlich, die Schlangen einzufangen, und wenn die Tiere wieder in ihrer alten Umgebung freigelassen werden, gehen die Bauern auf die Barrikaden. Deshalb setzt man sie in weit entfernten Wäldern aus, ohne zu wissen, ob sich die Tiere dort auch wohlfühlen.

Zudem sinkt die Qualität der Antiseren. Die Irula sammeln etwa 80 Prozent der in der indischen Pharmaindustrie verarbeiteten Gifte, die alle von Schlangen aus derselben Region stammen. Eigentlich müsste man aber überall Schlangen fangen, um das Gegenmittel an die jeweils lokal verbreiteten Arten anzupassen. „Selbst das Gift von Schlangen derselben Art ist je nach Region verschieden. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sie unterschiedliche Tiere fressen“, erklärt Anita Malhotra, Zoologin an der Bangor University in Wales.

Während der Chef von Vins Bioproducts behauptet, man sei nicht auf das Gift aus Tamil Nadu angewiesen, erklärt die Firma Premium Serums & Vaccines, eine der sechs großen indischen Hersteller, man könne sich nur von den Irula beliefern lassen. „Der Staat müsste die Giftsammlung organisieren und für jede Region ein eigenes Antiserum produzieren“, fordert Kartik Sunagar vom Centre for Ecological Sciences in Bangalore.4

Doch die Forstbehörden erteilen nur selten eine Genehmigung zum Fang von Giftschlangen, die alle zu den geschützten Arten zählen. Die WHO empfehle, das Gift von gezüchteten Tieren zu nehmen, wie in den USA oder in Europa, berichtet Whitaker: „Die Irula werden sich anpassen müssen, aber es wird eine große Umstellung, wenn sie sich zu Schlangenzüchtern umschulen sollen. Ich weiß nicht, ob das möglich sein wird.“

Auch die Suche nach alternativen Gegenmitteln braucht Zeit. Nach Angaben des Thinktanks Policy Cures Research, der Daten zu Investitionen in Arzneimittelforschung und -entwicklung sammelt, standen vor 2017 keine finanziellen Ressourcen dafür zur Verfügung. Seit der Aufnahme der Schlangenbisse in die WHO-Liste wurden weltweit lediglich 16 Millionen Euro investiert.5 So steckte etwa der Wellcome Trust 3,5 Millionen Euro in ein Projekt zur Entwicklung monoklonaler Antikörper als medikamentöse Giftabwehr.

Nach Meinung der indischen Hersteller sind solche Forschungsprogramme viel zu kostspielig. Und bei der WHO stehen sie sowieso nicht auf der Prioritätenliste. „Die Neuentwicklung eines Arzneimittels dauert 5 bis 15 Jahre“, erklärt der Toxikologe David Williams, der die WHO in verschiedenen Projekten im Kampf gegen diese vernachlässigte Tropenkrankheit berät: „Kurzfristig setzen wir eher auf die Unterstützung der Hersteller und die Verbesserung ihrer Produkte, um den Menschen zu helfen, die jeden Tag von Schlangen gebissen werden.“

In Afrika, wo ebenfalls zahlreiche Menschen durch Schlangenbisse sterben, gibt es keine einzige Pharmafirma, die Antivenine herstellt. Im Juni 2021 stellte die WHO eine erste Liste sicherer und zertifizierter Antiseren für Afrika zusammen. „Wir müssen Vertrauen zurückgewinnen, damit die Menschen keine Angst haben, die Mittel zu nutzen“, sagt Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen. „Weil die Gewinnmargen so klein sind, tendieren die indischen Hersteller dazu, den Standard zu senken und beispielsweise das Antivenom zu verdünnen. Dann braucht es manchmal 20 Injektionen, um schwere Vergiftungen zu neutralisieren.“

In Indien liegt der gesetzlich vorgeschriebene Festpreis für eine Ampulle bei etwa 8 Euro, was gerade so die Herstellungskosten deckt. Damit sind die indischen Antiseren die billigsten, aber auch die unrentabelsten der Welt.

„Auf dem indischen Markt können wir keine ausreichenden Gewinne erwirtschaften“, bestätigt Milind Khadilkar, Geschäftsführer von Premium Serums & Vaccines, dessen Produkt als einziges indisches Mittel auf der WHO-Liste zertifizierter Antiseren für Afrika steht. Die Firma will dieses Qualitätssiegel nutzen, um die Exporte nach Afrika zu steigern, wo eine Ampulle für etwa 25 Euro verkauft wird. Fast die Hälfte der Produktion geht bereits ins Ausland, auch bei Vins Bioproducts. Die andere Hälfte bleibt in In­dien, wo weltweit immer noch die meisten Opfer von Schlangenbissen beklagt werden.

1 „Snakebite envenoming“, World Health Organisation (WHO), Genf, 17. Mai 2021.

2 Wilson Suraweera u. a., „Trends in snakebite deaths in India from 2000 to 2019 in a nationally representative mortality study“, eLife, Cambridge, 7. Juli 2020.

3 „Indian pharmaceuticals – a formula for success“, InvestIndia, New Delhi 2021.

4 Senji Laxme u. a., „Beyond the ‚big four‘: Venom profiling of the medically important yet neglected Indian snakes reveals disturbing antivenom deficien­cies“, PLOS Neglected Tropical Diseases, San Francisco, 5. Dezember 2019.

5 Zu den Geldgebern gehört unter anderem die Bill & Melinda Gates Foundation, die auch das Policy Cures Research unterstützt.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Alexia Eychenne und Rozenn Le Saint sind Journalistinnen. Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Projekts des European Journalism Centre (EJC) über das Stipendienprogramm Global Health Journalism Grant Programme for France.

Le Monde diplomatique vom 07.10.2021, von Alexia Eychenne und Rozenn Le Saint