Überall Agenten Moskaus
von Pierre Daum
Dieses Jahr feiert die Kaukasusrepublik Georgien ihren 30. Geburtstag – unter weitgehend friedlichen Umständen. Ihre Anfänge nach dem Ende der Sowjetunion waren von Bürgerkriegen und Unruhen begleitet. Mit einem Staatsstreich im Januar 1992 kam schließlich Eduard Schewardnadse, der ehemalige Außenminister der UdSSR, an die Macht und blieb bis 2003; mit der „Rosenrevolution“ von 2003 wurde Micheil Saakaschwili Präsident, 2012 erlebte das Land dann den ersten friedlichen Machtwechsel. Da gewann der Milliardär Bidsina Iwanischwili mit seinem Parteienbündnis „Georgischer Traum“ die Parlamentswahl und wurde Premierminister, Präsident wurde Giorgi Margwelaschwili. Der Georgische Traum gewann 2016 und 2020 erneut die Parlamentswahlen.
Doch es fällt ein Schatten auf das demokratische Bild: Die Opposition hat die letzte Wahl nicht anerkannt, mit der Begründung, die Regierung habe Druck auf die Wählerschaft ausgeübt. Seit November 2020 weigern sich 45 Abgeordnete, ihre Sitze im Parlament einzunehmen, und blockieren damit die Institutionen des Landes. Am 19. April wurde unter der Schirmherrschaft des Europäischen Rats ein Abkommen geschlossen, das Georgischer Traum aber Ende Juli schon wieder zur Disposition gestellt hat: Demnach hätten Anfang 2022 vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden müssen, wenn die Regierungspartei bei den Lokalwahlen am 2. Oktober weniger als 43 Prozent der Stimmen erreicht hätte. Sie kam auf 49 Prozent der Stimmen (vorläufiges Endergebnis, 4. Oktober) – doch die politische Krise ist damit nicht gebannt.
Seit zehn Jahren beherrschen zwei Parteien die georgische Politik: das Bündnis Georgischer Traum und die Vereinte Nationale Bewegung (ENM). Deren Gründer Micheil Saakaschwili wurde 2014 in Abwesenheit wegen Missbrauchs von Staatsämtern zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt und lebte seither in der Ukraine, wo er die Staatsbürgerschaft erhielt, zwischenzeitlich wichtige politische Ämter übernahm und die georgische Oppositionspartei aus der Ferne führte. Kurz vor den Wahlen kehrte er trotz der drohenden Haftstrafe nach Georgien zurück und wurde umgehend in Gewahrsam genommen.
Nichtsdestotrotz stimmen seine Partei und Georgischer Traum in zwei entscheidenden Themenfeldern überein: in der Wirtschaftspolitik und den Beziehungen zu Russland. Seit der Regierungsübernahme 2012 setzt Georgischer Traum die vom IWF auferlegten Reformen um. In der Außenpolitik verfolgt das Land weiterhin das Ziel, Mitglied der Europäischen Union und der Nato zu werden.
In dem manchmal recht aggressiv geführten politischen Machtkampf geht es häufig darum, die jeweils andere Seite als „Agent Moskaus“ zu diskreditieren. „Diese Angst vor dem Verrat durchzieht die georgische Politik seit der Unabhängigkeit“, meint Nutsa Batiaschwili, Professorin für Sozialanthropologie an der Freien Universität von Tiflis und Autorin einer Studie über den „postkolonialen Zustand“ Georgiens.1 „In unserem kollektiven Imaginären sind wir eine kleine, sehr mutige Nation, die immer schon gegen mächtige Nachbarn kämpfen musste, wie Mongolen, Perser, Türken und Russen, und die stets verloren hat, weil es in unserer Mitte Verräter gab.“
Da der Milliardär Iwanischwili sein Vermögen in Russland erworben hat, lautet der Vorwurf gegen ihn: „Wegen seiner geschäftlichen Interessen wagt er es nicht, der schleichenden Besatzung energischer entgegenzutreten!“ Saakaschwili hatte 2008 den Angriff auf Südossetien begonnen und damit den Russen die Möglichkeit geboten, sich dort militärisch festzusetzen, daher heißt es über ihn: „Er spielt das Spiel der Russen, bestimmt wird er auch von ihnen bezahlt!“ Lewan Wasadse, der neue Anführer der extremen Rechten im Land, kritisiert „dekadente westliche Sitten“ wie „Homosexualität und Atheismus“, wird aber ebenfalls verdächtigt: „In einem Video sieht man, wie er in einem Restaurant in Moskau gemeinsam mit Alexander Dugin2 zu Mittag isst, er ist ein Agent Putins!“
Bei jeder politischen Debatte kommen solche Argumente – auch bei der Auseinandersetzung um das Wasserkraftwerk Namachwani nördlich von Kutaissi, im Tal des Rioni, der vom Kaukasus ins Schwarze Meer fließt. Mehrere Dörfer sollen geflutet werden, darunter Tvishi, wo ein weltbekannter Wein gekeltert wird, den es nirgendwo anders gibt – Georgien mit seiner jahrtausendealten Weinbaugeschichte besitzt 540 einheimische Rebsorten. Im Oktober 2020 begannen sich die ersten Anwohner gegen das gigantische Infrastrukturprojekt zu wehren. Als im darauffolgenden Februar der Inhalt des Vertrags mit dem türkischen Energieerzeuger Enka bekannt wurde, nahmen die Proteste an Fahrt auf. Aktivisten blockierten Tag und Nacht die Zugangswege zur Baustelle. Enka soll eine Konzession über 99 Jahre für den betroffenen Flussabschnitt und 600 Hektar Land bekommen. Im Gegenzug verpflichtet sich das Unternehmen, 15 Jahre lang Strom zum Festpreis an Georgien zu liefern.
Die Anwohner wehren sich vor allem gegen die Zerstörung ihrer Dörfer und der Umwelt, doch bei dem Protest geht es um mehr. Was die Studentin Gwantsa Berelaschwili aus Kutaissi sagt, bekommen wir so ähnlich überall zu hören: „Die Regierung hat es gewagt, ein Stück georgischer Erde an Ausländer zu verkaufen. Wir haben schon 20 Prozent unseres Staatsgebiets verloren, reicht das nicht?“ Die Regierung, die von dem Widerstand jenseits aller politischen Parteien überrascht wurde, behauptete ihrerseits, die Protestierenden seien von Russland bezahlte Vaterlandsverräter – das Wasserkraftwerk solle doch Georgiens Abhängigkeit von Stromimporten verringern. Irakli Kobachidse, Generalsekretär der Partei Georgischer Traum, forderte eine Untersuchung darüber, von wem die Protestbewegung finanziell unterstützt wird.3
„Dieser Vorwurf ist lächerlich“, seufzt Warlam Goletiani, einer der Anführer der Bewegung, und zuckt die Achseln. „Ob das Energieunternehmen nun türkisch, französisch oder griechisch ist, ist uns doch völlig egal. Wenn es allerdings um eine russische Firma ginge, dann wäre das ganze Land auf der Straße, glauben Sie mir!“
Die soziale Lage der Bevölkerung taucht in den Wahlprogrammen und Wahlkampfreden nicht auf, obwohl laut Weltbank 20 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Viele kommen nur mit familiärer Hilfe und selbst angebautem Gemüse über die Runden. Die monatlichen Renten stagnieren bei 220 Lari (60 Euro), die Arbeitslosenquote erreicht fast 20 Prozent, und die meisten Beschäftigten verdienen selten mehr als 800 Lari (220 Euro) im Monat.4
Ein Gesetzesvorschlag zur Erhöhung des gesetzlichen, seit 1999 unveränderten Monatsmindesteinkommens von 20 Lari (5,50 Euro) auf 400 Lari (110 Euro) wurde im Parlament abgelehnt. „In Georgien bilden sich die meisten politischen Parteien nicht rund um eine Weltanschauung, sondern um einen mächtigen Mann mit Netzwerken, Geld und guten Medienkontakten“, erklärt Gia Dschordscholiani. Der Politologe, der an der Universität Tiflis lehrt, hat selbst schon erfolglos versucht, eine linke Partei aufzubauen. „Die größten Medien sind im Übrigen entweder eindeutig für oder gegen die Regierung.“
In der großen Bergbauregion im Herzen des Landes wandten sich auch die Dorfbewohner von Schukruti immer wieder vergeblich an die Behörden, weil ihre Häuser durch die Grabungen der Georgian-Manganese-Mine so stark beschädigt wurden, dass sie teilweise nicht mehr bewohnbar sind. Schließlich nähten sie sich die Lippen zu und demonstrierten vor der US-Botschaft in Tiflis. Denn „dort liegt die wahre Macht im Land“, sagt Lewan Schekiladse, der in einer selbstgebauten Hütte vor seinem einsturzgefährdeten Haus lebt.
Auch die georgisch-orthodoxe Kirche ist keine Hilfe. Der Patriarch Ilia II. ist die einzige prominente Persönlichkeit, die das Vertrauen der großen Mehrheit besitzt; vor ihm verneigen sich sogar Minister und Präsidenten. Doch um die Schattenseiten des neoliberalen Wirtschaftsbooms kümmert man sich nicht. „Wir achten darauf, uns nicht in die Entscheidungen der Regierung einzumischen“, bestätigt Andrea Jagmaidse, der Sprecher von Ilia II., mit sanftem Lächeln. „Wir sind wie Ärzte, die für ihre Patienten da sind, ganz egal was sie anstellen.“ Im Augenblick kümmern sich die religiösen Würdenträger vor allem um die „Gefahren der Verbreitung von Homosexualität“. Priester in Soutanen sind sich nicht zu schade, homophobe Milizen tatkräftig bei ihren Angriffen auf LGBT-Aktivist:innen zu unterstützen. Diejenigen, die einen zu starken religiösen Einfluss fürchten, argumentieren: „Auf jeden Fall wird die Kirche von Moskau unterstützt!“
Pierre Daum
Aus dem Französischen von Sabine Jainski