09.12.2021

Die lange Geschichte der Sklaverei

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Die lange Geschichte der Sklaverei

von Barbara J. Fields und Karen E. Fields

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Sie gehört nicht zur Biologie des Menschen wie Atmen oder sexuelle Fortpflanzung. Sie ist nicht einmal – wie die Lichtgeschwindigkeit oder der Wert π – eine Idee, von der man annehmen kann, dass sie Bestand hat. „Rasse“ ist eine Ideologie, die in einem bestimmten historischen Augenblick entstanden ist.

Eine kurze Darstellung dieser Geschichte, die eng mit der Plantagengesellschaft in Britisch-Nordamerika verbunden ist, beginnt idealerweise in Virginia in den 1620er Jahren. Damals stieg die Kolonie, die bis dahin nur durch die Zwangsabgaben der indigenen Bevölkerung überlebt hatte, in den Anbau von Tabak ein. Es folgte der erste ökonomische Boom, und zwar anfangs vornehmlich zulasten englischer Arbeitsverpflichteter (indentured servants1 ). Die Ausbeutung von „Sklaven“ aus der Karibik und Afrika kam erst ein paar Jahrzehnte später hinzu.

Die Einwanderer aus England konnten wie Vieh gekauft und verkauft, entführt, gestohlen, beim Kartenspiel verpfändet oder noch vor ihrer Ankunft in Amerika dem Gewinner eines Rechtsstreits zugesprochen werden. Sie wurden geschlagen, verstümmelt und konnten ungestraft getötet werden. Einem Mann wurden beide Arme gebrochen und seine Zunge mit einer Ahle durchbohrt, weil er sich despektierlich über den Gouverneur geäußert hatte. Einem anderen wurde ein Ohr abgeschnitten und eine zweite siebenjährige Knechtschaft auferlegt.2

Das koloniale Virginia war ein gewinnorientiertes Unternehmen, und nur wer eine große Zahl von Arbeitern unterhielt, wurde im Tabakboom reich. Weder ihre weiße Hautfarbe noch ihre englische Staatsangehörigkeit schützten die Arbeiter vor extremer Brutalität und Ausbeutung. Die einzige Erniedrigung, die ihnen erspart blieb, war lebenslange Sklaverei, die sich auch auf Kinder und Kindeskinder erstreckt – wie bei den Menschen, die später aus Afrika verschleppt wurden.

Wissenschaftler verfechten gelegentlich die These, die Engländer wären diesem Geschick entgangen, weil die Europäer die Unterdrückung von Menschen ihrer eigenen Hautfarbe nur bis zu einem gewissen Grad geschehen ließen. Solche Folklore kann nur glaubhaft finden, wer sich im Halbdunkel der Rassenideologie bewegt. Bei Licht betrachtet, sieht es anders aus: Griechen und Römer haben Menschen ihrer eigenen Hautfarbe versklavt, Europäer hielten Europäer sowohl in Sklaverei als auch in Leibeigenschaft, das englische Gesetz der Tudor-Zeit gestattete die Versklavung von Landstreichern.

Den Engländern war keine Grausamkeit zu extrem, um die angeblich wilden – und zweifellos hellhäutigen – Iren unter Kontrolle zu bringen. Lordprotektor Oliver Cromwell verkaufte Überlebende des Massakers von Drogheda 1649 als Sklaven nach Barbados, und seine Leute versteigerten regelmäßig irische Kinder an Pflanzer auf den karibischen Inseln.

Die gleiche Hautfarbe und Nationalität haben der Gewalt und Unterdrückung nie Grenzen gesetzt. Das hat stets nur ein starker und effektiver Widerstand geschafft. Die Freiheit der Engländer aus der Unterschicht – und die etwas geringere Freiheit der Engländerinnen der Unterschicht – waren kein Geschenk des Adels, der sie den Menschen der eigenen Hautfarbe oder Nationalität wohlwollend gewährt hat. Sie war vielmehr das Ergebnis jahrhundertelanger Auseinandersetzungen, offen und verdeckt, friedlich und gewaltsam, bei denen Grenzen definiert wurden. Jeder Freiheitsgewinn, den die unteren Klassen für sich in Anspruch nahmen, war das vorläufige Ergebnis der letzten Runde eines beständigen Kampfs und bestimmte die Ausgangslage für die nächste Runde.

Im frühen kolonialen Virginia verloren die Vertragsarbeiter zwar viele der in England erkämpften Zugeständnisse an ihre Würde und ihr Wohlergehen, aber eben nicht alle. Wären sie bei ihrer Ankunft massenhaft versklavt worden, wäre es gefährlich geworden für die Herren, die zahlenmäßig unterlegen waren und zudem die Ureinwohner fürchteten, die eventuelle Kämpfe unter ihren Feinden hätten ausnutzen können. Überdies wäre der Nachschub an billigen Arbeitskräften aus England schnell versiegt, wenn sich dort die Versklavung neu eingetroffener Einwanderer herumgesprochen hätte.

Selbst für die gierigsten und kurzsichtigsten Geschäftemacher waren die katastrophalen Folgen vorhersehbar. In Virginia blieben die Menschen nicht lange am Leben: Zwischen 1625 und 1640 kamen 15 000 Einwanderer in die Kolonie, doch die Bevölkerung wuchs nur von etwa 1300 auf 7000 bis 8000 Siedler. Da wäre die restliche Lebenszeit der meisten Sklaven ohnehin kürzer gewesen als eine siebenjährige Vertragszeit.3

Die Menschen aus der Karibik und Afrika waren dagegen nicht Teil der langen Geschichte von Auseinandersetzungen zwischen der englischen Unterschicht und den Brotherren. Sie waren schon versklavt und in den Plantagenanbau eingearbeitet, als sie an die Siedler in Virginia verkauft wurden. Erst viel später wurde dieses Vorgehen mit dem verknüpft, was später als „Rasse“ bezeichnet wurde.

Weiße Plantagenarbeit in Virginia

Es dauerte einige Zeit, bis die Sklaverei systemisch wurde. Obwohl afrikanische Versklavte oder Versklavte afrikanischer Abstammung aus der Karibik ab 1619 nach und nach ins Land kamen, wurde die Institution der erblichen Sklaverei erst 1661 gesetzlich verankert. Tatsächlich besaßen die in den Jahren zwischen 1619 und 1661 aus Afrika Deportierten noch Rechte, die in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts nicht einmal freie Schwarze beanspruchen konnten.4

Anfangs war das Geschäft mit der Arbeitskraft allein nach praktischen Gesichtspunkten geregelt. Solange die Sklaverei nicht systematisch angewandt wurde, gab es keinen Bedarf an entsprechenden Gesetzen. Und die Sklaverei konnte nicht planmäßig betrieben werden, solange ein afrikanischer Versklavter auf Lebenszeit doppelt so viel kostete wie ein englischer Arbeiter in zeitlich begrenzter Schuldknechtschaft – und noch dazu innerhalb von fünf Jahren starb.

Erst in den 1660er Jahren änderte sich die morbide Arithmetik. Der Preis für Tabak war gesunken, und die Anzahl auswanderungswilliger Engländer, die dafür zur Zwangsarbeit bereit waren, war ebenfalls rückläufig. Die Afroamerikaner blieben inzwischen so lange am Leben, dass es sich lohnte, sie permanent zu versklaven. Auch die Euroamerikaner lebten nun lange genug, um sowohl die Freiheit als auch das Geld oder das Land zu erhalten, auf das sie am Ende ihrer Vertragsarbeitszeit Anspruch hatten. Allerdings hatten die Plantagenbesitzer vorgesorgt und ihren Landbesitz in Küstennähe nach und nach enorm vergrößert.

Dadurch waren die freigelassenen Arbeiter gezwungen, entweder Ackerland von den Grundbesitzern zu pachten – und somit weiter für deren Bereicherung zu arbeiten – oder sich in Grenzregionen niederzulassen. Diese aber lagen abseits der Transportwege über das Wasser. Überdies drohten dort Angriffe durch die Ureinwohner, die sich gegen die neuerliche Landnahme durch Fremde wehrten, nachdem sie bereits aus der Küstenregion vertrieben worden waren.

In den 1670er Jahren sahen sich die Herren von Virginia mit der potenziellen Bedrohung durch eine große Gruppe junger, weißer Freigelassener konfrontiert, die landlos, alleinstehend und unzufrieden waren – und gut bewaffnet waren.

Tatsächlich initiierte 1676 eine Gruppe Freigelassener, zu der sich auch Arbeitsverpflichtete und Versklavte gesellten, den größten Volksaufstand im kolonialen Nordamerika. Sie plünderten die Besitztümer der Wohlhabenden, brannten die Hauptstadt nieder und brachten den königlichen Gouverneur und sein Gefolge dazu, sich vorüber­gehend an der Ostküste zu verstecken. Der Aufstand endete, ohne dass eine Änderung des Herrschaftssystems erreicht oder auch nur angestrebt worden wäre. Doch bei den Reichen und Mächtigen wuchsen Misstrauen und Angst vor der immer größeren weißen Unterschicht.

Die Einfuhr von immer mehr Versklavten aus Afrika5 bot die willkommene Möglichkeit, ein ausreichendes Kontingent von Plantagenarbeitern zu bekommen. So versuchte man zu verhindern, dass sich eine potenziell explosive Menge bewaffneter Engländer bildete, denen die einem Engländer zustehenden Rechte verweigert wurden und die über die materiellen und politischen Ressourcen verfügten, ihre Wut spürbar werden zu lassen.

Der Begriff der „Rasse“ als kohärente Ideologie entstand jedoch nicht gleichzeitig mit dem Import der Versklavten aus Afrika. Er brauchte viel länger, um systemisch zu werden. Es ist ein Gemeinplatz, dass Menschen eher unterdrückt werden, wenn sie als von Natur aus minderwertig gelten. Dabei ist es eher umgekehrt: Menschen gelten als minderwertig, wenn sie bereits als Unterdrückte wahrgenommen werden.

Die afrikanischen Plantagenarbeiterinnen, die bereits als Versklavte neu ins Land kamen, mögen den weißen Engländern heidnisch, fremd und andersartig vorgekommen sein. Aber diese Mixtur ergab allein noch keine Ideologie der rassischen Minderwertigkeit. Dazu musste noch eine weitere Zutat kommen: ihre Überführung in eine Gesellschaft, in der ihnen sämtliche Rechte vorenthalten wurden, die alle anderen für sich als Naturrecht beanspruchten.

1 Identured servants waren Auswanderer, die sich als Gegenleistung für die bezahlte Überfahrt zur Arbeit auf den Plantagen verpflichten mussten. Nach Ablauf von meist fünf oder sieben Jahren stand ihnen eine Geldsumme oder ein Stück Land zu.

2 Edmund S. Morgan, „American Slavery, American Freedom: The Ordeal of Colonial Virginia“, New York (Norton) 1975.

3 Edmund S. Morgan, „American Slavery …“, siehe Anmerkung 2.

4 Vgl. Willie Lee Rose (Hg.), „A Documentary History of Slavery in North America“, New York (Oxford University Press) 1976.

5 Zunächst wurden Sklaven vor allem aus der Karibik nach Virginia gebracht, ab den 1680er Jahren zunehmend aus Afrika. In der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts waren drei Viertel der schwarzen Bevölkerung in Virginia afrikanischer Herkunft. Siehe Ira Berlin, „Time, Space, and the Evolution of Afro-American Society on British Mainland North America,“ American Historical Review, Bd. 8, Februar 1980.

Aus dem Englischen von Nicola Liebert

Barbara J. Fields unterrichtet amerikanische Geschichte an der New Yorker Columbia University, Karen E. Fields ist Soziologin. Dieser Text ist ein gekürzter Auszug aus ihrem Buch „Racecraft. The Soul of Inequality in American Life“, London/New York (Verso) 2012.

Le Monde diplomatique vom 09.12.2021, von Barbara J. Fields und Karen E. Fields