Pokern um Afghanistan
Das „Great Game“ um das postamerikanische Afghanistan hat bereits begonnen. Nachbarn und Regionalmächte versuchen, die neuen geopolitischen Realitäten zu ihren Gunsten zu nutzen. Um die Taliban werben sie mehr oder weniger offensiv, sie alle eint die Angst vor einem Erstarken des Terrorismus.
von Jean-Luc Racine
Nach dem Rückzug der USA, dem Sieg der Taliban und der Wiedererrichtung des Islamischen Emirats Afghanistan verschärft sich die humanitäre Krise für die breite Bevölkerung, die bereits durch die 40 Jahre währenden bewaffneten Auseinandersetzungen ausgelaugt ist. Zugleich zeichnet sich eine neue Bedrohung ab, die vom Islamischen Staat Khorasan (IS-K), dem regionalen Ableger des IS ausgeht.
Die Großmächte sind offensichtlich noch damit beschäftigt, sich auf die neuen geopolitischen Verhältnisse in der Region einzustellen. Bisher wurde die Taliban-Regierung noch von keinem Staat der Welt anerkannt, auch nicht von den Großmächten der Region, China und Indien.
Peking befindet sich heute in einer unerhört starken Position – anders als zu Zeiten des Großen Spiels („The Great Game“) zwischen Großbritannien und Russland im 19. und 20. Jahrhundert, das in die Zeit des Niedergangs des chinesischen Kaiserreichs fiel. Dagegen steckt Indien seit der Rückkehr der Taliban in einer Zwickmühle: Während viele Länder in den letzten Jahren auch Kontakte zu den aufständischen Taliban knüpften, setzte Indien allein auf enge Beziehungen zu den Regierungen der Präsidenten Hamid Karsai (2004–2014) und Aschraf Ghani (2014–2021).
Die indisch-afghanischen Beziehungen reichen bis weit in die Antike zurück, auch wenn die Hindunationalisten die Zeiten, in denen Teile des großen Indiens unter islamische Herrschaft gerieten, gern aus dem kollektiven Gedächtnis löschen würden (siehe Kasten auf Seite 7). Das 1947 unabhängig gewordene Indien schloss mit Afghanistan 1950 einen Freundschaftsvertrag. 2011 kam ein strategisches Partnerschaftsabkommen hinzu, das einen politischen Dialog, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit und den gemeinsamen Antiterrorkampf vorsieht.
Indiens Einsatz hat sich nicht gelohnt
Heute studieren über 10 000 afghanische Stipendiatinnen und Stipendiaten an indischen Universitäten und etwa 130 Kadetten an Militärakademien. Neu-Delhi lieferte logistisches Material und seit 2018 auch Kampfhubschrauber nach Kabul. Allerdings hat Indien keine eigenen Soldaten entsandt; Neu-Delhi ließ jedoch seine Botschaft, seine Konsulate und einige große Infrastrukturprojekte von paramilitärischen Kräften bewachen.
Indien hat seit 2004 fast 3 Milliarden US-Dollar (2,6 Milliarden Euro) in Afghanistan investiert. Damit wurden hunderte Entwicklungsvorhaben gefördert, aber auch Leuchtturmprojekte wie das 2015 eingeweihte Parlamentsgebäude oder der Staudamm von Salma im Westen des Landes.
Als die Blockade Pakistans die Straßentransporte nach Afghanistan unterband, schuf Indien einen Seeweg über den 2017 eröffneten iranischen Hafen Tschahbahar. Von dort gelangen Waren über die sogenannte Ring Road in die wichtigsten afghanischen Städte: Kandahar und Herat im Westen sowie Kabul und Kundus im Norden – und von dort weiter nach Zentralasien.
Dies bot Neu-Delhi eine Gelegenheit, seinem Nachbarn und ewigen Rivalen Pakistan in den Rücken zu fallen. Und auch Kabul konnte seinen Handlungsspielraum gegenüber Islamabad erweitern, als die vormals engen Beziehungen zu kriseln begannen. Davon zeugt etwa die letzte Erklärung Hamdullah Mohibs, des Nationalen Sicherheitsberaters der Ghani-Regierung, kurz vor deren Sturz durch die Taliban: „Unser Nachbar Pakistan, dessen verhängnisvolle Ziele den Afghanen und der Welt deutlich vor Augen stehen, nutzt eine machthungrige Gruppierung, um Afghanistan ein weiteres Mal zu schwächen.“1
Inzwischen zeigt sich Neu-Dehli – zur großen Empörung von Islamabad – fest davon überzeugt, dass die Machtübernahme der Taliban Pakistan sehr gelegen kommt. Dagegen sieht man den eigenen Einfluss in der strategisch wichtigen Region schwinden. Indiens größte Sorge ist eine erneute Aktivierung dschihadistischer Gruppen in Pakistan, die Kaschmir angreifen könnten. Man denkt dabei an die Laschkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed, die seit Langem gute Beziehungen zu den
neuen Herren in Kabul pflegen. Schließlich hat sich Neu-Delhi dann doch zu Gesprächen mit der Taliban-Regierung durchgerungen.
Im Juni 2021, als sich der Durchmarsch der Taliban allmählich abzeichnete, wurden in Doha erste Kontakte geknüpft. Die erste offizielle Begegnung fand am 1. September statt. Gesprächspartner des indischen Botschafters in Katar war Schir Mohammad Abbas Staneksai, einer der Unterhändler, die im Februar 2020 das Abkommen zwischen den Taliban und den USA ausgehandelt hatten.2 Eine Woche später wurde er zum Vizeaußenminister der provisorischen Regierung des Islamischen Emirats ernannt.
Bereits vor dieser Begegnung hatte Staneksai versichert, man wolle „die kulturellen, wirtschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen zu Indien wie in der Vergangenheit fortsetzen“.3 Bekräftigt wurde diese Absicht am 20. Oktober bei einem Treffen des Vizepremierministers der Taliban, Abdul Salam Hanafi, und des für Pakistan, Afghanistan und Iran zuständigen Staatssekretärs im indischen Außenministerium am Rande der internationalen Konferenz in Moskau.
Indien rechtfertigte diese Gespräche mit der Notwendigkeit, humanitäre Hilfe zu leisten, doch dabei wird man vor allem Kaschmir im Auge gehabt haben. Zu diesem Punkt versicherten die Taliban, sie würden sich aus Prinzip nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen und sich keinesfalls an einem antiindischen Dschihad in Kaschmir beteiligen. Als bloße Propaganda taten sie die Anschuldigung ab, das mächtige Haqqani-Netzwerk – eine bewaffnete islamistische Gruppe mit mehreren tausend Kämpfern – sei für die Angriffe auf indische Interessen in Afghanistan verantwortlich und arbeite mit Laschkar und Jaisch zusammen.4
Andere Taliban äußerten hingegen, das Emirat würde „die Stimmen der Muslime in Kaschmir zu Gehör bringen“, ohne jedoch an bewaffneten Operationen teilzunehmen.5 Daraus lässt sich zumindest ableiten, dass es innerhalb der aufständischen Bewegung in Kaschmir keine eindeutige Haltung gibt. Zumal diese weiterhin im Schatten Pakistans agiert, das die Rückkehr der Taliban begrüßt.
Tatsächlich ist man in Islamabad über die Rückkehr der Taliban erkennbar froh. Die hatte schon die zweimalige Premierministerin Benazir Bhutto (1988–1990 und 1993–1996) unterstützt, was eher geopolitische als ideologische Gründe hatte: Es ging darum, Afghanistan zu destabilisieren, dem indischen Einfluss entgegenzuwirken und den eigenen Einfluss zu stärken, um sich ungefährdeten Zugang nach Zentralasien zu sichern.
1997 erkannten nur drei Staaten das Islamische Emirat an: Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Nach dem Sturz des Regimes im Oktober 2001 nahm Pakistan die Führung der Taliban auf und bot ihren Kämpfern Zuflucht in den Stammesgebieten an der afghanischen Grenze. Bei den Gesprächen zwischen den Taliban und den USA in Doha spielte Islamabad eine wichtige Vermittlerrolle. Dagegen hatten sich die Beziehungen zur Kabuler Regierung unter Aschraf Ghani stark verschlechtert; desgleichen zur indischen Regierung unter Premierminister Narendra Modi, der 2019 die Autonomie des Bundesstaats Jammu und Kaschmir aufgehoben hatte.6
Doch es sind auch Zwischentöne aus Islamabad zu vernehmen. Da die Regierung angesichts der wirtschaftlichen Misere mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) über einen Kredit verhandelt und das Land nach wie vor auf der grauen Liste der internationalen Financial Action Task Force (FATF) und damit im Verdacht der Terrorismusfinanzierung steht, hat Premierminister Imran Khan eine Doppelstrategie gewählt.
Zum einen beteiligt er sich an den Aufrufen der internationalen Gemeinschaft an die Taliban, eine Regierung für ganz Afghanistan zu bilden, die Menschen- und Frauenrechte achtet und verhindert, dass das Land erneut zu einer Drehscheibe des weltweiten Terrorismus wird. Zum anderen appelliert er an die westlichen Länder, das Taliban-Regime nicht zu isolieren und ihm Zeit zu geben, seine Öffnungsversprechen einzulösen.
Imran Khan fordert zudem, die bei europäischen und US-Banken konfiszierten Devisenreserven der Afghanischen Zentralbank ebenso freizugeben wie die von der Ghani-Regierung ausgehandelten Kredite, die von Weltbank und IWF zurückgehalten werden. Dabei handelt es sich um insgesamt etwa 10 Milliarden US-Dollar.
Hinter dieser Rhetorik wird die Angst vor einer neuen große Flüchtlingswelle sichtbar;7 aber auch der Wunsch, die afghanischen Taliban mögen ihre paschtunischen Brüder von der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) im Zaum halten.
Seit 2020 hat die TTP erneut mehrere Attentate gegen die pakistanische Armee und die schiitische Minderheit des Landes verübt, was zeigt, dass sie sich von der Niederschlagung durch die Regierung fünf Jahre zuvor erholt hat. Um die Gemüter zu beruhigen, agieren die afghanischen Taliban nun als Vermittler zwischen der TTP und Vertrauten Khans. Dabei geht es um einen Waffenstillstand oder gar eine Amnestie, wobei letztere Idee in Pakistan auf heftige Kritik stößt.
Auch der IS-K stellt für Islamabad eine ernsthafte Bedrohung dar, die allerdings von der neuen afghanischen Regierung trotz mehrerer tödlicher Anschläge heruntergespielt wird. Dass der pakistanische Geheimdienstchef am 5. September, zwei Tage vor dem Auftritt der neuen Regierung, nach Kabul reiste, bezeugt die engen Verbindungen der Taliban mit Islamabad. Auf die verweist auch die starke Repräsentanz des Pakistan nahestehenden Haqqani-Netzwerks in der Kabuler Regierung. Zwar würden manche Taliban-Führer den Zugriff Pakistans gern ein wenig lockern, doch in dieser Hinsicht ist der Spielraum des Islamischen Emirats noch sehr begrenzt.
Das AfPak-Konzept, das die Obama-Regierung von 2010 entworfen hatte, das Afghanistan und Pakistan als zusammengehörige Konfliktregion definierte, ist immer noch in Kraft. Demnach führt auch für Washington kein Weg an Islamabad vorbei. Pakistan ist ein Pflichtpartner, auch wenn die Neuorientierung der USA in Richtung Indopazifik eher Indien zugutekommt und die künftigen Beziehungen zu Pakistan im Ungewissen lässt.
Die wichtigsten ausländischen Akteure haben zwar ganz ähnliche Erwartungen an die neue afghanische Regierung, doch ihre langjährigen Vermittlungsbemühungen sind gescheitert: Weder der 2011 begonnene, später in „Heart of Asia“ umbenannte „Istanbul-Prozess“ noch die in Moskau organisierten Konferenzen unter Beteiligung der Taliban haben einen echten innerafghanischen Dialog in Gang gebracht, zu dem sich die Aufständischen im Doha-Abkommen verpflichtet hatten.
Alle Welt fordert nun eine Regierung unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen und die Einhaltung der Menschenrechte. Dahinter stehen vor allem Sicherheitsbedenken. Die Angst vor einem Wiederaufleben des Terrorismus vereint alle Beteiligten, allerdings nach jeweils eigenen Interessen.
Russland und die nördlichen Nachbarstaaten wollen vor allem jegliche Ausbreitung des IS-K in Zentralasien verhindern, etwa durch Stärkung der Islamischen Bewegung Usbekistans. China geht es um die Zerstörung der Islamischen Partei Turkestan, das Sprachrohr der separatistischen Uiguren, die ihre Basis in der afghanischen Provinz Badakshan haben soll. Iran macht sich Sorgen wegen der Bedrohung durch den IS-K und die radikalen Sunniten der Organisation Dschundollah in der Provinz Sistan-Balutschistan, die an Pakistan und Afghanistan grenzt. Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA wollen vor allem die terroristische Bedrohung durch den IS eindämmen.
Bei diesen sicherheitspolitischen Bestrebungen spielen auch der Kampf gegen den Opiumhandel und der Zugriff auf die bedeutenden afghanischen Bodenschätze (darunter das strategisch bedeutsame Lithium) eine Rolle. Dabei zeichnen sich bereits vielfältige mögliche Bündnisse ab, die in diplomatischen Gesprächen sondiert werden. So organisierte Russland am 20. Oktober eine Konferenz mit den Taliban in Moskau, an der auch Vertreter Chinas, Pakistans, Irans, Kasachstans, Kirgistans, Turkmenistans und Usbekistans teilnahmen.8
Bei Investitionen hat China die besten Karten
Die USA lehnten die Einladung ab, Indien dagegen war vertreten und sagte humanitäre Hilfe zu. Zum Treffen der „Nachbarn Afghanistans“ (Iran, China, Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Usbekistan plus Russland) am 27. Oktober in Teheran war Indien allerdings nicht eingeladen.9
Jedoch hatte die indische Regierung Gelegenheit, am G-20-Sondergipfel zu Afghanistan vom 12. Oktober teilzunehmen, bei dem Narendra Modi forderte, „eine einheitliche internationale Antwort“ auf die Rückkehr der Taliban zu finden. Modi berief sich dabei auf die Resolution 2593, die der UN-Sicherheitsrat – unter der Präsidentschaft Indiens – am 30. August angenommen hatte. Sie enthält die üblichen Themen (Kampf gegen den Terror, inklusive Regierung, Einhaltung der Menschenrechte), hebt aber vor allem die terroristischen Gefahr hervor, die aus Sicht Neu-Delhis auch von Pakistan ausgeht.
Jenseits der diplomatischen Verlautbarungen herrscht allgemeiner Konsens, dass China, was mögliche Investitionen in Afghanistan betrifft, am besten im Rennen liegt. Die chinesische Führung will das Land in seine Strategie der „Neue Seidenstraße“ integrieren, die über Zentralasien und den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor führen soll.
Für chinesische Investitionen sind vor allem die afghanischen Bodenschätze interessant. Schon vor der Einnahme Kabuls hatten die Taliban versucht, Peking zu besänftigen, indem sie versprachen, sich nicht in ihre inneren Angelegenheiten (sprich: in Xinjiang) einzumischen. Ende Juli empfing der chinesische Außenminister Wang Yi den Mitbegründer der Taliban, Mullah Abdul Ghani Baradar. Diese Gespräche wurden im Oktober in Doha fortgesetzt, wo Baradar bereits als Vizeministerpräsident auftrat.
Indien sorgt sich aber nicht nur um seine Beziehungen zu China, die seit den schweren Zwischenfällen 2020 an der Grenze angespannt sind,10 sondern auch um das Verhältnis zu seinen beiden wichtigsten Partnern: Russland und Iran. Seit dem Freundschaftsvertrag von 1971 bestehen enge Verbindungen zu Moskau, die auch den Niedergang der UdSSR überlebt haben.
Wladimir Putins Russland unterhält intensive diplomatische und militärische Beziehungen zu Indien und bleibt weiterhin dessen wichtigster Waffenlieferant, auch wenn sein Anteil rückläufig ist (49 Prozent der indischen Importe in den Jahren von 2016 bis 2020). Gleichzeitig hat sich Neu-Delhi wieder an Washington angenähert und Moskau an Islamabad.
Es wäre jedoch übertrieben, an ein Ende der strategischen Partnerschaft zu glauben: Vor Kurzem wurden die ersten bilateralen 2+2-Gespräche (über Verteidigung und Außenpolitik) angekündigt, und am 6. Dezember reiste Putin zum jährlichen Indien-Russland-Gipfel in Neu-Delhi.
Was Iran betrifft, so wurde der von Indien mitfinanzierte Ausbau des Hafens Tschahbahar fortgesetzt, nachdem die USA die Sanktionen für dieses auch für Afghanistan wichtige Projekt aufgehoben hatten. Auf Druck der Trump-Regierung hatte Neu-Delhi jedoch seine Öl- und Gasimporte aus Iran deutlich reduziert.
In Teheran herrscht die Einschätzung, dass der islamische Nationalismus der Taliban derzeit das geringere Übel ist, weil er sich als Gegenpol zum internationalistischen Dschihadismus des IS-K eignet. Zwar fordert man von Kabul den Schutz und Respekt für die schiitische Hazara-Minderheit, aber zu den Übergriffen, die in mehreren afghanischen Provinzen gegen Hazara verübt wurden, hat man geschwiegen.
Wie sich zeigt, sind auch in der aktuell ungewissen Lage langfristige Richtungsentscheidungen möglich. So unterzeichneten China und Iran im März 2021 einen Kooperationsvertrag mit einer Laufzeit von 25 Jahren, der einer strategischen Partnerschaft gleichkommt und Iran für das Seidenstraßenprojekt öffnet, das Xi Jinping so am Herzen liegt.
Das hat den iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi, der sein Amt erst kurz vor dem Fall Kabuls übernommen hatte, nicht daran gehindert, auch gegenüber dem indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar den Willen zum Ausbau der Beziehungen zwischen beiden Ländern und zu gemeinsamen Bemühungen um die Stabilisierung Afghanistans zu bekunden. Wie weit dieser Wille tatsächlich reicht, ist allerdings schwer einzuschätzen.
Zum Beispiel kann man keineswegs ausschließen, dass sich die neue Machtbalance zwischen den Konkurrenten um den Einfluss auf das postamerikanische Afghanistan zum Nachteil Indiens entwickeln könnte. Auf der einen Seite sieht sich das indopazifische, vor allem gegen China gerichtete Viererbündnis von USA, Japan, Indien und Australien mit dem Washingtoner Gipfeltreffen vom 24. September gestärkt, bei dem auch eine gemeinsamen Erklärung zu Afghanistan verabschiedet wurde. Auf der anderen Seite könnte sich gegen diese sogenannten Quad-Länder ein weiteres, informelles Viererbündnis zwischen China, Russland, Iran und Pakistan (Crip) herausbilden.
Diese vier Staaten verbindet nicht allein ihr Antiamerikanismus – der allerdings bei Pakistan nicht so deutlich ausgeprägt ist. Sie wollen außerdem erstens die westlichen Länder, den IWF und die Weltbank dazu bringen, der Taliban-Regierung die eingefrorenen afghanischen Geldreserven auszuzahlen; zweitens in der Region keine US-Militärbasen, die den IS-K bekämpfen sollen; und sie teilen drittens die große Sorge vor dem IS.
Vor allem Moskau fürchtet, islamistische Bewegungen in Zentralasien könnten sich auf irgendeine Weise mit dem IS verbinden. Am Rande des Gipfeltreffens der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), das am 17. September unter Beteiligung Indiens stattfand, veröffentlichten die Crip-Länder eine gemeinsame Erklärung, in der sie an „jene Staaten“ (gemeint sind die Nato-Staaten) appellierten, „die als Erste die Verantwortung für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wiederaufbau in Afghanistan nach dem Krieg übernehmen und vordringlich die humanitäre und wirtschaftliche Hilfe leisten müssen, die das Land braucht“. Des Weiteren betonten sie „die Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu bündeln, um drohende Gefahren abzuwehren, vor allem durch wachsenden Terrorismus und Drogenhandel“.11
Die Lage ist noch komplexer, seit am 18. Oktober ein weiteres Viererbündnis angekündigt wurde, dem die USA, Indien, Israel und die Vereinigten Arabischen Emiraten angehören. Diese Wirtschaftsallianz soll sich nach Aussage des indischen Außenministers auch mit maritimer Sicherheit und „globalen Fragen“ befassen.
Am folgenden Tag mahnte ein Leitartikel in der indischen Tageszeitung The Hindu zur Vorsicht: „Indien muss Acht geben, dass es sich nicht in den zahlreichen Konflikten in Westasien verstrickt. Zwischen diesem neuen Block und Iran herrschen weiterhin extreme Spannungen. Indien, das sich in der indopazifischen Region als Bündnispartner der USA begreift, muss nach dem amerikanischen Rückzug aus Afghanistan mit wachsender Unsicherheit in Kontinentalasien rechnen. Und es muss mit Ländern wie Iran eng zusammenarbeiten, um die Herausforderungen zu meistern, die im postamerikanischen Afghanistan entstehen.“12
Mit der Verschärfung der Konflikte einerseits zwischen Washington und Peking, andererseits zwischen Washington und Moskau scheint sich in der geopolitischen Tektonik tatsächlich eine wachsende Kluft zwischen einem chinesisch-russisch dominierten Eurasien und einem Indopazifikraum unter US-Hegemonie herauszubilden. Von den Republikanern in Washington kommt bereits die Forderung nach einem regelrechten Bündnis mit Neu-Delhi, „dem einzigen Partner, der die Südgrenze Chinas aus der Nähe überwachen könnte“.13
Gegen solche Pläne kommt Einspruch aus Peking: „Wenn Indien sich den USA anschließt, könnte sich das Land am Ende in einer ähnlichen Situation wie heute Frankreich wiederfinden.“14 Gemeint ist damit das umstrittene Aukus-Militärbündnis (Australien, Großbritannien und die USA) und Frankreichs geplatzter U-Boot-Deal. Indien ist über Aukus in dieser Phase keineswegs glücklich, will aber offiziell keine Stellung beziehen, obwohl alle Beteiligten seine Partnerländer sind. Mit der militärischen Dimension des neuen Bündnisses scheint sich Neu-Delhi aber anfreunden zu können, vor allem als Signal an Peking.
Pakistan nutzt seinen guten Draht zu den Taliban
Ungeachtet der Fragen, die sich aus Aukus ergeben, bemüht sich die Biden-Administration um gute Beziehungen mit Indien, obwohl es noch andere Streitpunkte gibt (wie Handel oder russische Waffenlieferungen). Sie initiiert mehrere hochrangig besetzte Treffen in Washington oder Neu-Delhi und orientiert sich dabei am Konzept der „Partnerschaft“, wie die lange Presseerklärung vom 24. September nach dem Treffen des US-Präsidenten mit Premier Modi zeigt.15
Angesichts dieser vielschichtigen Entwicklung blieb auch Modi nicht untätig. Neben den Treffen mit den USA pflegt Indien – wie erwähnt – kontinuierliche Beziehungen zu Russland und hält auch an den Verbindungen nach Zentralasien fest. Im September führte Außenminister Jaishankar anlässlich des SOZ-Gipfels in Tadschikistan, wo Indien militärische Einrichtungen unterhält, zahlreiche bilaterale Gespräche: Solche Kontakte pflegte er auch auf der Cica-Konferenz für Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien. Bei dieser Konferenz in Kasachstan tauschte er sich nicht nur mit seinen Amtskollegen aus Zentralasien aus, sondern auch mit Diplomaten aus China und Iran.
Im Oktober lud Indien zu einem ersten Strategiegipfel mit Kirgistan in Neu-Delhi ein. In der indischen Hauptstadt fand am 10. November auch der dritte „Dialog zur regionalen Sicherheit“ statt, diesmal mit Fokus auf Afghanistan. Beteiligt waren die nationale Sicherheitsberater (oder vergleichbare Amtsträger) aus Russland, Iran und den fünf Republiken Zentralasiens. Pakistan lehnte die Einladung ganz offiziell aus antiindischen Gründen ab, während China Terminprobleme vorschützte.
Keine Terminprobleme hatten die chinesischen Vertreter, die einen Tag später in Islamabad an einem Treffen im „Troika-plus-Format“ (Russland, die USA, China und Pakistan – Indien blieb ausgeschlossen) teilnahmen, bei dem es ebenfalls um Afghanistan ging. Der Zufall wollte es, dass der neue afghanische Außenminister Mullah Amir Khan Muttaqi gerade zu einem dreitägigen Besuch in der pakistanischen Hauptstadt weilte, so dass zahlreiche bilaterale Konsultationen stattfinden konnten.
Das Afghanistan der Taliban ist letztendlich ein Konfliktherd, in dem sämtliche Widersprüche der Weltordnung wie in einem Brennglas gebündelt sind. Alle Akteure fordern (mehr oder minder aufrichtig) eine „inklusive“ Regierung, um innere Stabilität zu gewährleisten, was das Islamische Emirat derzeit noch ablehnt. Alle haben Angst vor einem Wiederaufleben des Terrorismus.
In Afghanistan hat eine Ära ohne US-Präsenz begonnen, was noch lange nicht heißt, dass wir in einer postamerikanischen Welt angekommen sind. Doch das Geflecht aus internationalen Interessen, regionalen Spannungen und Ambitionen der Großmächte – vornehmlich der USA, Chinas und Russlands – macht eine aktuelle Entwicklung sichtbar: Der Multilateralismus wird abgelöst durch eine Multipolarität, in der verschiedene Kräfte um Einfluss konkurrieren, und zwar im Islamischen Emirat Afghanistan wie in der indopazifischen Großregion.
1 „Qureishi Strongly Reacts to Afghan NSA Mohib’s Remarks“, Tolo News, Kabul, 6. Juni 2021.
2 Siehe Georges Lefeuvre, „Kein bisschen Frieden“, LMd, April 2020.
6 Siehe Vaiju Naravane, „Gefährliches Spiel in Kaschmir“, LMd, Oktober 2019.
10 Siehe Vaiju Naravane, „Konfrontation im Himalaja“, LMd, Oktober 2020.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Jean-Luc Racine ist emeritierter Forschungsleiter am französischen Forschungszentrum CNRS und Senior-Forscher am Asia Centre.
Historische Verbindungen
Indien und Afghanistan verbindet eine lange Geschichte. Sie reicht bis zu Alexander dem Großen zurück, dessen Eroberungsfeldzüge ihn im 4. Jahrhundert v. Chr. bis an den Indus führten. Ein Jahrhundert später breitete sich in Baktrien, das den Norden des heutigen Afghanistans und südliche Gebiete von Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan umfasste, eine graeco-buddhistische Hochkultur aus. Vielfache kulturelle Impulse gingen vom benachbarten Maurya-Reich aus, das sich von der Ganges-Ebene bis in den Süden Afghanistans erstreckte. Als die Taliban im März 2001 die Buddhastatuen von Bamiyan zerstörten, versuchten sie diese Geschichte auszulöschen.
Auf dem Gebiet des heutigen Afghanistans trafen sich die indische, griechische und persische Zivilisation, und ab dem 7. Jahrhundert öffnete sich das Land auch dem Islam. Unter dem Ghaznawidenherrscher Mahmud von Ghazni (971–1030) begannen Feldzüge Richtung Indien. Ab dem 13. Jahrhundert wurden auf indischem Gebiet erste Sultanate errichtet. Die Hindunationalisten von heute sehen darin den Beginn der muslimischen Herrschaft über ihr Land, die ihren Höhepunkt 1526 erreichte, als Babur, ein Timuride aus Kabul, die Grundlagen für das prunkvolle Mogulreich legte.
Schließlich kam der Ausbreitungsdrang des British Raj, des britischen Kolonialreichs auf dem indischen Subkontinent, nach drei Anglo-Afghanischen Kriegen (1839–1842, 1878–1880 und 1919) angesichts der Unbesiegbarkeit Afghanistans zum Stillstand. Afghanistan, der „Friedhof der Imperien“, erlangte 1919 die vollständige Unabhängigkeit.
1950 unterzeichneten Afghanistan und das inzwischen ebenfalls unabhängige Indien einen Freundschaftsvertrag. Die beiden Staaten pflegte gute Beziehungen, bis der reformorientierte afghanische König Sahir Schah 1973 durch einen Staatsstreich gestürzt wurde.
Als 1979 die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte, um die kommunistische Regierung zu retten, begrüßte die indische Regierung das. Als nach Abzug der Roten Armee die Taliban immer mächtiger wurden, unterstütze Neu-Delhi die ihnen entgegenstehende Nordallianz unter Kommandant Massoud. Als die Taliban 1996 die Macht übernahmen, verlor Indien an Einfluss, Pakistan hingegen profitierte. Erst nach der US-Intervention 2001 und der Amtsübernahme von Hamid Karsai – der in Indien studiert hatte – wurden wieder Kooperations- und Entwicklungsprogramme aufgelegt. Die Rückkehr der Taliban im August 2021 bringt Indien erneut in eine schwierige Lage.