Die Vigilanten
Recht schaffen auf eigene Faust
von Gilles Favarel-Garrigues und Laurent Gayer
An einem Freitagabend im Juli 2021 gibt Mikhail Lazutin das Startsignal: „Alles klar zum Angriff!“ Dann betritt er den Kalinin-Platz, auf dem sich etwa hundert junge Leute zum Feiern und Trinken versammelt haben. Der 25-jährige Moskauer Anführer der Gruppe Lev Protiv (Löwe gegen) erscheint in Begleitung von fünf beeindruckenden Männern und zwei Kameras. Eine Anwohnerin hat Lazutin zu Hilfe gerufen, deren Kinder wegen des Lärms nicht schlafen konnten.
Die jungen Nachtschwärmer auf dem Platz kennen den bekannten Youtuber und seine Leute bereits. Seit mittlerweile sieben Jahren verdirbt Lev Protiv ihnen den Spaß. Von einigen werden die Aktivisten höhnisch begrüßt, andere ballen die Faust, und wieder andere verziehen sich lieber gleich. Der Konsum von Alkohol und Tabak ist auf dem Kalinin-Platz verboten. Lazutin inszeniert sich mal wieder als Ordnungshüter und verlangt von den jungen Leuten, sofort mit dem Trinken aufzuhören. Wenn sie nicht gehorchen, ruft er die Polizei.
Noch bevor die eintrifft, artet die Auseinandersetzung in einen Streit mit Beleidigungen und Handgreiflichkeiten aus, vor allem mit denen, die am meisten getrunken haben. Alles wird von den Lev Protiv-Aktivisten unter Einsatz eines starken Scheinwerfers gefilmt. An diesem Abend erreicht die Aktion ihren Höhepunkt, als in der öffentlichen Toilette auf dem Platz zufällig die Leiche eines jungen Junkies entdeckt wird. Ein aggressiver Mann mit einem Messer in der Hand ergreift die Flucht. Lazutin und seine Männer nehmen die Verfolgung auf, im Schlepptau einen Polizisten, der ihnen kaum hinterherkommt.
Als die Lazutin-Truppe luftschnappend und unverrichteter Dinge zurückgekehrt ist, werden den auf dem Platz wartenden Polizisten bei laufender Kamera die Leviten gelesen: „Schämen Sie sich nicht, Ihren Kollegen allein hinter einem gefährlichen Verbrecher herlaufen zu lassen?“ Dann wird den Beamten mit einer Anzeige gedroht: „Mal sehen, was Ihre Vorgesetzten sagen, wenn sie diese Bilder sehen.“ Und zum Schluss folgt ein moralischer Appell: „Sie sollten Ihre Pflicht tun, genauso, wie wir Bürger die unsere tun!“
Mikhail Lazutin und seine Gruppe sind einerseits Ausdruck des staatlichen Versagen in Putin-Russland, andererseits auch Ausdruck eines globalen Phänomens. Überall auf der Welt treten selbsternannte Gesetzeshüter an die Stelle der Polizei, um gegen Ordnungswidrigkeiten und Verbrechen vorzugehen, oder einfach nur gegen Verhaltensweisen, die sie selbst für unmoralisch halten.1
Die ehrenamtlichen Kämpfer für Recht und Ordnung legitimieren ihre Aktionen mit der Gleichgültigkeit, Nachlässigkeit, Unprofessionalität, ja mit dem Zynismus der staatlichen Ordnungskräfte. Ihre Opfer finden sie unter den Schwächsten der Gesellschaft. Sie nehmen für sich in Anspruch, im Namen der Allgemeinheit zu handeln und unschuldige, wehrlose Menschen zu schützen, womit sie häufig Frauen und Kinder meinen.
Doch die „Gerechtigkeit“, die sie ausüben – durch Patrouillengänge bis zu Lynchjustiz und gemeinschaftlichen
Mord –, ist nicht nur sehr umstritten, sie ist auch spektakulär: Sie knüpft an Bestrafungsrituale früherer Zeiten an und wird in Szene gesetzt, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen.
Der russische Fall ist dabei in mehrerlei Hinsicht einzigartig. Lew Protiw ist seit 2014 aktiv und präsentiert seine Aktionen als „soziales Projekt“, mit dem eine gesunde Lebensweise bei jungen Menschen gefördert werden soll. Michail Lazutin benutzt das Vokabular eines Managers der Zivilgesellschaft: Es gehe um die Durchführung konkreter, unpolitischer „Projekte“ durch Freiwillige, die der Gesellschaft nützlich sein wollen.
Damit reagiert der junge Moskauer auch auf eine Regierungspolitik, die die Zivilgesellschaft von oben kontrollieren will. Organisationen, die dabei als hilfreich erachtet werden, werden eingebunden, während man kritische NGOs verdrängt. In diesem Sinne betrachtet Lazutin das „Monitoring der Ordnungskräfte durch die Bürger“ als Aufgabe von Lew Protiw. Die Gruppe ruft die Polizei, damit sie einschreitet; sie kennt die Rechtslage in und auswendig und weist die Beamten auf ihre Pflichten hin. Diese wiederum fürchten sich vor der Öffentlichkeit und werden kleinlaut.
Die Missionierung der russischen Gesellschaft ist allerdings nicht das einzige Motiv Lazutins. Er ist auch ein überaus geschäftstüchtiger Unternehmer. Drei Tage nach der Aktion im Juli 2021 erscheint das Video davon in mehreren Folgen auf dem Youtube-Kanal von Lew Protiw, der fast 2 Millionen Abonnenten hat. Jedes Video beginnt mit einem Disclaimer, einer Haftungsausschlusserklärung und dem Hinweis, das Ziel des Films sei Sensibilisierung und nicht Gewaltverherrlichung. Unmittelbar danach folgt der Clip einer Bekleidungsmarke, die einen Rabatt für Lazutins Abonnenten anbietet.
Diese und andere auf dem Youtube-Kanal von Lew Protiw platzierten Werbespots bescheren dem Unternehmer und selbsternannten Gesetzeshüter beträchtliche Einnahmen. Lazutin hält damit auch nicht hinterm Berg: Ohne die Rhetorik vom „sozialen Projekt“ aufzugeben, bezeichnet er die Aktionen auch als seine Arbeit, aus der er Kapital zu schlagen versteht. Seine Popularität ist unbestreitbar. Das bezeugen nicht nur die hunderte Millionen Klicks, sondern auch die begeisterten Kommentare samt Selfies mit geballten Männerfäusten zu seinen Videos.
Lew Protiw spiegelt die Law-and-Order-Besessenheit wider, die Russland in den 2010er Jahren erfasst hat. Bei Lazutin besteht die Mission in der muskelstrotzenden Verteidigung der öffentlichen Gesundheit, andere treten als Sittenpolizei in Erscheinung oder als Straßenpatrouillen gegen Kriminalität. Die Gruppen von jungen Leuten ziehen in den Kampf gegen illegale Einwanderer, gegen Drogenhändler oder Pädophile. Aber auch rücksichtslose Autofahrer, die Verkehrsregeln missachten, skrupellose Verkäufer, die abgelaufene Ware anbieten, oder korrupte Verkehrspolizisten geraten ins Visier. Jeder Verein sucht für seine Aktionen eine thematische Nische, in der er sein Markenzeichen setzen kann.
Die Zunahme dieses Phänomens ist nicht zu trennen von der wachsenden Bedeutung der sozialen Medien in Russland seit Ende der 2000er Jahre. Eine Aktion ergibt Sinn, wenn sie gefilmt, anschließend ins Netz gestellt und massenhaft verbreitet wird. Der Einsatz für Recht und Ordnung folgt also einer – mehr oder weniger erfolgreichen – Kommunikationsstrategie und dem Wunsch nach Bekanntheit.
So wird die Aufmerksamkeit von sensationsgierigen Youtube-Nutzern geweckt und damit auch die von finsteren Politaktivisten aus dem rechten Lager. So nahm ein ultraorthodoxer Abgeordneter der Präsidentenpartei Einiges Russland an den Strafaktionen der „Pädophilen-Jäger“ teil und ließ sich dabei filmen. Ein Aktivist der Pro-Putin-Jugendbewegung gründete 2010 die inzwischen weltweit bekannte Gruppe StopHam („Stoppe einen Deppen“), die regelwidrige Autofahrer stellt, filmt und bestraft.2
Zahlreiche Abgeordnete der rechtsextremen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR) von Wladimir Schirinowski, die zur Putin-treuen Systemopposition gerechnet wird, aber einen Teil der Protestwähler auf ihrer Seite weiß, zeigen sich gern mit den jungen und beliebten Ordnungshütern. Sie beteiligten sich etwa an Aktionen gegen Apotheker, die ohne Rezept Drogen verkauft haben, oder gegen Gruppen, die in Hauseingängen Alkohol trinken. Die extreme Rechte versucht so, ihr Image aufzupolieren und ihren gesellschaftlichen Nutzen unter Beweis zu stellen.
2012 machte der für seine xenophoben Gewalttaten bekannte Neonazi Maxim Martsinkewitsch alias Tesak („das Hackbeil“) Jagd auf Pädophile. Er produzierte Videos, in denen zu sehen war, wie er und seine Leute ihre Opfer misshandelten. Den vielen Zuschauern, die diesen Exzessen im Internet folgten, wurden sie gewissermaßen zum Fraß vorgeworfen.
Die Gruppe, die sich „Occupy Pedophilia“ nannte, fand Nachahmer in Neonazikreisen in der Provinz. Auch dort jagte man Personen, die in den sozialen Medien als Straftäter dargestellt wurden, und filmte dann deren Festnahme und Erniedrigung. Ein anderer bekannter Neonazi, Wjatscheslaw Datsik alias „der rote Tarzan“, der sich als Mixed-Martial-Arts-Champion einen Namen gemacht hatte, sorgte 2016 mit einer nächtlichen Strafaktion gegen ein Bordell in Sankt Petersburg für Aufsehen, bei der er die Sexarbeiterinnen und ihre Kunden nackt zum Polizeirevier paradieren ließ.
Der rote Tarzan gegen russische Bordelle
Die russische Regierung tritt gegenüber diesen verschiedenen Gruppen sehr unterschiedlich auf; die einen unterstützt sie, die anderen bekämpft sie mehr oder weniger konsequent. Ähnlich wie seine Freunde von StopHam hat Michail Lazutin etwa von der Regierung zwei Jahre hintereinander (2014 und 2015) umgerechnet knapp 170 000 Euro zur Finanzierung der „Operationen“ von Lew Protiw erhalten.
Die Verbindung zu staatlichen Institutionen ist aber nicht immer so offensichtlich: Andere Gruppen werden unter der Hand finanziert, wie etwa das Junge Antidrogen-Kommando, das zwischen 2010 und 2013 viele Strafaktionen gegen Dealer in Moskau durchführte. Auch diese Kämpfer für Recht und Ordnung filmten ihre Angriffe, waren aber gewalttätiger als Lew Protiw. Sie zerstörten öffentlichkeitswirksam das Eigentum ihrer Opfer, fesselten und verprügelten sie, ohne dass die Polizei jemals einschritt.
Der Staat geht nur gegen solche Aktivisten vor, die entweder militante Neonazis sind – wie Tesak, der 2014 verurteilt wurde und 2020 im Gefängnis starb – oder Blogger, die hohe politische oder administrative Funktionsträger ins Visier nehmen.
Bis jetzt ließ man Michail Lazutin kleine Polizeibeamte öffentlich demütigen, ohne ihm Ärger zu machen. Anders bei dem selbsternannten Ordnungshüter Erik Kituaschwili, genannt Daviditsch, der dafür bekannt ist, korrupte Verkehrspolizisten zu stellen und zu filmen. Als er 2015 in einem Video eine zentrale Abteilung im Innenministerium beschuldigte, in großem Maßstab Handel mit Nummernschildern zu betreiben, griff die Justiz ein. Gegen den Videoblogger mit 4 Millionen Followern wurde plötzlich wegen Betrugs ermittelt.
Ist also das Zeitalter der Selbstjustiz angebrochen? Nicht nur in Russland liebt man den kurzen Prozess. Überall auf der Welt inszenieren sich Heerscharen von selbsternannten Gesetzeshütern und buhlen um öffentliche Aufmerksamkeit.
In der Wüstengegend an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, in den verstopften Straßen im indischen Pandschab, in den verrufenen Barrios der lateinamerikanischen Metropolen oder auf den hektischen Märkten Westafrikas: Selbstjustiz scheint normal geworden zu sein. Die fehlende Präsenz des Staats und die Laxheit der Strafverfolgung scheinen dafür zu sprechen, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen, und das ist es, was die selbsternannten Ordnungshüter glauben tun zu müssen: strafen und dabei selbst gegen das Gesetz verstoßen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Weil sie sich „Übeltäter“ aussuchen, über deren Vergehen gesellschaftlicher Konsens besteht und die darüber hinaus oft zu den Schwächsten der Gesellschaft gehören, bleiben ihre Aktionen meist straffrei; nur Gewaltexzesse werden manchmal gerichtlich verfolgt. Historische Vorbilder findet man bei den amerikanischen Vigilanten, die im 19. Jahrhundert Pferdediebe jagten,3 – oder auch bei den rassistischen Lynchmobs in den USA.
Die weltweite Begeisterung für Selbstjustiz scheint charakteristisch für unsere Zeit. Sie hat mit den Zweifeln am Erziehungsideal der modernen Justiz zu tun, die auf die Resozialisierung des Verbrechers abzielt. Dieses Ideal hat in den letzten Jahrzehnten Risse bekommen, auch in den sogenannten liberalen Demokratien. Im öffentlichen Diskurs wird eine strengere Bestrafung, auch die Rückkehr zu entehrenden Strafen gefordert, mit der Begründung, dass die Gesellschaft größere Strenge verlange.
Am Tag nach der Messerattacke von Nizza im Oktober 2020, bei der drei Menschen getötet wurden, rief die beigeordnete Ministerin für Staatsbürgerschaft Marlène Schiappa dazu auf, das Korsett des Rechtsstaats zu lockern. Sie äußerte Verständnis für jene Bürger, die „sich fragen, warum die Polizei einen solchen Terroristen nicht erschossen hat, der nun auch noch ein Krankenhausbett belegt“.4 Durch solche Äußerungen fühlen sich Law-and-Order-Aktivisten bestätigt, die jedwede Resozialisierung für ebenso kontraproduktiv wie kostspielig halten.
Das ökonomische Argument, man wolle den braven Steuerzahlern die finanzielle Last der Inhaftierung unverbesserlicher Straftäter ersparen, ist nicht neu. Es tauchte bereits bei den erwähnten Vigilanten des Wilden Westens auf, wo der Hang zur Selbstjustiz teilweise auch mit Einsparungen im Budget zu tun hatte. In neoliberalen Zeiten erfreut sich die Forderung nach einer kostengünstigen Justiz ebenfalls einer gewissen Beliebtheit, steht sie doch ganz im Einklang mit der Reduzierung öffentlicher Ausgaben und den Appellen zu mehr Eigenverantwortung.
Auch in mehreren Ländern Afrikas – etwa Benin, Nigeria und Tansania – gibt es mittlerweile Ansätze, Bürgerwehren an der Polizeiarbeit und allgemein an der Verbrechensbekämpfung mitwirken zu lassen. Solche Kooperationen zeigen, wie im Zuge der neoliberalen Umgestaltung des Staats Überwachungsaufgaben, teils sogar Polizeigewalt und strafrechtliche Sanktionierung, zunehmend auf die Bürgerinnen und Bürger übertragen werden.
Der Boom der sozialen Medien hat dazu beigetragen, dass Selbstjustiz zu einem zugänglichen Instrument wurde, das für alle möglichen Zwecke eingesetzt werden kann. Über das Internet bekommt jede und jeder Einzelne die Möglichkeit, Informationen – oder auch nur Gerüchte – zu sammeln, in Umlauf zu bringen und Strafaktionen zu medialisieren.
Bewegung zum Schutz der indischen Kuh
Wo auch immer, in Frankreich, Mexiko oder Indien, die Lynchjustiz des 21. Jahrhunderts geht oft von einem Gerücht aus, das über die sozialen Medien verbreitet wurde. Da wird etwa vom mysteriösen Verschwinden eines Kindes berichtet, oder irgendwelche angeblichen Zeugen erzählen von einem auffälligen Lieferwagen, der in der Nähe eines Tatorts gesehen worden sei. Das reicht schon aus, um den Tatendrang von Möchtegerndetektiven zu wecken. Sie fotografieren verdächtige Autos und ihre Fahrer, stellen die Bilder ins Netz und glauben so zur Aufklärung des Falls beizutragen.
In manchen Fällen endet die Menschenjagd mit einem vielfach angeklickten und kommentierten Video im Netz, das zeigt, wie die vermeintlichen Schuldigen geschlagen oder gar getötet werden. Das digitale Aufpassertum erreicht normalerweise jedoch kein solches Maß an körperlicher Gewalt. Seine bevorzugte Waffe ist das naming and shaming, das heißt, es werden vermeintliche Straftaten und die Identität des angeblichen Gesetzesbrecher im Netz verbreitet.
Zurzeit ist es in vielen Ländern beliebt, auf diese Art Jagd auf Pädophile zu machen. Durch die sozialen Medien können die Cybervigilanten die Verdächtigen nicht nur aufspüren, sondern ihnen auch gleich Fallen stellen und ihre eigene Heldentat öffentlich machen: Mit der Kamera in der Hand versammeln sich etwa selbsternannte Ordnungshüter am verabredeten Treffpunkt und „enttarnen“ den vermeintlichen Übeltäter.
Typischerweise handelt es sich bei solchen Aktivisten um weiße, konservative Männer, die eine Ordnung aufrechterhalten oder wieder errichten wollen, die ihnen und ihrer Herkunft entspricht. Das gilt etwa für solche Gruppen, die Ausländern nachstellen, weil sie sie für potenzielle Verbrecher halten.
In den USA sind das zum Beispiel die „minutemen“ in Arizona, eine bewaffnete Bürgerwehr, die hauptsächlich aus nostalgischen Kriegsveteranen besteht. Sie patrouillieren im Grenzgebiet zu Mexiko und haben es auf illegale Einwanderer abgesehen, besonders auf die coyotes, die Schlepper, die, wie sie selbst, in der öden Wüstengegend jeden Strauch kennen.
Wie die Verfolgung von Pädophilen stößt auch die Jagd auf Migranten auf einige Sympathie in der Bevölkerung. Häufig sind solche Kampagnen nichts weiter als PR-Aktionen rechtsextremer Splittergruppen wie der „Génération identitaire“ in Frankreich, der „Soldiers of Odin“ in Finnland oder „La Meute“ in Québec. Einige Bürgerwehren, vor allem in osteuropäischen Ländern, schrecken nicht davor zurück, zur Tat zu schreiten.
In Bulgarien rühmte sich 2016 der „Flüchtlingsjäger“ Dinko Walew, an der Grenze zur Türkei zwölf Syrer gestellt zu haben, seiner Ansicht nach „Terroristen“ und „Taliban“, die in Bulgarien Attentate verüben wollten. Der 1987 geborene Geschäftsmann und Ringer, bekannt für sein raues Auftreten und das imposante Kreuztattoo auf seiner Brust, fand viel Zustimmung bei Leuten, die ihre Regierung angesichts der „Flüchtlingsgefahr“ für untätig halten.
Die Angst vor dem Fremden bezieht sich nicht nur auf Migranten, sondern auch auf Minderheiten im eigenen Land. In Indien etwa kämpfte die hindunationalistische Gruppe Gau Raksha Dal (Bewegung zum Schutz der Kuh) gegen illegale Viehhändler. Sie wurde 2012 von jungen Arbeitslosen gegründet, die sich für eine „gerechte Sache“ engagieren wollten. Nach dem Amtsantritt von Narendra Modi 2014 breitete sich die Bewegung weiter aus.
Die Retter der heiligen Kühe patrouillieren auf den Straßen und kontrollieren verdächtige Lastwagen. Sind die Fahrer Hindus, kommen sie mit einer Rüge davon, sind sie Muslime, werden sie verprügelt. Ihr Einsatz wird von weiten Teilen der Bevölkerung gutgeheißen, was ihnen eine gewisse Straffreiheit garantiert. Niemand hindert sie daran, auf den Straßen ihr Gesetz anzuwenden und ihre Opfer nach Lust und Laune zu erpressen.
In den USA hat sich das Bild eines Gesetzeshüters geformt und über die Welt verbreitet, der seine Familie und sein Eigentum gegen Diebe und Gewalttäter mit der Waffe verteidigt. Seit dem 19. Jahrhundert nehmen dort Landbesitzer und Viehzüchter das Gesetz selbst in die Hand, mit dem Argument, ihr Hab und Gut schützen und für Recht und Ordnung sorgen zu müssen; sie organisieren Patrouillen und finanzieren Bürgerwehren.
In anderen Weltregionen, Subsahara-Afrika etwa oder Lateinamerika, gehören die Bauern oder Händler, die sich zum Schutz gegen Diebstahl organisieren, nicht unbedingt zur lokalen Elite. Die Bakassi Boys etwa wurden Ende der 1990er Jahre im Südosten Nigerias auf dem Markt von Aba von Schuhmachern und Händlern ins Leben gerufen, die sich gegen bewaffnete Diebe zur Wehr setzen wollten. Mit ihrer so simplen wie kompromisslosen Auffassung von Recht und Ordnung breiteten sie sich später in den Bundesstaaten Abia und Anambra aus und erledigen dort mittlerweile häufig die niederen Arbeiten für die politischen Machthaber.
Im Slum Dharavi in Mumbai sind es die Frauen, die Selbstjustiz üben. Die Aktivistinnen von Mahila Aghadi (Frauenfront) genießen als Ordnungshüterinnen hohes Ansehen, und die Bewohner des Elendsviertels erzählen gern von den Heldentaten dieser weiblichen Bürgerwehr.
Die Anthropologin Atreyee Sen wurde Anfang der 2000er Jahre Zeugin eines Einsatzes von Mahila Aghadi. Eine Gruppe von Aktivistinnen zog zu einer Schule, wo ein Angestellter der sexuellen Belästigung beschuldigt worden war. Bei Sens Eintreffen lag der Mann bereits niedergestreckt am Boden und versuchte vergeblich, sein Geschlechtsteil gegen die Schläge zu schützen, die ihm die Frauen mit Linealen verpassten. Sie zwangen ihn, sich mehrmals bei seinem Opfer zu entschuldigen. Am Ende warnte die Gruppe den völlig verängstigten Mann ein letztes Mal: „Nimm dich in Acht, lass die Finger von deinen Schwestern!“5
Wie der Fall der Frauen von Aghadi zeigt, geht es bei Selbstjustiz nicht immer darum, bestehende Ordnungen zu festigen. Sie wird auch von Menschen ausgeübt, die ihre Rechte einfordern und die soziale Ordnung und die Herrschaftsverhältnisse verändern wollen. Aber natürlich haben Bewegungen wie Mahila Aghadi nicht immer progressive Ziele. Die Frauenfront von Mumbai hat enge Verbindungen zu einer hindunationalistischen Partei, die für Gewalt gegen die muslimische Minderheit und eine durchaus patriarchalische Ideologie bekannt ist.
Die Frauen von Aghadi, die meist einer niedrigen Kaste angehören und in ihrem Alltag immer wieder häuslicher und sexueller Gewalt ausgesetzt sind, haben dieser reaktionären Partei dennoch ihr eigene Profil aufgeprägt. Die Frauenfront nutzt die respekteinflößende Reputation der Partei beim Vorgehen gegen gewalttätige Ehemänner und Arbeitgeber, die von ihren Angestellten sexuelle Dienste verlangen. Obwohl sie keine Feministinnen im klassischen Sinne sind, haben die Aghadi Verbesserungen für die Frauen durchgesetzt, was auch die Polizei dazu zwingt, sich kooperativ zu verhalten.
Auch andere anthropologische Studien dokumentieren Selbstjustiz durch sozial Benachteiligte in den Elendsvierteln der großen Metropolen im Globalen Süden. Eine Studie beschäftigt sich etwa mit der Situation in den Vierteln am Rand der bolivianischen Großstadt Cochabamba.6 Dort stellen die Bewohner junge Diebe, verprügeln und fesseln sie und scheren ihnen den Kopf. Es kommt sogar vor, dass sie bei lebendigem Leib verbrannt werden, wenn die Polizei – die mit Steinwürfen begrüßt wird – es nicht schafft, rechtzeitig einzuschreiten.
Die Behörden verurteilen solche gewaltsamen Strafexzesse und halten sie für einen Ausdruck der rohen Brutalität von Ungebildeten und sozial Minderbemittelten. Aber diese Gewaltausbrüche lassen sich auch als Anklage an die Adresse der Regierung verstehen, als einen Wutschrei über mangelnden Schutz im Namen der im Stich Gelassenen und Marginalisierten.
Selbstjustiz aufgrund einer Art moralischer Panik gehört ebenfalls mit zum Spektrum. In einigen Ländern Westafrikas geschieht das etwa, wenn Jagd auf vermeintliche „Geschlechtsräuber“ gemacht wird. Die angeblichen Opfer dieser Räuber sind junge Männer, die behaupten, ihnen sei durch den physischen Kontakt mit einem verdächtigen Unbekannten – häufig ein Ausländer auf der Durchreise – ihr Geschlechtsorgan geschrumpft worden oder abhanden gekommen.
Ein solcher Vorwurf löst Ängste aus, der Fortbestand der Gesellschaft scheint bedroht, und eine aufgebrachte Menge macht sich auf die Suche nach dem Täter. An die 50 Fälle von Lynchmorden im Zusammenhang mit einem solchen Vorwurf wurden in den 1990er und 2000er Jahren in 20 verschiedenen Ländern erfasst.7
Kann Selbstjustiz, die nicht darauf abzielt, eine bestehende gesellschaftliche Ordnung zu festigen, sogar dabei helfen, ein emanzipatorisches Ziel zu verfolgen? Cybervigilanten, die eine Person im Netz anprangern, wollen unter Umständen einen Schaden reparieren, Gerechtigkeit herstellen und damit einer höheren Sache dienen. Das Projekt „This is Lebanon“ etwa, das von einem Hausdiener nepalesischer Herkunft gegründet wurde (der mittlerweile in Kanada lebt), kämpft für die Rechte von in Haushalten angestellten Migranten, indem es gewalttätiger Arbeitgeber öffentlich dnunziert.8
Die feministischen Initiativen in der Folge von #MeToo, die darauf abzielen, sexuell übergriffige Männer öffentlich an den Pranger zu stellen, berühren ebenfalls den Bereich der Selbstjustiz. 2017 sorgte die Jurastudentin Raya Sarkar in den USA für Aufsehen, als sie auf Facebook eine Liste von 72 Hochschullehrern verbreitete, die sie der sexuellen Belästigung und Vergewaltigung bezichtigte.
Der Vigilantismus hat sich vom Archetyp des reaktionären weißen Mannes gelöst und vermischt sich mit politischem Aktivismus, der sich das Recht einer Bestrafung – oft in Form einer öffentlichen Verurteilung – herausnimmt, um Unrecht zu beenden. Bereiche, in denen diese Form des Vigilantismus auch eine Rolle spielt, sind etwa die Klimaschutzbewegung oder der militante Tierschutz.9
Radikale Tierschützer verüben etwa Anschläge auf den Besitz von Landwirten und Viehzüchtern und haben kein Problem damit, diesen materiellen Schaden zuzufügen. Dem Vorwurf der Selbstjustiz setzen sie den Imperativ des zivilen Ungehorsams entgegen. Allerdings ist der Einsatz von Gewalt unter den verschiedenen Gruppierungen der Bewegung durchaus umstritten.
Die Kritik an der offiziellen Justiz und der Wunsch nach einer Gegenjustiz, die von der Tyrannei der Eliten und deren Gesetzen befreit sein soll, findet seine extremste Ausformung in der Selbstjustiz bewaffneter revolutionärer Organisationen. Von den europäischen Untergrundgruppen der 1970er Jahre bis zu den nepalesischen Aufständischen der 1990er Jahre haben linksradikale Bewegungen oft das Ideal einer im Namen der Bevölkerung und durch sie vollstreckten „Volksjustiz“ kultiviert.
Die Splittergruppen, die in den 1970er und 1980er Jahren in Europa oder Lateinamerika zum bewaffneten Kampf übergingen, wie die Bewegung 2. Juni und die RAF in Deutschland, kamen jedoch selten über ein paar aufsehenerregende Strafaktionen hinaus. Die Hinrichtung von „Volksfeinden“, manchmal nach Prozessen vor einem selbsternannten Volksgericht, war tatsächlich weniger als Alternative zur bürgerlichen Justiz gedacht denn als Kampfansage an die herrschende Macht.
Die dauerhaftesten aufständischen Bewegungen versuchen dagegen, eine gesellschaftliche und rechtliche Ordnung in Konkurrenz zum Staat zu errichten. Die Verfolgung Krimineller im Alltag soll dabei auch das eigene politische Projekt legitimieren. Die Irish Republican Army (IRA) bestrafte etwa Drogenhändler mit Schüssen ins Knie (kneecapping), und die Guerilleros der Farc in Kolumbien drohten Vergewaltigern und Inzesttätern mit dem Tod.
In vielen Fällen ist der Bestrafungsfuror von einer revolutionären Moral durchtränkt, deren Puritanismus dem der bürgerlichen Gesellschaft in nichts nachsteht. Teils entfernen sich die Rebellen zudem von ihrem eigenen Ziel, wenn sie selbst in die Rolle des Polizisten, Richters und Henkers schlüpfen – anstatt die bestehende Rechtsordnung zu stürzen.
1 Siehe Éric Klinenberg, „Gemeinsam Wache stehen“, LMd, Februar 2001.
2 Hélène Richard, „Megastau. Unterwegs auf den Straßen Moskaus“, LMd, Oktober 2015.
5 Atreyee Sen, „Shiv Sena Women. Violence and Communalism in a Bombay Slum“, London (Hurst) 2007.
7 Julien Bonhomme, „Les voleurs de sexe. Anthropologie d’une rumeur africaine“, Paris (Seuil) 2009.
9 Siehe Cédric Gouverneur, „Freiheit für die Gefangenen von Hundington“, LMd, August 2004.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Gilles Favarel-Garrigues und Laurent Gayer sind Autoren von „Fiers de punir. Le Monde des justiciers hors-la-loi“, Paris (Seuil) 2021.
Charles Lynch, 1780
Die Lynchjustiz ist wohl die bekannteste und berüchtigtste Form der Selbstjustiz. Meist wird der Begriff auf Charles Lynch (1736–1796) zurückgeführt, einen Tabakfarmer aus Virginia, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Oberst in einer lokalen Miliz diente. 1780 betätigte er sich als Richter, um gegen Loyalisten vorzugehen, die es auf die für die Munitionsherstellung wichtigen Bleiminen abgesehen hatten. Mit dem Verweis auf akute Gefahr setzte er eine schnelle und gnadenlose Rechtsprechung um. In einem Schreiben von 1782 benutzte er selbst den Ausdruck „Lynch-Gesetz“ im Zusammenhang mit den Schnellverfahren, die gegen „böswillige“ Personen, ob Verräter oder undisziplinierte Minenarbeiter, erforderlich seien.
Als Bezeichnung für die mörderischen Taten einer aufgebrachten Menge schaffte es der Begriff „Lynchjustiz“ über den Atlantik: Er zirkulierte insbesondere in der britischen Presse, als Ausdruck für eine nicht hinnehmbare Form der Selbstjustiz, die allein den amerikanischen Sitten entspreche. Erstmals wurde der Begriff 1837 als „loi de Lynch“ ins Französische übersetzt. Noch Ende des 19. Jahrhunderts sahen französische Journalisten und Kriminologen in der Lynchjustiz ein „typisch amerikanisches Phänomen, das in Europa glücklicherweise unbekannt ist“, ein „Gesetz, das von der Vernunft und der Menschlichkeit verurteilt wird“. Dabei gab es auch in Frankreich Vorfälle, bei denen eine aufgebrachte Menge die Tötung eines Verbrechers verlangte; dies wurde jedoch nicht als „loi de Lynch“ bezeichnet.
Der Ausdruck ist durchweg negativ konnotiert und bezeichnet in allen Sprachen, in die er übersetzt ist – Spanisch (linchamiento, lei de lynch), Italienisch (linciaggo), Portugiesisch (linchamento), Deutsch (Lynchjustiz), Russisch (sud Lintscha, das heißt Lynchtribunal) oder Japanisch (rinchi) –, ein der Justiz entgegengesetztes Strafmodell.
Auszug aus: „Fiers de punir. Le Monde des justiciers hors-la-loi“ von Gilles Favarel-Garrigues und Laurent Gayer.