Neue Allianzen in der Nachbarschaft?
von Georges Lefeuvre
Ein afghanisches Sprichwort sagt: „Wenn jemand die Wahrheit sagt, gib ihm ein Pferd – er wird es brauchen, um zu fliehen.“ Als Präsident Joe Biden am 14. April 2021 den Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan ankündigte, sprach er voller Bitterkeit über das Doha-Abkommen vom Februar 2020: „Das ist vielleicht nicht das, was ich selbst ausgehandelt hätte, aber es ist ein Abkommen, dass von der Regierung der Vereinigten Staaten geschlossen wurde, und das bedeutet etwas.“1
Bidens Vorgänger Donald Trump hatte nicht nur allen Forderungen der Taliban nachgegeben, er akzeptierte auch einen zusätzlichen Absatz, der vorsah, dass der UN-Sicherheitsrat das Abkommen absegnen sollte – was in der Tat am 10. März 2020 mit der einstimmigen Verabschiedung der Resolution 2513 geschah.2
Weil Washington nach dieser doppelten Billigung nicht mehr zurückrudern konnte, blieb Biden nichts anderes übrig, als das Abkommen in allen Einzelheiten zu akzeptieren. Das war genau das, was die Taliban wollten, bevor sie ihren Rückeroberungsfeldzug begannen, der sie in atemberaubendem Tempo bis Kabul führte. Am 16. August musste der geflüchtete Präsident Aschraf Ghani eingestehen: „Die Taliban haben gewonnen.“ Anders formuliert: Das von der „internationalen Gemeinschaft“ eingesetzte und 20 Jahre lang gestützte Regime hatte sich innerhalb weniger Wochen aufgelöst.
Als die Taliban die Hauptstadt einnahmen, hatten die USA die Evakuierung ihrer Botschaft und ihrer afghanischen Hilfskräfte noch längst nicht abgeschlossen. Der bis dahin geordnete Rückzug verwandelte sich in eine panische Flucht mit chaotischen Szenen am Flughafen, bei denen es über 180 Tote gab.
Im Rest der afghanischen Hauptstadt herrschte indes weitgehend Ruhe. Die Feier zum Tag der nationalen Unabhängigkeit am 19. August wurde begangen wie immer. Und die Prozessionen zum schiitischen Aschura-Fest3 am selben Tag verliefen ohne Zwischenfälle.
Auch die meisten Verbündeten der USA, die sich an deren Operation in Afghanistan beteiligt hatten, evakuierten ihre Botschaften in Kabul. Dagegen blieben die Vertretungen Russlands, Chinas, Pakistans, Irans und der Türkei geöffnet und funktionsfähig.
Das zukünftige Schicksal Afghanistans wird nun vor allem innerhalb der Großregion entschieden werden, wobei wechselnde Allianzen und ein traditionelles Misstrauen die Dinge kompliziert machen. Während sich das Verhältnis zwischen Kabul und Islamabad in gegenseitigen Beleidigungen erschöpft und sich China als Vermittler anbietet, um die Lage zu beruhigen, beraten sich Russland und Iran ebenso mit den Taliban wie mit afghanischen Politikern. Indien hingegen bleibt abwartend.
Für Russland zumindest ist das keine neue Erfahrung. Schon im November 2018 hat Moskau ein erstes Treffen zwischen Aufständischen und einer offiziellen afghanischen Delegation organisiert, dem im Februar 2019 ein zweites folgte. Dabei erklärten die Taliban den Verzicht auf eine militärische Rückeroberung und ihre Bereitschaft, über eine Teilung der Macht zu verhandeln.
Heute haben sie dieses Versprechen – im Rausch des Erfolgs – womöglich vergessen, an das sie der russische Außenminister Sergei Lawrow am 18. März in Doha noch einmal erinnerte. Das war während der Verhandlungen zwischen den Taliban und dem Hohen Rat für nationale Versöhnung (HCNR), bei denen neben Russland auch die USA, Pakistan und China vertreten waren. Dabei waren sich alle Beteiligten einig, dass die Taliban die Bildung einer Übergangsregierung unter Beteiligung weiterer Kräfte akzeptieren müssten.4
Moskau fürchtet vor allem um die Stabilität der zentralasiatischen Republiken, die als Vorhof Russlands gelten. Am 5. Juli hatten die Taliban bereits alle afghanischen Nordprovinzen, die direkt an Tadschikistan und Usbekistan grenzen, unter ihrer Kontrolle und mehr als 1000 Soldaten der afghanischen Armee waren über die Grenze nach Tadschikistan geflohen.
Am selben Tag sagte Präsident Wladimir Putin seinem tadschikischen Amtskollegen Emomali Rahmon militärische Hilfe zu, falls diese nötig sein würde. Vier Tage später, am 9. Juli, traf sich eine hochrangige Taliban-Delegation, darunter der Mitbegründer der Bewegung Mullah Abdul Ghani Baradar, in Moskau mit Zamir Kabulow, dem Sonderbeauftragten des Kremls für Afghanistan. Dabei gaben die Taliban die Versicherung ab, dass sie die Nachbarstaaten niemals angreifen würden.
Das entsprach voll den Interessen Russlands, für das die Taliban seit langem das wirksamste Bollwerk gegen den „Islamischen Staat“ (IS) darstellen, der im Norden Afghanistans nach Einschätzung Kabulows über 20 000 Kämpfer verfügt. Diese sicher stark übertriebene Zahl zeugt von den Ängsten, die der IS mit seiner internationalen Agenda in Moskau auslöst. Die Taliban dagegen beschränken ihre Ambitionen auf Afghanistan und sind heute – im Gegensatz zu ihrer ersten Regierungsperiode von 1996 bis 2001 – auf eine gewisse internationale Anerkennung aus. In dieser Hinsicht ist Moskau zweifellos die beste Karte, auf die sie setzen können.
Aufgrund vergleichbarer Ängste ist die iranische Position der russischen ähnlich. Der IS agiert in Afghanistan unter der Bezeichnung Islamic State – Khorasan Province (IS-KP), und Khorasan war bis zur Herausbildung des Staates Afghanistans im Jahr 1747 eine persische Provinz, die sich vom Kaspischen Meer bis zum Fluss Indus erstreckte. Dass der IS eine Provinz seines angestrebten Kalifats so benennt, verweist auf seine Ambitionen im gesamten Osten Irans. Die Angst in Teheran ist so groß, dass Außenminister Mohammed Dschawad Sarif im Dezember 2020 versprochen hat, die von Iran unterstützte Fatemiyoun-Brigade – die hauptsächlich aus afghanischen Hazara besteht und bereits in Syrien gekämpft hat – könne die Regierung in Kabul im Kampf gegen den IS-KP unterstützen.5
Vor die Wahl zwischen zwei Übeln gestellt, unterstützt der schiitische Iran die Taliban und muss dabei zwischen mehreren Widersprüchen austarieren. Die Kämpfer der Taliban sind eigentlich sunnitische Fundamentalisten und mit Saudi-Arabien verbündet, dem Erzrivalen Irans. Und das frühere Taliban-Regime in Kabul hat die schiitische Minderheit der Hazara, für deren Schutz sich Teheran zuständig fühlt, sehr schlecht behandelt.
Teheran will mitnichten, dass die Taliban erneut über die absolute Macht verfügen. Aber ebenso wenig wünscht man sich ihre Niederlage, die wahrscheinlich einen neuen Bürgerkrieg heraufbeschwören und eine neue Fluchtbewegung in Richtung Iran auslösen würde. Offiziell hat das Land 800 000 afghanische Flüchtlinge aufgenommen, doch eine Schätzung Teherans vom Oktober 2020 spricht von weiteren 2 Millionen nicht registrierten Geflüchteten, von denen auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ausgeht.
Am 7. Juli dieses Jahres, kurz vor dem Besuch der Taliban in Moskau, hatte sich bereits eine Taliban-Delegation nach Teheran aufgemacht. Dort machte ihnen Außenminister Sarif noch deutlicher als später die Russen klar, dass sie das Prinzip einer Regierung der nationalen Einheit unbedingt zu akzeptieren hätten. Teheran organisierte dann auch ein Treffen zwischen einer Abordnung der Regierung in Kabul und Taliban-Vertretern, das aber zu keinen konkreten Ergebnissen führte. Für Iran bleibt das oberste Ziel, seine Rolle als wichtigster regionaler Akteur in der Afghanistan-Frage zu behaupten.
Vor dem Eroberungsfeldzug der Taliban schienen innerafghanische Verhandlungen keinerlei Aussicht auf Erfolg zu haben. Den Grund benannte der pakistanische Außenminister Shah Mehmood Qureshi: Die Taliban wollten um jeden Preis das islamische Emirat wiederherstellen, also ein Regime auf der Grundlage der Scharia. Dagegen streben die im HCNR vertretenen afghanischen Gruppen eine islamische Republik mit einer Verfassung und einem Wahlsystem an.6
Trotz ihrer unvereinbaren Visionen kam es bereits einen Tag nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban zu Verhandlungen zwischen den beiden afghanischen Lagern im Haus des HCNR-Vorsitzenden Abdullah Abdullah. An diesem Treffen ohne jede ausländische Beteiligung war neben Würdenträgern der Taliban auch der Ex-Präsident Hamid Karsai (2001–2014) zugegen.
Tatsächlich haben gewisse politische Figuren – wie ehemalige Warlords oder der Chef der islamistischen Partei Hisb-i-Islami, Gulbuddin Hekmatjar – keinerlei Scheu, auf die Taliban zuzugehen und sogar das Prinzip des Emirats zu akzeptieren. Damit rückt die Übergangsregierung unter Beteiligung unterschiedlicher Kräfte – wie sie Russland, Iran und sogar Pakistan fordern – in den Bereich des Möglichen. Die Taliban selbst haben diesen Schritt für die Zeit nach dem endgültigen Abzug der ausländischen Soldaten bereits angekündigt.
Bei einer solchen Entwicklung könnte Pakistan eine entscheidende Rolle spielen, was voraussetzt, dass sich das derzeit explosive Verhältnis zwischen Kabul und Islamabad wieder normalisiert. Vor dem Fall der Regierung Ghani hatte dessen nationaler Sicherheitsberater Hamdullah Mohib das Nachbarland Pakistan als „Bordell“ bezeichnet.7
Diese Äußerung ließ alte Rivalitäten zwischen beiden Ländern wieder aufbrechen, bei denen es vor allem um die paschtunischen Stammesgebiete – zugleich Kernland der Taliban – geht, die sich über die afghanisch-pakistanische Grenze erstrecken. Wobei diese Grenze, die sogenannte Durand-Linie, von keiner Kabuler Regierung jemals anerkannt wurde.8 Deshalb erklärte der pakistanische Außenminister Qureshi am 20. Juni in einem hitzigen Interview mit dem afghanischen Sender ToloNews knallhart: „Wenn ihr eine Koexistenz zwischen guten Nachbarn wollt, dann akzeptiert endlich die Durand-Linie als internationale Grenze!“
In Wahrheit ist selbst Pakistan angesichts des rasanten Siegeszugs der Taliban im Nachbarland beunruhigt, obwohl Islamabad diese nach ihrer ersten Machtergreifung 1996 unterstützt hatte. Damals erwiesen sich die „Schüler“ (so die Übersetzung des Worts „Taliban“) nicht so fügsam wie erwünscht; und auch sie weigerten sich, die Durand-Linie anzuerkennen.
Seit 2005 war Pakistan zudem den Attacken der Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) ausgesetzt. Diese pakistanischen Taliban operieren allerdings unabhängig von den afghanischen Taliban und sind eher mit den usbekischen und uigurischen Al-Qaida-Zellen liiert. Die TTP haben sich im pakistanischen Wasiristan eingenistet, von wo aus sie blutige Anschläge gegen staatliche Einrichtungen organisierten.
In der Washington Post vom 21. Juni 2021 schrieb der pakistanische Premierminister Imran Khan, sein Land habe in der Vergangenheit den Fehler gemacht, sich für eine der Kriegsparteien in Afghanistan zu entscheiden, doch man habe aus dieser Erfahrung gelernt. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass Pakistan seine Regional- und Nachbarschaftspolitik nach der jüngsten Entwicklung überdenken wird. Dennoch ist Islamabad weiterhin am ehesten in der Lage, mäßigend auf die Taliban einzuwirken.
Indien wiederum, Pakistans größter Feind, ist der größte Geldgeber Afghanistans in der Region. Seit 2001 hat Neu-Delhi mehr als 3 Milliarden US-Dollar an Hilfsgeldern nach Kabul geschickt. Heute befindet sich Indien jedoch in der Defensive, weil man die fulminante Rückkehr der Taliban nicht vorausgesehen hat. Sollte Neu-Delhi – wie Pakistan behauptet – mit seiner Hilfe für Afghanistan seinen regionalen Einfluss zu stärken versucht haben, dürfte der politische Ertrag dieser Investition enttäuschend ausfallen.
China als die zweifellos stärkste Macht in der Großregion hält sich wie immer weitgehend zurück. Aber auch Peking ist angesichts des übereilten Abzugs des US-Militärs besorgt. Um die Provinz Badachschan zu erobern, die im äußersten Nordosten Afghanistans an die chinesische Region Xinjiang grenzt, haben die Taliban auch mehrere usbekische und tadschikische Terrorgruppen rekrutiert. Und die unterhalten, wie etwa die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU), die Islamische Dschihad-Union (IJU) und die tadschikische Jamaat Ansarullah Kontakte zu den Uiguren der Islamischen Turkestan-Partei.
Peking erwartet von den Taliban, zu denen es gute Beziehungen pflegt, die Ausweitung dieser Netzwerke zu verhindern. Zumal die chinesische Regierung große Summen in die Kupferminen von Mes Aynak – die zweitgrößte Lagerstätte der Erde – und die Ausbeutung fossiler Energievorkommen im Norden Afghanistans investiert hat. Aus Sicht Pekings kann sich das Nachbarland nur durch ökonomische Entwicklung stabilisieren, weshalb man Afghanistan in den geplanten chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor miteinbeziehen will. Doch dieses Projekt wird, sollte es denn Erfolg haben, erst langfristig Wirkung zeigen.
Die Türkei schließlich hat sich angeboten, nach dem Abzug der USA die Sicherheit des Kabuler Flughafens zu gewährleisten. Die Taliban haben das Angebot zunächst abgelehnt. Aber immerhin konnte Präsident Recep Tayyip Erdoğan damit bei den Nato-Partnern das angekratzte Image der Türkei aufpolieren und die Beziehungen zu Washington leicht verbessern.
1 „Remarks by president Biden on the way forward in Afghanistan“, Washington, D. C., 14. April 2021.
2 „Agreement for bringing peace to Afghanistan“, Teil 3, Absatz 1, 29. Februar 2020.
3 Fest zu Ehren des von den Schiiten verehrten Imam Hussein; die Taliban sind Sunniten.
5 „Exclusive interview with Iran’s foreign minister Javad Zarif“, ToloNews, 21. Dezember 2020.
6 „Qureshi voices concern over current situation in Afghanistan“, Ariana News, 23. Juni 2021.
8 Siehe Georges Lefeuvre, „Afghanische Patrioten“, LMd, Oktober 2010.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Georges Lefeuvre war EU-Berater in Pakistan und arbeitet am Institut de relations internationales et stratégiques (Iris).