12.08.2021

Auf dem Río Paraguay

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Auf dem Río Paraguay

von Loïc Ramirez

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Seit mehr als 50 Jahren fährt sie den Río Paraguay auf und ab. Sie ist eine nationale Berühmtheit aus Rost und Holz, die jede Woche ein paar Dutzend Passagiere und mehrere Tonnen Waren transportiert. Die „Aquidaban“ – der „Schwimmende Markt“, wie man sie hier nennt – bereitet sich im Hafenstädtchen Puerto Vallemí an der Grenze Paraguays zu Brasilien, 500 Kilometer nördlich der Hauptstadt Asunción, auf ihre nächste Fahrt vor.

Lastwagen und Mopeds treffen in Scharen ein, die Laderampe füllt sich mit Säcken, Kisten und Kartons. Männer balancieren in Plastikschlappen über die rutschige Gangway aus Metall, die vom steinigen Ufer aufs Schiff führt, und wuchten ihre Lasten an Bord. Auf Deck stapeln sich unter Plastikplanen Möbel, Matratzen, Elektrogeräte, seltsam geformte Pakete und Lebensmittel. All das ist für die Kundschaft bestimmt, die in den kleinen Häfen entlang des Flusses zum Einkaufen an Bord kommen wird. Der freie Platz auf dem Schiff schwindet so schnell wie die Hoffnung, irgendwo ein kühles Plätzchen zu finden. Jetzt am Vormittag zeigt das Thermometer schon über 30 Grad.

„Wann legen wir ab?“ – „Wenn alles verladen ist“, antwortet José knapp. Er gehört zur Besatzung, ein etwa 50-Jähriger mit dickem Bauch und kräftigen Armen, eine Kappe wie festgeschraubt auf dem Kopf. Er wirft einen kurzen Blick auf die sich türmenden Waren und sagt: „Gegen 13 Uhr.“ Im Lauf der Reise werden die Passagiere lernen, seinen Vorhersagen zu misstrauen, und manche sogar vermuten, dass er nicht einmal die Uhr lesen kann.

Die „Aquidaban“ war für die indigenen Gemeinschaften, die am über 2500 Kilometer langen Río Paraguay in den abgelegenen Gebieten des Chaco (der Westen Paraguays) leben, lange Zeit die einzige Verbindung zur Außenwelt. Von Concepción, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, fährt sie nach Norden, bis nach Bahía Negra, wo der Wasserlauf Paraguay, Brasilien und Bolivien trennt: eine Grenze, wo man zugleich in drei Ländern und im Nirgendwo ist.

Seit Oktober 2020 hat eine historische Dürre dem Fluss seine erhabene Schönheit genommen. An manchen Stellen ist er nicht befahrbar, die „Aquidaban“ verkehrt deshalb nur noch zwischen Vallemí und Bahía Negra. Für die 400 Kilometer braucht das Schiff auf dem mäandernen Fluss hin und zurück vier Tage und drei Nächte. Unterwegs steuert sie die isolierten Dörfer und Flecken an und versorgt sie mit Waren. Ein Sturm, eine Trockenheit, ein Schaden am Boot, und die Einwohner sind ihrem Schicksal überlassen und vom Rest des Landes abgeschnitten.

16 Uhr. Die „Aquidaban“ hat nun abgelegt und gleitet zur Flussmitte. Mit dröhnendem Motor nimmt sie den Kampf gegen die Strömung auf. Die acht Händler an Bord haben sich bereits eingerichtet, für sie ist das Hauptdeck reserviert. Lebensmittel stapeln sich bis unter die Decke: Überquellende Kisten mit Zitronen, Bananen, Äpfeln und Ananas. Kekse, Ingwer und Limonade türmen sich auf Bergen von Konservendosen, zwischen den Hängematten baumeln Würste und Brotsäcke. An den Wänden stehen beidseitig Holzbänke, auf denen die Händler sitzen. Manche schlafen auch darauf, die Hängematten reichen nicht für alle.

Jeder der Händler hat eine bestimmte Fläche zur Verfügung, um seine Ware auszulegen. Die Grenzen zwischen diesen Territorien sind für das unerfahrene Auge nicht zu erkennen. Fermín Rivas wird von seinen zwei Kindern begleitet. Der 17-jährige Matías versucht mit seinen dünnen Armen zu verhindern, dass die Auslagen des Vaters auf uns herabstürzen. Gemeinsam mit seiner Schwester fordert er das universelle Gesetz der Schwerkraft heraus, das anderswo schon längst das Gestell zu Fall gebracht hätte, mit dem die beiden kämpfen. Dies ist nicht ihr erster Zweikampf mit Newton: In den Schulferien stehen die beiden ihrem Vater, der seit 15 Jahren auf der „Aquidaban“ Handel treibt, immer tatkräftig zur Seite.

Ins Oberdeck gelangt man über zwei enge Treppen, eine am Heck aus Metall, die andere mitschiffs und noch steiler, aus Holz. Hier oben sind die meisten der Passagiere untergebracht. Sie belegen die langen Holzbänke und die paar Hängematten im Gang. Eine Fahrt von Vallemí nach Bahía Negra kostet 120 000 Guaraní (etwa 14 Euro). Für 100 000 Guaraní kann man eine Kabine für zwei oder vier Personen bekommen.

Übermäßigen Luxus darf man allerdings nicht erwarten: Die Kabinen sind kaum größer als vier Quadratmeter, und die Etagenbetten verbieten es jedem, der das Pech hat, größer als 1,60 Meter zu sein, sich lang auszustrecken. Es sind eher einfache Pritschen, auf denen eine dünne, schmuddelige Matratze liegt. Unter diesen Umständen kann der Passagier, dem es gelingt, eine mögliche Schafposition einzunehmen, eigentlich froh sein, dass ihm weder ein Kissen noch eine Decke den Platz streitig macht.

Ein Glas Tereré gegen die Hitze

Auch die Küche dient als Schlafstätte. Sie liegt im Heck und ist der meistfrequentierte Ort des Schiffs, das Reich von Humberto Panzo, dem Koch, den alle „Pitín“ nennen. Der wortkarge Mann mit den einschüchternd breiten Schultern ist der Herrscher des Tresens, der jeden zögernden Kunden mit strengem Blick straft. Seit 26 Jahren arbeitet er auf der „Aquidaban“, im Auftrag des Schiffseigners Astillero Desvars, einer 1930 von Franzosen gegründeten Werft. Ein Abkömmling der Desvars trägt seit ein paar Monaten die Kapitänsmütze auf der „Aquidaban“: José.

Mahlzeiten sind im Fahrpreis nicht inbegriffen. Für 15 000 Guaraní können die Passagiere das Tagesgericht bekommen, das sich unveränderlich wie der Lauf der Sterne wiederholt: Reis und Hackfleisch, Nudeln und Hackfleisch, Linsen und Hackfleisch. Der Anblick ist nicht unbedingt appetitlich, aber es schmeckt und ist sorgfältig zubereitet. Fast alle Passagiere essen bei Pitín, er kommt mit dem Spülen des spärlichen Geschirrs und Bestecks kaum hinterher. Die Esser kommen in Schichten. Die Küche ist der einzige Ort auf dem Schiff, der Ventilatoren hat, Pitín hat sie aus eigener Tasche bezahlt. Man schaut hier vorbei, um kurz etwas Kühle zu tanken, bevor man wieder zurück in die feuchte Hitze muss.

Im Unterdeck befindet sich der Maschinenraum. Durch die spaltbreit geöffnete Tür kann man einen Blick auf das mechanische Herz der „Aquidaban“ werfen. Tag und Nacht wacht ein korpulenter Mann mit ölverschmierten Händen über die Maschine, wie ein Pfleger über einen Patienten. Noch weiter achtern liegen die Toiletten, die an Bord „Duschen“ genannt werden: sechs rostige Metallkabinen mit einem Loch im Boden, durch das man den Fluss sieht. Zwei kleine Waschbecken sind von außen daran befestigt, mit einer zusammengebastelten Wasserleitung, gespeist aus der lauwarmen, trüben Brühe des Río Paraguay. Die Waghalsigsten lassen sich trotzdem nicht davon abhalten, sich hier zu waschen. Die anderen kaufen lieber Mineralwasser, um sich wenigstens die Zähne zu putzen.

Ungefähr sechzig Reisende sind in Puerto Vallemí an Bord gegangen. Dazu kommen elf Mann Besatzung, unter ihnen zwei Lotsen, die für die Navigation zuständig sind. Das sind viele Menschen für ein Boot von 39 Meter Länge und 6 Meter Breite: kaum vorstellbar, dass noch mehr auf der „Aquidaban“ Platz finden könnten. „Die Leute haben Angst vor Corona. Vor der Pandemie haben wir problemlos über 200 Passagiere gehabt“, sagt José. Hygienevorschriften sind an Bord inexistent. Mit Ausnahme eines alten Mannes trägt niemand einen Mund-Nasen-Schutz. So eng, wie die Menschen hier aneinanderkleben, von Koffern oder Rucksäcken kaum voneinander separiert, ist jede Abstandsregel ein Witz.

„Normalerweise fahre ich mit dem Bus über Brasilien nach Hause, aber wegen der Pandemie ist die Grenze geschlossen“, erzählt uns die 20-jährige Medizinstudentin Evelyn, die, den Rucksack unter den Beinen, in ihrer Hängematte versunken ist. Sie studiert in Concepción und nutzt die Feiertage, um ihre Familie in Puerto Carmelo Peralta zu besuchen.

Die Ortschaften im Chaco sind noch immer auf die Binnenschifffahrt angewiesen. Es gibt zwar Straßen, aber deren Instandhaltung hat für den Staat nicht gerade oberste Priorität. Viele Leute nehmen das Schiff, um sich die endlos lange Fahrt durch die „große Leere“ zu ersparen. Das kümmerliche Fernstraßennetz, das schon beim geringsten Regen unpassierbar wird, zwingt die Überlandbusse auf dem Weg in die Hauptstadt oder nach Concepción oft zu großen Umwegen.

Die „Aquidaban“ sei immer noch das sicherste Verkehrsmittel, meint Evelyn, auch wenn die Fahrt lange dauert. Sie lädt uns auf ein Glas Tereré ein. Das paraguayische Getränk wurde kürzlich von der Unesco in die Liste des Immate­riel­len Kulturerbes aufgenommen. Es besteht aus Eiswasser und Kräutern – eine kalte Version des argentinischen Mate1 –, und die Leute nehmen es in Thermosflaschen überallhin mit.

18 Uhr. Die meisten Reisenden finden sich an Deck oder den Fenstern ein. Es ist die Stunde des großen Naturschauspiels. Auf dem langen Wasserstreifen, der Paraguay hier von Brasilien trennt, zeichnen sich langsam die rötlich-violetten Farben des Sonnenuntergangs ab. Kein von Menschenhand erzeugtes Licht stört die Szenerie, die Sonne kann am Horizont ihre ganze Farbpalette entfalten. Dann zieht sie sich hinter die Bäume zurück und macht der Dunkelheit Platz, die uns umfängt und das Schiff zu einem Glühwürmchen werden lässt, verloren in der Finsternis.

Aber die Nacht bringt keine Erlösung von der drückenden Hitze im Schiffsinneren. Die Kabinentüren stehen offen in der Hoffnung auf ein bisschen Zugluft, aber die Luft bewegt sich nicht im Geringsten. Die Schwüle legt sich auf die Brust. Die schlaflosen Passagiere, die kein Bett und keine Hängematte haben, schlagen die Zeit mit Gesprächen tot. Natürlich in voller Lautstärke: Was interessiert der Schlaf der anderen, wenn man selbst nicht schlafen kann? Sie sprechen hauptsächlich Guaraní, nur manchmal schleicht sich ein spanisches Wort in ihre Sätze. Eine Dose Bier wird aufgemacht und noch eine, schnell sind es fünf. Wenn sie leer sind, werden sie über Bord geworfen. Die Leute, die auf den Bänken sitzen, versuchen nach Möglichkeit eine Posi­tion zu finden, in der sie wenigstens dösen können. Die Kinder haben es leichter, sie schlafen in einem Tuch an den Schultern oder am Bauch ihrer Mütter.

Plötzlich wird das Schiff langsamer. In der Dunkelheit taucht ein helles Licht auf und nähert sich mit großer Geschwindigkeit: ein Motorboot mit zwei Leuten darin. Es geht an der „Aquidaban“ längsseits, ein Mann klettert an Bord. „Solche Besuche kriegen wir unterwegs oft“, erklärt uns ein Matrose. „Die Leute holen eine Bestellung ab, begleichen ihre Schulden oder bezahlen, was sie in der Woche davor gekauft haben. So funktioniert das hier. Ein gegebenes Wort hat großen Wert.“ Eine Gasflasche auf dem Rücken, klettert der Besucher zurück in das Motorboot. Sein Begleiter wirft den Motor an, und die beiden entfernen sich über den Fluss, bis die Nacht sie verschluckt.

Donnerstagmorgen. Ab 7 Uhr werkelt Pitín in der Küche. Es ist ein befreiender Moment, wenn der Geruch von gebratenem Fleisch den Gestank von Öl und Urin vom Heck her überdeckt. Eladio Acuña Samaneo steht in einem tadellosen blauen Hemd an einem Fenster und kämmt sorgfältig sein üppiges kurzes, schwarzes Haar. Er scheint die Nacht sitzend auf der Holzbank verbracht zu haben, neben seinem Koffer. „Ich hatte wegen meiner Rente ein paar Formalitäten in Concepción zu regeln. Jetzt bin ich auf der Heimreise, nach Fuerte Olimpo.“

Er ist Soldat gewesen, bei der Marine, in einem Land ohne Zugang zum Meer. Hauptaufgabe war, für die Sicherheit der Binnenschifffahrt zu sorgen. Aber er war auch auf Missionen zum Schutz von Handelsflotten auf den Weltmeeren unterwegs, auch nach Europa ist er gekommen. „Bilbao, Le Havre, Rotterdam, sogar Hamburg“, zählt der ehemalige Unteroffizier stolz auf. „Ich wollte mir mit meinen Kameraden auch Berlin ansehen, aber das ging nicht, sonst hätte man uns damals, Anfang der 1980er Jahre, nach unserer Rückkehr beschuldigt, Kommunisten zu sein.“

So ein Vorwurf hätte unter der Herrschaft des Diktators Alfredo Stroessner schlimme Folgen gehabt: Der Gewaltherrscher (1954–1989) machte Paraguay zu einem Bollwerk gegen den Kommunismus in Lateinamerika, treu an der Seite der USA.

Gegenüber von Acuña Samaneo beobachtet ein junges Paar durch ein Fenster die Landschaft. „Schauen Sie mal da hinten!“, rufen sie plötzlich und reichen uns das Fernglas. Am Ufer schlägt sich eine Gruppe Wasserschweine durch die Vegetation. „Das sind die größten Nagetiere, die es gibt. Auf Guaraní heißen sie capybara, das bedeutet ‚Herr der Gräser‘ “, erklärt María. Die beiden kommen aus Asunción und haben beschlossen, zum 30. Geburtstag der jungen Frau eine Reise durchs ganze Land zu machen. Sie sind die einzigen Passagiere, die hier, wo der Lauf des Flusses die Zeit diktiert, eine Uhr tragen.

9 Uhr. Die „Aquidaban“ erreicht Fuerte Olimpo. Die im 18. Jahrhundert von den Spa­niern gegründete Stadt hieß früher Fuerte Borbón, nach dem spanischen Königshaus. José Gaspar Ro­dri­guez de Francia, Kämpfer für Paraguays Unabhängigkeit und von 1814 bis 1840 sein erster Herr­scher2 , gab der Stadt ihren neuen Namen. „Wegen der umliegenden Hügel, die ihn an den Berg Olymp aus der Antike erinnerten“, sagt Acu­ña Samaneo, während er sein Gepäck zusammensucht.

An Deck ist die Besatzung schon dabei, einen Teil der Waren zu löschen. Die Einwohner der Stadt packen mit an und hieven anschließend die kostbare Ladung auf ihre Wagen und Mopeds. „Das wird hier ein Weilchen dauern. Wenn jemand inzwischen bei mir zu Hause duschen will, ist er herzlich willkommen“, sagt der Rentner, bevor er das Schiff verlässt. Diese Gastfreundlichkeit überrascht uns ausländische Reporter, die Einheimischen weniger. Juan geht ihm hinterher.

Wie lange liegen wir am Kai? Zwei Stunden? Drei? Die „Aquidaban“ mit ihrer von der sengenden Sonne erhitzten Metallhülle wird zum Backofen. Neue Fahrgäste sind zugestiegen und fügen unserem Mikrokosmos neue physische Merkmale hinzu: Ihre Haut ist lehmfarben, ihr Haar kräftig und schwarz. Gruppen von Jugendlichen zumeist, andere in ihren Zwanzigern. Die meisten sind Indigene – „Indios“. Ein junger Mann mit hellerer Haut in Bermudashorts und schwarzem T-Shirt, der auf einem Hocker sitzt, spricht uns an. „Was Sie da jetzt hören, ist nicht Guaraní. Das ist Yshir, die Sprache der Chamacoco. Die kann ich auch nicht verstehen.“

Die Chamacoco oder Yshir Ybytoso, die ursprünglich aus Alto Paraguay stammen und sich an den Ufern des Río Paraguay niedergelassen haben, sind eine der 19 autochtonen Ethnien, die im Staat Paraguay leben. Laut der Volkszählung von 2012 sind von den knapp 7 Millionen Einwohnern des Landes 117 150 Indigene.3

„Ich fahre nach Bahía Negra. Wie sie. Das ist ihr Territorium“, redet der junge Mann weiter. Er trägt eine Kappe, auf die die Nationalflagge gestickt ist. Er ist Soldat und kehrt aus seinem Urlaub zurück. Die freien Tage hat er in Concepción verbracht, um ein Problem mit seiner Bankkarte zu klären. „Es gibt in der ganzen Gegend keine Bankfiliale, ich hatte keine Wahl.“ Seit zwei Jahren ist er in dieser Grenzregion stationiert. Weder er noch seine Kameraden sprechen die Sprache der indigenen Bevölkerung. Das erschwert das Zusammenleben und bedeutet ein echtes Hindernis für die Entwicklung eines gemeinsamen Nationalgefühls. Die „Indios“ ihrerseits sagen „Paraguayer“, wenn sie Landsleute meinen, die nicht zu ihrer Gemeinschaft gehören.

Auch Rodolfo Ferreira Frič hat die Reise nach Concepción gemacht, um Bankgeschäfte zu erledigen. Der 79-Jährige wird von seiner Enkelin begleitet – ein Glück für den kleinen, zerbrechlichen Mann mit der gebeugten Haltung. „Könnten Sie vielleicht mein Spanisch korrigieren helfen?“, fragt er uns. Wohl weniger, weil es ihm um die Richtigkeit seiner Sätze geht, sondern eher, weil er möchte, dass wir lesen, was er geschrieben hat. Ein aufgeschlagenes Heft liegt auf seinen Knien. Dieser Mann mit einem funkelnden, neugierigen Blick unter dem halblangen weißen Haarschopf ist eine lokale Berühmtheit: ein Indigener mit europäischem Migrationshintergrund. „Mein Großvater war der tschechische Anthropologe Alberto Vojtěch Frič, der Anfang des 20. Jahrhunderts bei den Chamacoco lebte. Meine Mutter Herminia wurde während seines Aufenthalts in Puerto Esperanza geboren.“

Ferreira Frič lebt immer noch in seinem Heimatdorf. Zusammen mit einem Historiker hat er auf Spanisch ein Buch herausgegeben, das die Schriften und Erinnerungen seines Großvaters sowie die Mythen seiner Gemeinschaft enthält: „Libro indio“ (Indianisches Buch). Ursprünglich erschien es in Tschechien, weil die Familie des 1944 gestorbenen Forschungsreisenden, mit der der alte Mann immer noch in Verbindung steht, für die Veröffentlichung gesorgt hatte. Zeitungen in Paraguay griffen die Geschichte dieses „Checo­macoco“ (von „checo“ – „tschechisch“ und „Chamacoco“) auf und berichteten von seinen Lesereisen nach Prag. Diese Arbeit ist dringend notwendig für den Erhalt einer Kultur, die durch die zunehmende Entwurzelung der Völker in der Chaco-Region bedroht ist.

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Am Horizont beginnt die Sonne zu sinken. Die „Aquidaban“ legt in Puerto María Elena an. Von Deck aus erkennen wir ein felsiges Hochufer und die Umrisse vieler Menschen, hinter ihnen einfache Behausungen und Palmen. Schnell versammelt sich das ganze Dorf an der Anlegestelle, nur die Alten schaue von oben herunter. Kinder kommen barfuß auf uns zugelaufen und rennen im Slalom um den Plastikmüll, der im Sand verstreut herumliegt. Ein paar abgemagerte Hunde haben sich an ihre Fersen gehängt. Kaum haben die Matrosen die Gangway ausgelegt, drängen sich die Erwachsenen an Bord und in die engen Gänge. Eingekauft werden tiefgefrorene Hühner, Kartoffeln, Toastbrot, Fruchtsaft in Tetrapaks. Draußen entladen junge Männer die bestellten Kisten und Säcke: Reis, Erfrischungsgetränke, Packungen mit Knallkörpern, Feuerwerk und Bier, viel Bier.

Plötzlich erscheint ein Frachter auf dem Fluss. Lautlos fährt er an der „Aquidaban“ vorbei und verschwindet flussabwärts nach Süden, in Richtung des Río de la Plata und der Atlantikküste. Was hat er wohl geladen? Paraguayisches oder brasilianisches Soja? Bolivianisches Erz?

Gestank von ­Öl und Urin

Am Morgen des dritten Tages erreicht die „Aquidaban“ Bahía Negra, das Ziel der Reise. Wie üblich werden wir am Ufer erwartet. Die Jeeps und Mopeds stehen bereit, um mitzunehmen, was von der Fracht noch übrig ist. Zuerst kommen Soldaten in Uniform an Bord. Sie tragen Masken und bringen uns auf einmal die Pandemie wieder ins Bewusstsein. Einer von ihnen trägt ein Sprühgerät auf dem Rücken und beginnt mitten unter den zum Ausgang drängenden Passagieren das Schiff zu desinfizieren.

In Bahía Negra leben ungefähr 2500 Menschen, überwiegend Yshir. An den staubigen unbefestigten Alleen stehen Häuser, von denen keines mehr als zwei Stockwerke hat. In einigen davon befindet sich ein kleines Lebensmittelgeschäft oder eine Herberge. Ein Mann, der uns vor einem geschlossenen Gitter stehen sieht, ruft uns zu: „Der Ladenbesitzer ist nicht da. Alle sind zum Anleger runtergegangen, Ware abholen.“

Außer der „Aquidaban“ gibt es noch genau zwei weitere Möglichkeiten, nach Bahía Negra zu kommen: über die Straße und durch die Luft. Einmal in der Woche kommt eine Propellermaschine aus der Hauptstadt – sofern das Wetter mitspielt, denn Regenfälle verwandeln die grasbewachsene Fläche, die als Landebahn dient, in einen Sumpf. Und die Straßen macht der Regen zu unbefahrbaren Schlammbächen. Mehr als einmal war die Ortschaft vom Rest der Welt abgeschnitten.

Mittag. Viele Leute sind schon an Bord. Das Schiff hat nun zwar weniger Fracht geladen als auf der Hinfahrt, doch die Passagiere sind mehr geworden. Sie sitzen überall auf den Gängen und Treppen, Nachzügler müssen mit ihrem Gepäck über sie hinwegsteigen, um aufs Oberdeck zu gelangen. Ein Soldat vertreibt die Zaungäste und die Betrunkenen, die sich an der Schiffsbar haben volllaufen lassen.

In einer Hängematte liegt ein junges Mädchen mit braunen Haaren. Zwischen ihren ­Knien hält sie vorsichtig einen Karton, in dem ein Wellensittich mit seinen Jungen sitzt. „Die sind für meine Schwester, die in Concepción wohnt.“ Nilsa ist Gymnasiastin und nutzt, wie viele ihrer Schulkameraden an Bord, die Ferien für eine kleine Reise. Neben ihr steht eine Frau mit kurzen Haaren, die jeden anlächelt und anspricht, dessen Blick den ihren kreuzt. „Das ist eine Pros­ti­tuier­te“, flüstert Aristides amüsiert, ein 50-Jähriger aus San Pedro.

An der Bar hat ein alter Mann mit langem weißen Haar eine Limonade bestellt. Er ist sehr dünn und krumm, er trägt eine blaue Jogginghose und ein langärmeliges weißes T-Shirt. Mit einer von den Jahren abgenutzten Stimme erzählt er: „Ich bin Peruaner und Agraringenieur.“ Aus seiner Umhängetasche zieht er ein Heftchen mit den Zehn Geboten und reicht es uns. „Ich besuche die indigenen Gemeinschaften und überbringe ihnen die Heilsbotschaft Christi.“ Wie sich herausstellt, ist er Mitglied der fundamentalistischen Asociación Evangélica de la Misión Israelita del Nuevo Pacto Universal, die in Peru gegründet wurde und das Christentum mit religiösen Praktiken der Inkas mischt. „2021 wird das Ende der Welt kommen. Diese Pandemie hat es angekündigt, und es wird weitere Zeichen geben“, belehrt er uns, bevor er an seinen Platz zurückgeht.

Wieder wird es Nacht. Die Besatzung hat offenbar alle Versuche aufgegeben, für Ordnung und Sauberkeit an Bord zu sorgen. Die „Aquidaban“ ist den Feierwütigen überlassen. Auf einer Bank in der Küche, deren Boden mit Abfall übersät ist, sitzt ein alter Mann mit abwesendem Blick. Sein kleines Musikgerät dudelt ohne Unterbrechung. Neben ihm lagert ein Mann mit einem imposanten Cowboyhut und lallt vor sich hin. Auf der Bank gegenüber versucht ein junges Paar um die zwanzig zu schlafen.

Die Nacht scheint nie enden zu wollen. Die „Aquidaban“ findet nur mühselig ins Dämmerlicht zurück. Nur die Kinder sind von überschäumender Energie und rennen überall herum. Die Männer schlafen ihren Rausch aus. Der Alte vom Vorabend sitzt immer noch am selben Platz. Er streichelt sein Musikgerät, das nun schweigt, weil die Batterien leer sind. Andere haben sich auf Kartons ausgestreckt oder lehnen an der Wand und ertragen schweigend ihren Brummschädel. „Sie können nicht mit dem Geld vom Staat umgehen“, schimpft Pitín und säubert seine Arbeitsfläche. „Wir sind kurz vor Monatsende, und sie haben gerade die Entschädigung ausgezahlt bekommen, die sie kriegen, weil sie zurzeit nicht fischen dürfen. Deswegen saufen sie so viel.“

Die Regierung hat den indigenen Gemeinschaften von Alto Paraguay für drei Monate verboten, ihrer traditionellen Arbeit nachzugehen, damit sich die Fischbestände im Fluss erholen können. Die Höhe der Entschädigung hängt von der Situation der Fischer ab: Ein Junggeselle erhält knapp 1 Million Guaraní (circa 120 Euro), eine Familie mit mindestens zwei Kindern etwas mehr als 2 Millionen. Weil die Chamacoco seit jeher von dem leben, was Wald und Fluss hergeben, kennen sie keine Kultur des Sparens und wurden von den neuen wirtschaftlichen Spielregeln kalt erwischt.

Reynalda schlurft über das Deck und bettelt um ein paar Guaraní. Im Missionar aus Peru, der gerade seine Morgentoilette beendet hat, findet sie eine mildtätige Seele. Auch Nilsa hat sich zurechtgemacht. Mit ihrem ausgeschnittenen weiß-rosa Kleid zieht das Mädchen die Blicke der Jungen auf sich und reißt die Zombies aus ihrem Dämmerschlaf.

„Um wie viel Uhr kommen wir in Vallemí an?“, fragt ein Fahrgast an der Bar. Pitín schaut auf seine Uhr und antwortet kurz: „Nicht vor drei Uhr nachmittags.“ Dann macht er einen Anruf und setzt die Leute, die in Vallemí den Bus nach Concepción bereitstellen, von der voraussichtlichen Ankunftszeit in Kenntnis.

Mehr als eine Stunde noch, bis wir unser Ziel erreichen. Alle wollen der „Aquidaban“ jetzt nur noch entkommen. Der Koch setzt sich in einer ruhigen Minute, in der er ausnahmsweise mal nichts zu tun hat, auf einen Schemel und wischt auf seinem Handy herum. Auf dem Display erscheint das Bild eines kleinen Kindes. Das Gesicht des Unerbittlichen strahlt auf. Endlich, bald, wird er seine Familie wiedersehen. Eine Stimme reißt ihn aus seinen Träumen: „An die ganze Besatzung: Abfahrt Mittwoch in aller ­Frühe! Dass mir keiner zu spät kommt!“

1 Siehe José Natanson, „Der Sud der Freundschaft“, LMd, Mai 2021.

2 Der Diktator auf Lebenszeit versuchte Paraguay wirtschaftlich autark zu machen. Vgl. den Roman von Augusto Roa Bastos, „Yo, el Supremo“, Deutsch: „Ich, der Allmächtige“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1977.

3 „DGEEC comparte datos sobre los pueblos indígenas en Paraguay“, Dirección General de Estadística, Encuestas y Censos.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Loïc Ramirez ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Loïc Ramirez