12.08.2021

Die Aufgeregten

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Die Aufgeregten

Die politische Kultur der USA geht in Angst und Wut unter

von Thomas Frank

Obdachlosencamp in Reno, Nevada TY O’NEIL/picture alliance/zumapress
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Trump war ein furchtbarer Präsident: getrieben von Vorurteilen, egomanisch, bar jeder Empathie, in sein Image verliebt. Und völlig ahnungslos, was Regieren bedeutet. Trump log am laufenden Band. Er war ein Demagoge, der sich zu Unrecht als Beschützer der arbeitenden Bevölkerung aufspielte. Er nutzte das höchste Amt im Staat, um sich und seinen Anhang zu bereichern. Er ließ es zu, dass die Unternehmen gesetzliche Vorschriften missachteten. Er betrachtete jede Wahl, die ihm nicht einen klaren Sieg bescherte, als illegitim.

Allerdings: All diese Eigenschaften und Verhaltensweisen kann man bei vielen anderen politischen Figuren der letzten 50 Jahre auch feststellen; es gab Präsidenten der Vereinigten Staaten, die ihre exekutive Macht krasser und folgenreicher missbraucht haben als Trump. Ronald Reagan zum Beispiel hat den gesamten Finanzsektor dereguliert, das Comeback der Monopole ermöglicht, die Macht der Gewerkschaften gebrochen und sogar versucht, die Außenpolitik des Landes zu privatisieren. George W. Bush hat einen Krieg mit falschen Behauptungen begründet und eine staatliche Überwachung aufgebaut, die immer noch und immer weiter ausgreift. Richard Nixon schließlich – sein Sündenregister kennt man zur Genüge.

Nixon, Reagan, Bush waren immerhin fähige Männer, die mit Kalkül die erklärten Ziele ihrer Partei verfolgten. Trump dagegen war unfassbar inkompetent: ein Narr, der sich mit Kräften anlegte, die er nicht verstand. Zwar hat er Steuergeschenke für die Reichen durch den US-Kongress gebracht und eine Schar konservativer oberster Richter und Richterinnen ernannt, aber ansonsten hat er kaum irgendein politisches Ziel erreicht.

Dieser vorgeblich starke Mann, der auf die Chance gewartet hatte, endlich seine Muskeln zu zeigen, tat in Wahrheit gar nichts, als ein echter nationaler Notstand in Gestalt der Coronapandemie eintrat. Das Krisenmanagement überließ Trump den Einzelstaaten und dem privaten Sektor. Und als im Sommer 2020 die Black-Lives-Matter-Bewegung die Städte in Aufruhr versetzte, fiel ihm nichts Besseres ein, als den Medien die Schuld zu geben. Und ihm selbst wurden seine Twitter- und Facebook-Konten gesperrt, weil er mit seinen Tweets angeblich die Meinungsfreiheit missbraucht habe.

Was sagt uns all dies über die Entwicklung der politischen Kultur in den letzten fünf Jahren? Von 2016 bis Anfang 2021 haben die Printmedien, Radiosender und TV-Kanäle, die unser intellektuelles Leben maßgeblich bestimmen, ein Bild von Trump verbreitet, das ihn als autoritären Charakter und Tyrannen, als atomwaffenverrückten Kriegstreiber, als Nazi und übelsten politischen Führer seit Hitler zeichnete. Dieser hysterische publizistische Chor übertönte alles. Und wer als Linker die Dinge anders sah, war weg vom Fenster. Wer die Aufgeregtheit nicht teilte, stellte sich ins politische Abseits.

Es begann mit der Geschichte, die zum fundamentalen Dogma der Aufgeregten wurde: Trump habe die Wahlen vom November 2016 nicht nur dank russischer Hilfe gewonnen, sondern sei auch selbst Agent einer feindlichen Macht. Die zentralen Annahmen dieser Verschwörungstheorie wurden nie belegt, andere Behauptungen – wie die Story vom russischem Kopfgeld für US-Soldaten in Afghanistan – haben sich als falsch erwiesen. Die Reihe grob fehlerhafter Enthüllungen über Trump lässt sich beliebig verlängern. Die Hysterie der Liberalen ist für die Kulturgeschichte der Trump-Jahre ebenso kennzeichnend wie der Präsident selbst. Vielleicht war sie sogar noch wichtiger als das New Yorker Großmaul, weil diese Hysterie die Gedanken und Ängste der dominierenden Gesellschaftsschicht verrät, also von Millionen gut situierter Akademiker, die in den letzten Jahrzehnten immer noch wohlhabender geworden sind.

Nach Trumps (vorübergehendem) Abgang von der nationalen Bühne behauptet sich die siegreiche Klasse der Besserverdienenden weiter an der Macht: Ihre Sicht der Dinge herrscht in Sillicon Valley, in der Finanzwelt, an den Universitäten, in den Medien und in vielen NGOs wie auch in übermächtigen Konzernen, die ihre edle antirassistische Gesinnung in Werbespots verkünden.

Doch die größte Ironie besteht darin, dass die Angst der „Liberalen“ vor dem Trump’schen Autoritarismus einen neuen Autoritarismus hervorgebracht hat: Viele der liberalen oder linken Stimmen, die vor vier Jahren ständig vor einem autoritären Trump-Regime gewarnt haben, beginnen sich langsam mit der Idee anzufreunden, dass man den staatlichen Überwachungsapparat gegen den sogenannten inneren Extremismus einsetzen könnte.

Glaubt man diesem nimmermüden Chor der Aufgeregten, so war der Trump’sche Autoritarismus nur aufzuhalten, indem die Macht der traditionellen Autoritäten – sozusagen der gesellschaftlich „autorisierten Autoritäten“ – gestärkt würde. Gemeint ist damit die bestens ausgebildete Klasse, zu der etwa unsere Professoren, Starjournalisten, Banker, Mediziner, Juristen und technischen Genies gehören. Die Macht dieser Kohorte von Autoritäten macht den Hysterikern keine Angst. Manche von ihnen finden es sogar fair und tolerant, wenn diese „autorisierten Autoritäten“ ihre Überzeugungen dem einfachen Volk mittels Zensur und Gesinnungskontrolle aufzuzwingen versuchen.

Woher aber rührt die hier beschriebene Aufgeregtheit? Die dominierenden Merkmale der Trump-Präsidentschaft waren Narzissmus und Inkompetenz – und keineswegs ausgeklügelte Machtstrategien. Trump hat mehrere ideale Gelegenheiten zur Erweiterung seiner Macht verpasst, die andere US-Präsidenten sofort genutzt hätten. Einen Machtzuwachs erfuhren während seiner Amtszeit dagegen die ohnehin starken Mainstream-Zeitungen, die mutwillig auf jede Objektivität verzichteten und die Wahrheit in „ausgeschmückter“ Form auftischten.

Die Spitzen der Demokratischen Partei haben die Aufregung, die sich in ihrer Gefolgschaft breitmachte, allenfalls als rhetorische Begleitmusik betrachtet. Denn im Kongress hatte die Fraktion der Demokraten während Trumps Amtszeit kein Problem damit, für absurd aufgeblähte Militärausgaben zu stimmen. Und das hätte, wenn sie davon ausgingen, dass der Mann tatsächlich einen zweiten Holocaust vorhatte, praktisch Selbstmord bedeutet. Jedenfalls haben die Demokraten – außer der Errichtung eines Zauns um das Kapitol und der Aufstockung der Capital Police Force – nicht wirklich etwas gegen künftige autoritäre Machenschaften unternommen.

Was also ist die soziale Funktion dieser Aufgeregtheit? Warum verfallen die Vereinigten Staaten ab und zu in eine derartige Hysterie? Man kann ein paar leichte Antworten finden. Zum Beispiel die, dass es Spaß macht, sich aufzuregen. Viele Leute fühlen sich als Helden, wenn man ihnen sagt, dass sie die letzte Hoffnung der Zivilisation sind oder dass sie die Demokratie vor einem noch schlimmeren Hitler retten können. Aufregung verkauft sich immer gut: Sie produziert Bestseller und bringt die Leute dazu, sich den lieben langen Tag von CNN oder Fox News radikalisieren zu lassen. Aufregung stiftet Verwirrung und macht klares, kritisches Denken unmöglich. Und vor allem: Aufregung mobilisiert. Weil in der Wahlkampagne von 2020 beide Seiten den Weltuntergang voraussagten, kam die höchste Wahlbeteiligung seit dem Jahr 1900 zustande.

Vielleicht ist hysterische Aufgeregtheit also der Modus, in dem heutzutage Wahlkämpfe geführt werden. Und vielleicht ist es sogar gut, dass auch das progressive Lager darauf gekommen ist, denn die langweiligen ältlichen „Zen­tris­ten“, die 2020 die Kandidatenlisten dominierten, konnten schwerlich große Begeisterung auslösen. Es bedurfte also großer Aufregung, um Joe Biden ins Weiße Haus zu bringen. Und Biden ist nach jedem Maßstab ein weit besserer Präsident als Trump. Womöglich sollte man deshalb einer politischen Kultur dankbar sein, die auf systematische Übertreibung und Ängste vor dem Faschismus setzt.

Doch hier kommt mein großes Aber: Die beschriebene Aufgeregtheit, die übrigens auch von ernsthaften Intellektuellen geteilt wird, hat einen präzisen Inhalt. Der aktuell gehegte Albtraum ist der, dass die Ignoranz auf dem Vormarsch sei, dass das einfache Volk den Respekt vor gültigen Normen, den Institutionen und Eliten verliere und dass es mit seinen angeblich autoritären Neigungen die Zivilisation als solche bedrohe.

Genau dieselben, von den Eliten geschürten Ängste kennen wir aus zwei früheren Episoden unserer Geschichte. Die eine Welle solcher Aufgeregtheit gab es im Sommer 1896, als die Demokraten als Präsidentschaftskandidaten einen Kritiker der Eliten namens William Jennings Bryan nominierten, der auch von der linken Populist Party1 unterstützt wurde. Dieser Bryan wurde dann von den Ostküsten-Eliten erbittert bekämpft, selbst von prominenten Mitgliedern seiner Partei.

Dasselbe wiederholte sich Mitte der 1930er Jahre, als Präsident Franklin D. Roosevelt, der 1932 mitten in der tiefsten Rezession gewählt worden war, ein quasi sozialdemokratisches Programm vorantrieb – für das Establishment ein Albtraum. Roosevelt wurde von den publizistischen, juristischen und ökonomischen Eliten als Diktator, Kommunist, Faschist oder Wahnsinniger denunziert.

Trump ist gewiss kein neuer Roosevelt gewesen und hat nichts mit Bryan gemein, der ein tiefreligiöser Mensch war und die New Yorker Immobilienhaie verabscheute. Aber die Opposi­tion gegen diese drei Figuren folgt einem bekannten, in den USA immer wieder auftretenden Muster: die eiserne Verbundenheit der Oberschicht, die Sorge um Normen und ungeschriebene Gesetze, Angst vor dem Einfluss fremder Mächte, die permanenten Übertreibungen.

Bei der Suche nach den Ursachen dieser drei Fälle politischer Aufregung fällt ein gemeinsamer Nenner ins Auge: die extreme Ungleichheit. Die hysterischen Warnungen kamen stets aus der privilegiertesten Gesellschaftsschicht, die das politische Geschehen im Land als tödliche Bedrohung wahrnahm.

Im Fall von Sozialdemokraten wie Bryan und Roosevelt lag das auf der Hand. Bei Trump liegen die Dinge komplizierter, denn er ist ja kein Feind der Reichen, denen er Steuern erlassen hat. Doch er hat auf seine ordinären und selbstverliebte Art die Globalisierungsdoktrin aufgekündigt, die für die oberen Schichten seit den 1990er Jahren eine tragende Säule ihrer Weltsicht war. Trump erklärte sich gegen den „endlosen Krieg“, gegen das militärische Bündnissystem der USA. Zwar hat er in allen diesen Fragen kaum etwas bewegt, aber er schaffte es immerhin, die Wut von Millionen der weißen Arbeiterklasse zu entfachen – die diese selbstgewisse, aufgeklärte Elite mit Verachtung betrachtet.

Warum? Man sehe sich einige Entwicklungen der letzten Jahre näher an: In den Jahren vor 2016 wurde der Mittlere Westen der USA von einer Opioid­epi­de­mie heimgesucht, hinter der Big Pharma und die Ärzteschaft stecken.2 Dieselbe Region leidet unter einer Entindustrialisierung, die auch auf unsere tollen Freihandelsabkommen zurückgeht. Die globale Finanzmarktkrise mit der anschließenden Rettung der Großbanken und Konzerne mit öffentlichen Geldern verdanken wir unseren größten Finanzgenies, die für ihre Taten kaum Konsequenzen zu tragen hatten. Man denke auch an den Irakkrieg, dieses Meisterstück unseres außenpolitischen Establishments. Und schließlich die unfassbare Tatsache, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der US-Bevölkerung in den letzten Jahren nicht gestiegen, sondern gesunken ist.

Trump hat natürlich nichts getan, um diese Probleme zu bewältigen. Aber dass sie existieren, wissen alle. Wobei das eine Lager redet, belehrt, beschimpft und befiehlt, während es im anderen, dem stummen, brodelt vor bitterer Wut. Alle wissen, dass diese schlimme Dynamik dazu beigetragen hat, einen rassistischen Demagogen zum Präsidenten zu machen. Und alle wissen auch, dass dieses Land explodieren wird, wenn nichts geschieht.

Es gibt zwei Alternativen, mit dieser Situation umzugehen. Die eine wäre, dass das progressive Lager die notwendigen praktischen Maßnahmen in Gang bringt, um diese Gesellschaft zu heilen. Zuallererst müsste man die rassistische Polizei und das rassistische Strafverfolgungssystem reformieren. Sodann müssten alle US-Bürgerinnen und Bürger wieder die Möglichkeit bekommen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, ein Unternehmen zu gründen oder zu studieren, ohne sich damit erdrückende Schulden aufzubürden, oder auch dann mit ihrer Arbeit einen anständigen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn sie keinen College­abschluss haben. Präsident Bidens Direktive, dass endlich die Antitrust-Gesetze wieder zur Geltung kommen sollen, war ein riesiger Schritt in diese Richtung.3

Die andere Alternative wäre, das zu verstärken, was man liberalen Autoritarismus nennen könnte, und das schlimme Volk zu zensieren und ihm unsere Sicht der Dinge aufzuzwingen. Schon heute ist das liberale Gedankengut davon durchdrungen – wobei der oberste Glaubenssatz lautet, dass die Macht in den richtigen Händen bleiben muss.

1 Siehe zur Geschichte der Populist Party: Thomas Frank, „Populisten und Experten“, LMd, September 2020.

2 Siehe zur Opioidkrise die Ohio-Reportage von Maxime Robin, „Als der Arzt zum Dealer wurde“, LMd, Februar 2018.

3 Siehe John Cassidy, „The Biden Antitrust Revolution“, The New Yorker, 12. Juli 2021.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Thomas Frank ist Journalist und Historiker sowie Autor von: „People, No: A Brief History of Anti-Populism“, New York (Metropolitan Books) 2020.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Thomas Frank