12.08.2021

Der Währungskiller von Beirut

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Der Währungskiller von Beirut

Der schillernde Präsident der Libanesischen Zentralbank, Riad Salamé, galt jahrelang als stabile Größe. Dabei haben seine riskanten Maßnahmen zum Niedergang des Landes beigetragen – und die machtlosen Regierungen haben nichts dagegen unternommen.

von Angélique Mounier-Kuhn

Zentralbank als Festung, März 2021 HUSSEIN MALLA/ap
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Ein Blick in die Archive hätte die Fakten schonungslos zutage gefördert. Im Sommer 2018 feierte die Libanesische Zentralbank (Banque du Liban, BdL) den 55. Jahrestag ihres Bestehens. Es war zugleich ein Jubiläum für Riad Salamé, der seit 25 Jahren Zentralbankchef ist. Diese außergewöhnlich lange Amtszeit erklärt sich dadurch, dass sein Vertrag von der Regierung alle sechs Jahre verlängert wurde.1

Zu Salamés Amtsjubiläum gab die staatliche LibanPost eine Briefmarke mit seinem Porträt heraus. Und ein hymnischer Text im Bordmagazin der Middle East Airlines (MEA) feierte die BdL als Symbol der „libanesischen Re­si­lienz“ und Salamé als eine „Institu­tion par excellence“, die das „Vertrauen in den Libanon und seinen Bankensektor“ repräsentiere.

Die Ergebenheitsadressen der MEA kommen nicht von ungefähr: Die Gesellschaft gehört zu 99 Prozent der BdL, die sie 1996 vor dem Konkurs gerettet hat. Der oberste Boss des MEA-Chefs heißt also Riad Salamé. Und der blockiert seit vielen Jahren eine teilweise oder volle Privatisierung der Flug­linie, die von den ausländischen Kreditgebern gefordert und auch von Salamé selbst als prioritär bezeichnet wurde. Dabei ist es generell nicht Aufgabe einer Zentralbank wie der BdL, auf Dauer aktive Unternehmenspolitik zu betreiben. Was die BdL auch in einem anderen Fall tut: Bis heute ist sie indirekt auch an dem legendären Casino du Liban beteiligt, das Prominente und Glücksritter aus aller Welt anzieht.

Vor dem Ausbruch der aktuellen Krise galt die Zentralbank als die einzige funktionierende Institution im Land. Doch im Sommer 2018 gerieten die BdL und ihr Chef erstmals unter Feuer, als monatelang Gerüchte über eine mögliche Abwertung des Libanesischen Pfunds kursierten. Trotz aller Dementi der BdL begann die Bevölkerung zu kapieren, dass ihrer Wirtschaft die Puste ausging.

Im Oktober 2019 explodierte der Volkszorn, der sich von Beirut ausgehend im ganzen Land ausbreitete. Der Schwarzmarktkurs des Libanesischen Pfund begann abzurutschen. Im März 2020, mitten in der Coronapandemie, konnte der Libanon erstmals in seiner Geschichte seine Auslandsschulden nicht mehr bedienen. Dann folgte am 4. August die gigantische Explosion im Beiruter Hafen. Das Land versank immer tiefer im Abgrund.2

Weil die libanesischen Geschäftsbanken zum Schutz ihrer Devisenreserven den Zugang zu Sparguthaben in Fremdwährung eingeschränkt hat, können sich viele Libanesinnen und Libanesen wichtige Medikamente und lebensnotwendige Güter nicht mehr leisten. Stromausfälle sind an der Tagesordnung. In den langen Warteschlangen, die sich schon vor Sonnenaufgang an den Tankstellen bilden, kommt es zu Schlägereien. Viele Händler übernachten aus Angst vor Plünderungen in ihren Läden. Mittlerweile lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Laut Weltbank ist der Libanon mit einer der drei schlimmsten Wirtschaftskrisen der Welt konfrontiert, die es seit dem 19. Jahrhundert in Friedenszeiten gab.3

Die BdL trifft der Umschwung der öffentlichen Meinung mit brutaler Wucht. Ihre schmeichelhafte Bilanz kann niemanden mehr täuschen. Und die Maßnahmen, mit denen Salamé auf die Krise reagiert hat, waren in den Augen der Bevölkerung ein Fehler zu viel, der die allgemeine Kaufkraft vollends ausgezehrt hat. Der Hauptvorwurf an den BdL-Chef lautet, dass er auf Kapitalverkehrskontrollen verzichtet hat, als sich der Absturz des Libanesischen Pfunds abzeichnete. So konnten hohe Vermögenswerte ins Ausland transferiert werden.

Kritisiert wird auch, dass er sich gegen die Überprüfung der BdL-Praktiken und -Konten gesperrt hat, die der Internationale Währungsfonds (IWF) als Voraussetzung für Verhandlungen über eine finanzielle Unterstützung gefordert hat. Die Empörung über die Führungsspitze der Zentralbank ist umso größer, als Salamé und seinem Klüngel unrechtmäßige Bereicherung nachgesagt wird, was der BdL-Präsident entschieden zurückweist. Mittlerweile sind gegen ihn mehrere Klagen im Libanon, in Frankreich, in Großbritannien und in der Schweiz anhängig.

Größenwahnsinnige ­Geldgeschäfte

Den Kurs der BdL hat Toufic Gaspard, ein früherer Berater des libanesischen Finanzministeriums und des IWF, bereits zwei Jahre vor dem Absturz kritisiert. Schon im August 2017 warnte er in einer Studie: „Der Libanon steuert wahrscheinlich auf eine gravierende Finanzkrise zu, die eine Abwertung der Währung und – was noch kritischer wäre – eine Destabilisierung des Bankensektors bewirken könnte.“4 Nach der Analyse des Wirtschaftswissenschaftlers waren die Nettoreserven der BdL nach Abzug der Verbindlichkeiten gegenüber ihren Gläubigerbanken schon 2015 ins Minus gerutscht – was bedeutete, dass die Zentralbank auf einen Crash zusteuerte.

Problematisch waren auch die Finanzoperationen, die von der BdL seit 2011 verstärkt und seit 2016 in gefährlichen Dimensionen betrieben wurden. Auf den Devisenmärkten sollten immer größere Geldreserven beschafft werden, die für die Importfinanzierung und die Verteidigung des Libanesischen Pfunds benötigt wurden. Deshalb lockten die libanesischen Banken ausländisches Kapital mit immer höheren Zinserlösen – eine Strategie, die Gas­pard 2017 als „finanziellen Selbstmord“ geißelte.

Damals hat die BdL jede Diskussion über diese Strategie verweigert. Auf die beunruhigende Studie reagierte sie lediglich mit einer offiziellen Verlautbarung, die ihre Politik als stabilisierend pries und die Kritik Gaspards diskreditierte. Auf libanesischen Druck wurde sogar eine Veranstaltung abgesagt, auf der das Dokument präsentiert werden sollte.

Diese Episode zeigt exemplarisch, wie viel Macht die Zentralbank unter Salamé erlangt hatte. Der Mann und die Institution sind in seiner 30-jährigen Amtszeit unauflöslich verschmolzen. Salamés Einfluss ist derart stark, dass in den Beiruter Salons das Bonmot kursierte, dessen finanzielle „Feuerkraft“ sei so groß wie die militärische von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah.

Tatsächlich ist schwer zu sagen, wer mehr Verantwortung für den Niedergang des Libanon trägt: die machtlosen Regierungen oder die allmächtige Zentralbank. Die Unfähigkeit der Regierungen, die Wirtschaft zu reformieren und weiterzuentwickeln, hat die BdL zu immer riskanteren Manövern ermutigt, die ausländisches Kapital anziehen sollten, langfristig aber die Staatskasse strapazierten.

Doch vielleicht war diese Entwicklung schon vorgezeichnet, als man das Libanesische Pfund ab 1992 informell und 1997 dann offiziell an den US-Dollar koppelte (zum Kurs von 1507,50 Pfund pro Dollar). Diese Entscheidung entsprang der Notwendigkeit, die Währungsreserven mit Greenbacks zu alimentieren, erklärt Cédric ­Tille, Professor für Außenwirtschaft am Genfer Graduate Institute: „Ein Land, das Haushaltsdefizite ansammelt und sich auf deren Finanzierung durch die Zentralbank verlässt, kann eine Zeit lang mit festen Wechselkursen klarkommen. Doch früher oder später bricht das System zusammen.“

Tille beruft sich auf analytische Modelle, mit denen Zahlungsbilanzkrisen seit den 1970er Jahren beschrieben wurden: „Die Fachliteratur zeigt, dass eine sanfte Landung nicht möglich ist. Der Bruch ist immer abrupt.“ 2018 belief sich das Defizit der Zahlungsbilanz5 des Libanon laut UN-Statistiken auf fast 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, womit der Libanon irgendwo zwischen der Afghanistans (15,8 Prozent) und Mosambiks (27,2 Prozent) rangiert.

Dieselbe These vertritt der Libanon-Experte Jérôme Maucourant von der Universität Saint-Étienne: Die Einführung des festen Wechselkurses habe „entscheidenden Anteil am aktuellen Desaster“. Der Libanon habe sich nach dem Ende des Bürgerkriegs (1975–1990) auf ein wirtschaftliches Entwicklungsmodell festgelegt, das den damaligen Vorgaben des IWF und der Weltbank entsprach: Öffnung nach außen, attraktive Bedingungen für ausländisches Kapital, Ausweitung des Freihandels.

Maucourant schreibt in einer Analyse6 , die er mit dem Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Farah verfasst hat: „So haben zahlreiche Verträge zur strukturellen Schwächung der libanesischen Wirtschaft beigetragen, die ungeschützt einem deregulierten, unfairen Wettbewerb ausgesetzt ist. Direkt betroffen waren Branchen wie der Holz-, der Schuh- und der Bekleidungssektor.“ Die logische Folge sei ein enormes Leistungsbilanzdefizit gewesen. Das wiederum machte es notwendig, für Dollarzuflüsse an die BdL zu sorgen, „die sich mit Haut und Haaren der Verteidigung ihres festen Wechselkurses verschrieben hat“.

Undurchsichtige ­Buchführung

Dieses System, in dem die Zentralbank – auf der Basis eines institutionellen Konsenses – die Hauptrolle spielte, hat sich über viele Jahre gehalten. „Das hätte noch lange so weitergehen können, weil ja alle zufrieden waren: die BdL, die Banken, der Staat. Zerstört wurde das System erst durch externe Schocks“, erklärt Nikolaj Nenowski, Professor für Geldtheorie in Sofia und Amiens. Von 2002 bis 2008 saß er auch im Gouverneursrat der bulgarischen Nationalbank, die selbst in ein System mit festem Wechselkurs eingebunden ist. Vor allem der Syrienkonflikt mit seiner destabilisierenden Wirkung und der Einbruch der Ölpreise, der die Einkommen der libanesischen Diaspora schmälert, haben den unerlässlichen Devisenzufluss in den Libanon gebremst.

Doch wie Tille darlegt, reicht das Sündenregister der BdL viel weiter zurück. „In den Entwicklungsländern ist die Zentralbank als technokratische Einheit häufig die Institution, der am meisten Respekt entgegengebracht wird, solange sie sich an die Grenzen ihres Mandats hält.“ Überschreitet sie diese Grenzen, um das Versagen der Politik zu verdecken, wird es gefährlich, weil sie „womöglich widersprüchliche Ziele verfolgt oder weil die Politiker jeden Anreiz verlieren, die nötigen Reformen anzupacken“.

Riad Salamé hätte sich auf die geld- und kreditpolitischen Aufgaben beschränken können, die der BdL gesetzlich zugewiesen sind, also für die Stabilität des Pfunds, der Wirtschaft und des Bankensystems zu sorgen und den Geld- und Finanzmarkt zu überwachen. Doch wie sollte ein BdL-Chef der Versuchung widerstehen, seine Macht auszuweiten, wenn man ihm die Schlüssel des Systems aushändigt und wenn er von den Geldgebern des Libanons – allen voran Frankreich – angehimmelt wird. Die Zentralbank adoptierte nicht nur Unternehmen wie die MEA; sie gab auch die Vorkämpferin der Digitalisierung, indem sie etwa zwischen 2014 und 2016 die aufwändige Konferenz „BdL Accelerate“ organisierte, mit dem Ziel, Beirut für Start-ups attraktiv zu machen.

Doch weit problematischer ist ein anderer Punkt: Ohne funktionierende Go­ver­nance-­Kon­troll­sys­teme wurde die BdL immer undurchsichtiger. Damit ging das „Vertrauen“, das Salamé immer beschworen hatte, ebenso verloren wie die Transparenz, die von einer Zentralbank erwartet wird. Die BdL publiziert schon seit rund zwanzig Jahren keine Gewinn- und Verlustrechnungen mehr. Der Zentralbankchef hat auch dem Parlament keine Rechenschaft über seine Geldpolitik abgelegt, wie es sogar noch zu Bürgerkriegszeiten üblich war. Und zu allem Übel haben die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften EY und Deloitte in ihrem 2018 erstellten Audit eine Reihe von unklaren Buchführungspraktiken aufgedeckt.

Dabei hat es an Vorwarnungen nicht gefehlt. Die US-Botschaft in Beirut hatte Salamé bereits 2007 in mehreren Depeschen, die 2010 von Wiki­leaks veröffentlicht wurden, als schillernde Figur beschrieben. Der Zentralbankchef wurde damals besonders genau beäugt, weil er Ambitionen auf das Präsidentenamt bekundet hatte. Die US-Diplomaten betonten insbesondere seine „sehr komplexe“ Beziehung zur Regierung, deren Ausgaben Salamé nach Belieben abdecken oder ablehnen konnte.

In den Berichten nach Washington wurde die Autonomie der BdL als „extrem“ geschildert. Und über Salamé hieß es schon damals, er zeige keine Bereitschaft, „die Höhe der Nettoreserven des Landes preiszugeben“ oder eine Überprüfung durch den IWF zuzulassen. Fazit: Das alles gehe weit über das hinaus, was sich mit ökonomischen Sachzwängen oder der politischen Unabhängigkeit einer Zentralbank rechtfertigen ließe. Diesem Befund von 2007 ist nichts hinzuzufügen.

1 Siehe Ibrahim Warde, „Une banque centrale à la ma­nœuv­re“, in „Liban, 1920–2020, un siècle de tumulte“, Manière de voir, Nr. 174, Dezember 2020.

2 Siehe Doha Chams, „Kein Geld, kein Strom, keine Zukunft“, LMd, Oktober 2020.

3 „Lebanon Sinking (To the Top 3)“, Lebanon Economic Monitor, Weltbank, Frühjahr 2021.

4 Toufic Gaspard, „Financial crisis in Lebanon“, Policy Paper, Nr. 12, Bonn, August 2017, im Auftrag von Maison du Futur, Konrad-Adenauer-Stiftung, Bickfaya (Libanon).

5 Die Zahlungsbilanz erfasst alle Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalströme zwischen einem Land und dem Rest der Welt.

6 Der Text wurde für den Sammelband „Dette et Politique“ verfasst, der im Herbst 2021 bei Presses universitaires de Franche-Comté erscheinen soll.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Angélique Mounier-Kuhn ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 12.08.2021, von Angélique Mounier-Kuhn