Machtspiele mit Mikrochips
Kein Auto und kein Mixer kommt heutzutage ohne Halbleiter aus – doch die sind knapp. Weil die meisten Hersteller in Asien sitzen, stellen die USA sogar ihr Freihandelsdogma infrage und planen moderne Chip-Fabriken im eigenen Land. Die EU sorgt sich vor allem um ihre Autokonzerne und agiert ohne Strategie.
von Evgeny Morozov
Die Halbleiterknappheit, die aktuell auf dem Weltmarkt herrscht, äußert sich in absonderlichen Formen. Etwa auf dem Feld der Geopolitik: Im vergangenen Mai ersuchte ein US-amerikanisches Firmenkonsortium den südkoreanischen Präsidenten Moon Jae In um eine Amnestie für den ehemaligen Samsung-Chef Lee Jae Yong, der gerade eine 18-monatige Haftstrafe wegen Korruption verbüßt.1
Der Grund: Samsung soll möglichst umgehend seine milliardenschweren Investitionsvorhaben in den USA realisieren, weil man in Washington die Abhängigkeit der US-Industrie von Mikrochip-Importen reduzieren will. Wenn es um die elektronische Souveränität des Landes geht, sind die üblichen Sprüche über Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Regeln vergessen.
Mikrochips sind heute in vielen Geräten des täglichen Gebrauchs verbaut. Ohne Halbleiter, die vielleicht nur einen Dollar pro Stück kosten, sind die ultramodernen, hippen und kostspieligen Gadgets von heute nicht funktionsfähig – und Elektroautos, Smartphones, intelligente Kühlschränke, internetfähige Zahnbürsten würden im großen schwarzen Loch des globalisierten Kapitalismus verschwinden.
Dass Überangebot und Mangel einander ablösen, ist auf dem Elektronikchip-Markt nicht außergewöhnlich. Die aktuelle Krise fällt allerdings in eine Zeit, in der die Segnungen der Globalisierung auf breiter Front infrage gestellt werden und die Industrieproduktion in der westlichen Welt zurückgeht. Hinzu kommt die zunehmende Politisierung der Hochtechnologie, weshalb etwa die künstliche Intelligenz (KI) zum strategischen Thema in der Konfrontation zwischen den USA und China werden konnte. Deshalb löst eine banale technische Krise, die noch vor zehn Jahren außerhalb der betroffenen Branchen kaum jemanden interessiert hätte, bei den Großen der Weltpolitik furchtbare Kopfschmerzen aus.
Tausche Impfstoff gegen Halbleiter
Dass auch die Coronapandemie zu dieser Krise beiträgt, liegt auf der Hand. Um den Lockdown zu überstehen, sind immer mehr Menschen auf digitale Dienstleistungen angewiesen, für die es Router, Server und andere mit Mikroprozessoren vollgepackte Geräte braucht. Zudem schafften sich Familien wie Singles – auch aus Langeweile – neue elektrische Haushaltsgeräte an, womit die Nachfrage nach Mixern und Reiskochern einen unerwarteten Anstieg erlebte.
Aufgrund der Coronamaßnahmen mussten auch die Halbleiterfabriken, die hauptsächlich in Taiwan, Südkorea und China stehen, für kurze Zeit die Produktion einstellen. Wobei eines der führenden Unternehmen der Branche, Yangtze Memory Technologies, zufällig in Wuhan ansässig ist. Für die Regierungen in Seoul und Taipeh gab es anfangs viel Lob für ihr Pandemiemanagement, aber auch sie schafften es nicht, ausreichend Impfstoff bereitzustellen, sodass auch die Produktion der südkoreanischen und taiwanischen Chipfabriken beeinträchtigt war.
In Ostasien entwickelte sich eine ungewöhnliche Form der Diplomatie nach dem Motto „Chips gegen Impfstoff“: Taiwan zweigte demonstrativ einen Teil seiner elektronischen Ressourcen ab, um sich Impfstoffdosen von seinen auf Komponenten angewiesenen Partnern zu beschaffen. Japan, das taiwanische Unternehmen ins Land locken will, bot dem Nachbarland 1,24 Millionen Dosen Astrazeneca an. Washington wollte ursprünglich 750 000 Dosen Moderna spenden und legte dann sogar das Dreifache auf den Tisch. Mitte Juni erteilte Taipeh seinem wichtigsten Chiphersteller TSMC (Taiwan Semiconductor Manufacturing Company) und Foxconn, einem weiteren Vorzeigeunternehmen der Technologiebranche, die Erlaubnis zu Direktverhandlungen über den Kauf von 10 Millionen Impfstoffdosen des deutschen Herstellers Biontech.2
Der gegenwärtige Engpass macht umso größere Sorgen, als von den Produktions- und Lieferverzögerungen vor allem die Automobilindustrie betroffen ist. Auf diesen Wachstumsmotor richten sich bekanntlich die großen Hoffnungen für einen Postcorona-Aufschwung. Seit Jahrzehnten hat sich die
Automobilbranche auf die Just-in-Time-Fertigung verlegt, die das Evangelium der Globalisierung darstellt: maximaler Spareffekt dank minimaler Bevorratung. Solange die Versorgungsketten intakt bleiben, können die Unternehmen auf Nachfrageschwankungen direkt reagieren, ohne Vorprodukte einlagern zu müssen.
Aufgrund der Pandemie jedoch mussten die Automobilhersteller ihre Produktion herunterfahren und ihre Halbleiterbestellungen reduzieren oder stornieren. Sie hatten allerdings nicht vorausgesehen, dass die weltweite Nachfrage nach Chips groß bleiben und der Autoabsatz sich relativ rasch wieder erholen würde. Angesichts von Abstands- und Hygieneregeln gönnten die Konsumenten sich lieber neue Fahrzeuge, statt sich in die öffentlichen Verkehrsmittel zu pferchen. In den neuesten Modellen stecken zwischen 1400 und 3500 Halbleiter, und die Elektronik macht mehr als 40 Prozent der Fertigungskosten aus.3
Zu normalen Zeiten hätte man die Chipproduktion einfach wieder hochfahren können. Das war jedoch unmöglich, weil zu den coronabedingten Betriebsschließungen noch mehrere außergewöhnliche Ereignisse hinzukamen: eine Kältewelle in Texas, wo die meisten US-Chiphersteller sitzen; eine durch die Dürre verursachte Wasserknappheit in Taiwan; ein Fabrikbrand in Japan; die Blockade des Suezkanals; dazu die Hamsterstrategie chinesischer Firmen, die sich vor Inkrafttreten der US-Sanktionen noch mit Halbleitern eingedeckt hatten.
Die Automobilindustrie wurde auf dem falschen Fuß erwischt. Selbst viele der größten Autokonzerne beziehen ihre Chips nicht direkt von den Herstellern, sondern über Zulieferunternehmen wie Bosch oder Continental. Und die Hersteller selbst zogen es angesichts der erhöhten Nachfrage nach Halbleitern vor, ihre Produktion auf die weitaus lukrativeren Chips für Computer und Smartphones zu konzentrieren.
Angesichts dessen denkt Tesla-Chef Elon Musk mittlerweile nicht nur darüber nach, Chips auf Vorrat und gegen Vorkasse zu beschaffen – also mit dem Just-in-Time-Prinzip zu brechen –, er zieht auch in Erwägung, eine eigene Chipproduktionsanlage zu kaufen. Und Volkswagen hat bereits angekündigt, in die Entwicklung eigener Halbleiterchips für autonome Autos zu investieren.4
Allerdings sind Entwickeln und Produzieren zweierlei. Deshalb sind die europäischen Regierungen in echter Sorge. „Wenn ein so großer Block wie die Europäische Union nicht in der Lage ist, Chips herzustellen, dann ist mir nicht wohl“, meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai und erklärte: „Wenn man eine Autobaunation, eine Mobilitätsnation sein will, und man kann das Herzstück nicht produzieren, finde ich das irgendwie nicht gut.“5
Merkels Sorgen haben eine höchst reale Basis: 1990 verfügte Europa über 44 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten für Halbleiter, heute sind es nur noch 10 Prozent. Doch um die Konsequenz aus solch überfälliger Selbstkritik zu ziehen, müsste man zumindest das Credo von Globalisierung, Handel, nationaler Sicherheit und Industriestrategie hinterfragen, das in Brüssel und Washington die Halbleiter-Politik über viele Jahrzehnte bestimmt hat.
Die Herstellung eines Mikrochips ist ein komplexer Vorgang in mehreren Phasen, der einige Monate dauern kann. Mitunter sind mehr als eintausend Arbeitsschritte nötig, um aus Sand – Silizium, der meistverwendete Halbleiter, wird aus Sand gewonnen – integrierte Schaltungen von atemberaubender Komplexität herzustellen.
Dabei ist das Grundprinzip simpel. Ein elektronischer Chip setzt sich aus Millionen oder gar Milliarden Transistoren zusammen (je höher die Zahl der Transistoren, desto größer die Leistung). Mit diesen Transistoren lassen sich elektrische Ströme steuern: offen oder geschlossen. Diese binäre, aus Nullen und Einsen zusammengesetzte Sprache, die elektrische Impulse in Information umwandelt, stellt die materielle Basis der modernen Informatik dar.6
Wie für alle der Konkurrenz ausgesetzten Branchen gilt auch für die Chipherstellung der Zwang, mit immer weniger Aufwand immer mehr erreichen zu müssen. Konkret: die Rechenleistung der Chips zu steigern und die anfallenden Kosten (für Herstellung und Energieverbrauch) zu senken. Genau dies besagt auch „Moores Gesetz“, das dem Intel-Mitbegründer Gordon Moore zugeschrieben wird: Wenn die technologische Entwicklung im jetzigen Tempo weitergeht, müsste sich die Zahl der Transistoren pro Chip jedes Jahr verdoppeln – und das bei sinkenden Kosten und höherer Leistung.
Paradoxerweise ist aus der Maxime „Mehr erreichen mit weniger Aufwand“ mittlerweile die Losung geworden „Mehr erreichen mit mehr Aufwand“.7 Die führenden Hersteller stoßen an die Grenzen des physikalisch Möglichen und müssen in immer aufwendigere Anlagen investieren. So plant etwa TSMC, zwischen 2021 und 2024 insgesamt 100 Milliarden Dollar in seine Produktionslinien zu stecken; Samsung will bis 2030 rund 151 Milliarden Dollar ausgeben. Die anderen Branchenriesen vermelden ähnliche Zuwächse, die auch das Personal betreffen: Um auf der von Moores Gesetz vorgegebenen Wachstumskurve zu bleiben, werden 18-mal mehr Forscher benötigt als zu Beginn der 1970er Jahre.
Mikrochips werden in der Regel nach „Technologieknoten“ unterschieden, je nachdem, wie fein sie strukturiert sind. Was bei anderen Produkten die „Generationen“ sind, ist bei Mikrochips die Entwicklung der Strukturgrößen. Grundsätzlich gilt: je feiner die Struktur, umso kleiner, schneller und effizienter die Transistoren.
In den neuesten Smartphones und Tablets sind Chips mit Strukturgrößen von 5 Nanometern (nm) verbaut. Transistoren mit einer Strukturgröße von 3 nm, deren industrielle Fertigung nicht vor 2022 anlaufen wird, sind 20 000-mal dünner als ein Menschenhaar. Derlei Spitzenleistungen sind aber nur für einige Bereiche wie künstliche Intelligenz und Infotainmentsysteme relevant. Dagegen kommt die Automobilindustrie mit Chips aus älteren Technologieknoten aus.
Hamsterstrategie chinesischer Firmen
Vor nicht allzu langer Zeit liefen Herstellung und Absatz von Mikroprozessoren unter dem Dach eines einzigen Unternehmens. Das heißt, Großkonzerne wie Intel, IBM und Texas Instruments haben die Chips entwickelt, produziert, getestet und in Produkte gepackt.
In diesem bewährten System zeigten sich die ersten Risse, als in den späten 1980er Jahren der aus China stammende und in den USA ausgebildete Ingenieur Morris Chang, der bei Texas Instruments mehrere Jahrzehnte lang Erfahrungen gesammelt hatte, nach Taiwan ging, um dort die Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) zu gründen.
Chang hatte begriffen, dass die Chipherstellung mit der Zeit so kapitalintensiv wurde, dass sich ein neues Modell anbot. Seine Innovation bestand darin, die Halbleiterproduktion als Dienstleistung anzubieten: TSMC stellte den großen Unternehmen seine supermodernen Produktionsstätten zur Verfügung, die damit auf eigene Fabriken verzichten und sich auf die Entwicklung konzentrieren konnten.
Mit diesem Geschäftsmodell schaffte Chang den Durchbruch in den 2010er Jahren, als Apple ihn mit der Komponentenfertigung für sein iPhone beauftragte. TSMC war ein autoritär geführtes Unternehmen mit ausgeprägter Geheimhaltungskultur, die ans Paranoide grenzte. Die Organisation ähnelte einem sowjetischen Kombinat zu Zeiten der Stachanow-Bewegung: Zum Beispiel arbeiteten die Forschungs- und Entwicklungsingenieure bisweilen im Dreischichtbetrieb.8
TSMC zählt mit einer Marktkapitalisierung von über 500 Milliarden Dollar – das 2,5-Fache des Börsenwerts von Intel – zu den elf wertvollsten Unternehmen der Welt. Gegenüber seinen Konkurrenten hat es einen technologischen Vorsprung von mehreren Jahren. Das neueste TSMC-Werk, das nächstes Jahr in Betrieb gehen wird, hat 20 Milliarden Dollar gekostet; es verfügt über einen „Reinraum“ – der für die Halbleiterherstellung entscheidend ist – in der Größe von 22 Fußballfeldern.
Der taiwanische Koloss hat wesentlich zu der Entwicklung beigetragen, die vom ursprünglichen Multitasking-Chip „von der Stange“ zu ungeheuer spezifizierten Komponenten geführt hat. Inzwischen haben Giganten wie Alphabet oder Amazon dermaßen spezielle Bedürfnisse und derart riesige Ressourcen, dass sie nach äußerst präzisen Vorgaben ihre eigenen Chips entwickeln.9 Und wahrscheinlich werden in wenigen Jahren auch die Automobilhersteller für ihre KI-Chips denselben Weg einschlagen.
Das Aufkommen des maßgeschneiderten Mikrochips geht mit einem Unternehmensmodell einher, bei dem das geistige Eigentum von entscheidender Bedeutung ist. Exemplarisch zeigt sich das bei dem britischen Unternehmen ARM, das der japanischen Softbank gehört, das aber der US-Riese Nvidia für die gigantische Summe von 40 Milliarden Dollar übernehmen will.
ARM verfügt über eine beeindruckende Anzahl an geistigen Eigentumsrechten: Das Unternehmen bietet abstrakte Lösungen an, die in der praktischen Anwendung das Design von neuen, leistungsstärkeren Mikrochips ermöglicht. Die Abnehmer dieser Lösungen zahlen für die Lizenz- und Nutzungsrechte und erhalten dafür Zugang zu einem Anleitungskatalog mit abstrakten Regeln, die für einen spezifischen Kontext gelten.
Seit den 1950er Jahren war die ganze Branche fest in der Hand von US-Unternehmen, deren Vormachtstellung durch üppige staatliche Forschungsmittel und den Segen des Pentagon zementiert wurde. Dieses Monopol begann in den 1970ern zu bröckeln, als sich japanische Unternehmen auf dem Gebiet der Sensoren und Speicherchips engagierten. Die betrieben eine aggressive Übernahmepolitik gegenüber US-Unternehmen bei gleichzeitiger Abschottung des japanischen Markts gegen ausländische Konkurrenten.
Das gefiel der Regierung von Ronald Reagan überhaupt nicht, die ihre wirksamsten handels- und geopolitischen Waffen einsetzte, um die japanische Konkurrenz niederzuhalten.10 Zudem förderte Washington die Synergie zwischen Industrie und universitärer Forschung. Dabei machte sich auch das Outsourcing der Produktion bezahlt, weil die US-Unternehmen sich ganz auf die Entwicklung konzentrierten, während die Japaner ihre teuren Produktionsanlagen nicht mehr auslasten konnten.
Seitdem hat die japanische Industrie ihre Hegemonie bei der Produktion von Mikroprozessoren eingebüßt. 1988 verkaufte sie noch 50 Prozent der weltweit produzierten Halbleiter; heute sind es nur noch 10 Prozent, während sie 68 Prozent ihres Bedarfs an Halbleitern importieren muss.
Aber war es für die USA vielleicht nur einen Pyrrhussieg? Schließlich ist ihr Anteil an der Weltproduktion von 1990 bis heute von 37 auf 12 Prozent geschrumpft. Wie ein geschlagener Sieger nehmen sich die US-Unternehmen nicht gerade aus: weder Nvidia noch Advanced Micro Devices (AMD), Broadcom, Qualcomm und nicht einmal der kriselnde Chipgigant Intel. Sie alle haben sich den Erfordernissen der Globalisierung voll angepasst, also die margenschwache Produktion nach Asien verlagert und margenstarke Sektoren wie Entwicklung und Design im Inland ausgebaut.
In Peking hat man den Aufstieg von TSMC genau verfolgt.11 In den 1990er Jahren war die Entwicklung der chinesischen Technologieunternehmen, von denen viele dem Militär unterstanden, durch das multinationale Wassenaar-Abkommen gehemmt, das den Export konventioneller Waffen und Güter sowie Technologien mit doppeltem Verwendungszweck (Dual Use) unterband. Dieses Protokoll von 1995, das bis heute von 41 Staaten unterzeichnet wurde, hat die chinesischen Halbleiter-Ambitionen erheblich beeinträchtigt.
Um den Boykott zu unterlaufen, musste Peking nationale Spitzenkonzerne präsentieren, die wie unabhängige und ehrliche Unternehmen und nicht wie Marionetten des Regimes wirkten. Die Wahl fiel auf die Semiconductor Manufacturing International Corporation (SMIC), die 2000 von Richard Chang gegründet wurde. Der Taiwan-Chinese hatte – wie der nicht mit ihm verwandte Morris Chang – mehrere Jahre bei Texas Instruments gearbeitet, bevor ihn sein Namensvetter bei TSMC anheuerte. Dort schied Richard Chang 1997 aus und stieg zum CEO beim taiwanesischen Konkurrenzunternehmen WSMC auf, das er aber 2000 verkaufen musste.
Verbittert kehrte Richard Chang Taiwan den Rücken und ging zurück nach China. Mit gut 100 Ingenieuren im Schlepptau gründete er in Schanghai die SMIC. Der strenggläubige Christ Chang war nicht gerade zum Partner der chinesischen KP geboren.12 Doch als westlich sozialisierter Taiwaner hatte er kein Problem, Geld von einer Bank wie Goldman Sachs zu besorgen, die zu einem der Hauptinvestoren von SMIC wurde. 2009 musste Chang allerdings nach jahrelangen Prozessen gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber TSMC, der ihm seinen Ausstieg ebenso übel nahm wie die Regierung in Taipeh, die SMIC verlassen.
Doch das Unternehmen machte ohne Chang weiter und verbuchte Investitionen diverser staatlicher Stellen und Fonds, zuletzt im Mai 2020 in Höhe von 2,2 Milliarden Dollar. Trotz dieser offiziellen Unterstützung rangiert SMIC nach wie vor hinter Samsung und TSMC und produzierte nur Chips bis zu einer Strukturgröße von 14 nm. Als SMIC wegen der US-Sanktionen keine EUV-Lithografiemaschinen des niederländischen Herstellers ASML kaufen konnte, verkündete das chinesische Vorzeigeunternehmen, man habe das Problem dank eigener Innovationen gelöst und könne jetzt Chips mit einer Strukturgröße von 7 nm herstellen.
Dieser Erfolg wurde möglich, weil die chinesische Regierung die einheimische Produktion mit Maßnahmen von chirurgischer Präzision fördert. Der Aufwand hat sich offenbar gelohnt: In China werden aktuell mehr Chipfabriken gebaut als in jedem anderen Land der Welt. Und es gibt mehr als 1000 offizielle Programme, aus denen die Halbleiterindustrie auf die eine oder andere Weise bezuschusst wird.
Allein im National Integrated Circuit Plan von 2014 waren 150 Milliarden US-Dollar bereitgestellt, um die nationale Industrie zu unterstützen, Übernahmen im Ausland zu fördern und die Rohstoffbeschaffung zu sichern; 2019 wurde diese Summe um weitere 28,9 Milliarden Dollar aufgestockt.
Chinas Präsident Xi Jinping versprach höchstpersönlich, in den kommenden sechs Jahren bis zu 1,4 Billionen US-Dollar in die strategischen Technologien zu investieren. Mit dem Vizeministerpräsidenten Liu He wurde ein Harvard-Absolvent zum Chip-Zaren berufen, der für die beschleunigte Entwicklung von Mikroprozessoren der neuesten Generation sorgen soll.
Die Regierung in Peking verfügt über viele Mittel, um seine Champions auf Trab zu bringen:13 Sie kann ausländische Unternehmen zwingen, mit chinesischen Firmen zu fusionieren und ihr geistiges Eigentum mit diesen zu teilen; sie kann aber auch die chinesischen Elektronikgiganten dazu bringen, mehr Chips bei den noch zu päppelnden Herstellern einzukaufen, indem sie ihnen mit dem Entzug staatlicher Gelder droht.
Wie ist diese Obsession zu erklären? Wenn China die Werkbank der Welt bleiben will, muss es den Appetit seiner gigantischen Industrie nach Chips stillen. Doch davon ist das Land noch weit entfernt: Allein 2020 wurden 350 Milliarden Dollar für den Import von Mikrochips ausgegeben – das übersteigt den Umfang der chinesischen Erdölimporte. Schon seit 2005 darf China sich offiziell „größter Halbleiterimporteur der Welt“ nennen – eine zwiespältige Auszeichnung, die deutlich macht, dass zwischen Chinas Produktion und seinem Bedarf eine riesige Lücke klafft.
Der Halbleitermarkt ist erbarmungslos. Auf jedes Unternehmen in der Größenordnung von SMIC kommen hunderte, wenn nicht tausende Unternehmen, die einfach von der Bildfläche verschwinden. Laut dem Parteiorgan Renmin Ribao wurden allein zwischen Januar und Oktober 2020 in China 58 000 Chipherstellerfirmen gegründet – das sind mehr als 200 pro Tag.
Den Versuch einer Übernahme der ursprünglich britischen ARM durch Nvidia beobachtet Peking mit Sorge: Wenn das mit geistigen Eigentumsrechten handelnde Unternehmen Teil eines US-Konzerns wird, kann Washington durch entsprechenden Druck verhindern, dass Lizenzen an chinesische Unternehmen verkauft werden. Peking könnte die Fusion blockieren, wie es dies bereits in der Vergangenheit praktiziert hat. Doch auf lange Sicht setzt China – wie Indien und Russland – auf ein lizenzfreies Konkurrenzprodukt für die Technologie namens RISC (Reduced Instruction Set Computer), die ARM entwickelt hat.
Neue Produktionslinien in den USA
Das Nonprofitunternehmen RISC-V International, das als kleines Open-Source-Softwareprojekt an der kalifornischen Berkeley-Universität entstanden ist, hat sich zu einem stattlichen Projekt entwickelt, das seit November 2019 in der Schweiz ansässig ist. Mit diesem Umzug wollte man mögliche Probleme hinsichtlich der restriktiven Handelsvorschriften der USA umgehen, denn unter dem Schirm von RISC-V International sind mehr als 20 chinesische Unternehmen untergekommen. Und mittlerweile sondieren auch Riesenkonzerne wie ZTE (Zhongxing Telecommunication Equipment), Huawei und Alibaba die Möglichkeiten, die ihnen RISC-V bieten würde.14
Die vielleicht amüsanteste Episode im Verlauf der Halbleiterkrise liefert die politische Klasse der USA, indem sie sich genötigt sieht, den seit Jahrzehnten sakrosankten Freihandelskonsens infrage zu stellen. So jammerte der Wirtschaftsberater von Präsident Joe Biden, Brian Deese, im Juni vor dem Atlantic Council, einem Thinktank transatlantischer Falken, über das „von der Politik provozierte künstliche Koma“ in der Halbleiterfrage. Und hielt mit Nachdruck fest, dass „staatliche Strategien zum Schutz und zur Förderung der einheimischen Industrie zur Realität des 21. Jahrhunderts gehören“. Sein Fazit: „Die Märkte werden nicht aus freien Stücken in Technologien und Infrastrukturen investieren, die dem ganzen Sektor zugutekommen.“15
In den USA folgt die Mikrochip-Politik einem doppelten Imperativ: Sie soll Arbeitsplätze schaffen und den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas behindern. Biden hat versprochen, Jobs in der Fertigungsindustrie zurückzuholen. Dabei spielt die Halbleiterbranche eine wichtige Rolle, denn hier werden Löhne gezahlt, die im Durchschnitt doppelt so hoch liegen wie in der verarbeitenden Industrie insgesamt.
Anfang Juni verabschiedete der Senat ein Innovations- und Wettbewerbsgesetz, mit dem 52 Milliarden Dollar für die Halbleiterindustrie mobilisiert werden. Mit einem Teil dieser Summe könnten die USA Samsung und TSMC animieren, moderne Chipfabriken in den USA zu bauen. Doch während in vielen Bereichen 52 Milliarden Dollar eine große Stange Geld sind, ist dieser Betrag vergleichsweise bescheiden angesichts der 450 Milliarden, die Südkorea in den kommenden zehn Jahren investieren will.
Zudem ist fragwürdig, ob eine Wiederansiedlung der Chipproduktion sich langfristig auszahlt: Auf zehn Jahre gerechnet sind die Betriebskosten einer neuen Produktionslinie in den USA rund 30 Prozent höher als in Taiwan oder Südkorea und 50 Prozent höher als in China.16
Gegenüber China setzt die Biden-Administration die kompromisslose Politik ihrer Vorgänger fort, wobei sie einige von Trumps Maßnahmen sogar verschärft hat. So unterzeichnete Biden Anfang Juni 2021 ein Dekret, das US-amerikanische Investitionen in 59 chinesische Unternehmen untersagt, wenn diese – wie Huawei und SMIC – im Verdacht stehen, mit der Armee verbandelt zu sein.17
Die europäischen Entscheidungsträger reagieren derweil ähnlich wie ihre Kollegen jenseits des Atlantiks: mit Panik. Im Mai erklärte der für Digitalpolitik zuständige EU-Kommissar Thierry Breton, die EU müsse ihre „allzu naive und offene“ Politik ändern und sich zum Ziel setzen, dass 2030 mindestens 20 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion in Europa erfolgt.
Dies ist eine höfliche Formulierung der Erkenntnis, dass es Europa im Gegensatz zu den USA nicht verstanden hat, die Globalisierung zu seinem Vorteil zu nutzen. Europas Marktanteil bei den Chipentwicklern ohne eigene Produktionsstätten liegt bei dürftigen 3 Prozent. Das einzige europäische Unternehmen unter den Top 50 der Welt ist die norwegische Nordic Semiconductor; ein zweites kann man nicht mehr anführen, denn die britische Dialog Semiconductor wurde kürzlich von der japanischen Renesas Electronics aufgekauft.
Naive Politik der EU
Die größten Unternehmen in Europa – NXP Semiconductors (Niederlande), Infineon Technologies und Bosch (Deutschland), STMicroelectronics (Frankreich und Italien) – haben einen Teil ihrer Fertigungsstätten behalten, aber auch sie sind auf TSMC und Konsorten angewiesen. Im Übrigen arbeiten sie vor allem mit Kunden aus der Industrie und der Automobilbranche zusammen, die sehr spezielle Bedürfnisse haben; entsprechend sind sie auf Sensoren, Leistungs- und Hochfrequenzhalbleiter spezialisiert. Für diese Art von Mikrochip gilt – im Unterschied zu höher entwickelten Logikchips – Moores Gesetz nicht, so dass der Wettlauf um die feinste Strukturgröße in diesem Bereich keine ganz so entscheidende Rolle spielt.
Die meisten europäischen Unternehmen behaupten sich gut, da die Nachfrage seitens des Automobilsektors weiter anhält. Die im Fahrzeugbau verwendeten Mikroprozessoren sind allerdings nicht das Neuste vom Neusten. Nachdem Europa seine Ambition aufgegeben hat, mit Apple und Samsung bei der Tablet- und Smartphoneproduktion zu konkurrieren, ist keineswegs gesichert, dass es eine stabile europäische Nachfrage nach Logikchips der neuesten Generation mit den feinsten Strukturgrößen gibt.
Wenn es aber in Europa keine Nachfrage gibt, stellt sich die Frage, warum die multinationalen Konzerne ihre Produktionslinien dort bauen sollten, wo sie höhere Löhne als in Asien zahlen müssten. Es ist schwer vorstellbar, dass US-Unternehmen alles daransetzen, ihre Komponenten in Dresden statt in Taipeh fertigen zu lassen.
Darum haben die Verlautbarungen von EU-Kommissar Breton, wie nicht anders zu erwarten, bei den europäischen Chipgiganten keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Sie haben keine Lust, mit Milliardeninvestitionen dafür zu sorgen, dass 2030 in Europa Chips mit Strukturgrößen von 5 nm oder sogar 2 nm hergestellt werden. Intel, das ebenso wie Samsung und TSMC um Unterstützung gebeten wurde, hat zwar seine Bereitschaft signalisiert, allerdings nur unter der Bedingung, dass jede Fabrik mit mindestens 4 Milliarden Euro subventioniert wird.
Breton bleibt dennoch überzeugt: Die EU hat die Mission, die Technologien zu entwickeln, die 2-nm-Chips möglich machen, auch wenn es hier bisher noch keinen Markt dafür gibt. Das grenzt an magisches Denken. Der Abhängigkeit Europas, wenn es um Halbleiter geht, liegt ein viel grundsätzlicheres Problem zugrunde, das sich mit Finanzspritzen allein nicht aus der Welt schaffen lässt.
Europa ist nämlich, nachdem es seine Verteidigung an das Pentagon und seine Industriestrategie an seine Autohersteller outgesourct hat, gar nicht mehr fähig, seine Elektronikproduktion strategisch zu planen.
Die Wette, dass der technologische Apparat, der die europäische Wirtschaft am Laufen hält, nicht den Gesetzen des Markts unterworfen ist und von den geopolitischen Herausforderungen abgekoppelt sei, hat sich als hochgradig dumm erwiesen. Denn schon lässt sich voraussagen, dass der „Airbus der Halbleitertechnologie“, von dem die europäischen Technokraten schwärmen, mit Sicherheit unter chinesischer Flagge abheben wird.
12 „Richard Chang: Taiwan’s silicon invasion“, Bloomberg Businessweek, 9. Dezember 2002.
14 Tobias Mann, „Is RISC-V China’s semiconductor salvation?“, SDX Central, 6. März 2021.
17 „Washington to bar US investors from 59 Chinese companies“, Financial Times, 4. Juni 2021.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Evgeny Morozov ist der Gründer der Plattform thesyllabus.com und Autor von: „Smarte neue Welt. Digitale Technik und die Freiheit des Menschen“, München (Blessing) 2013.