08.07.2021

Unter Druck

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Unter Druck

Medienschaffende in Algerien, Marokko und Tunesien

von Pierre Puchot

Lautstark für Pressefreiheit, Tunis, 15. April 2021 CHOKRI MAHJOUB/picture alliance/zumapress.com
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Die Stimme aus Algier klingt ruhig, aber entschlossen: Am anderen Ende der Leitung sitzt Khaled Drareni, Direktor der Nachrichtenwebsite Casbah Tribune. Wegen seiner Berichterstattung über den „Hirak“, die Bewegung, die seit dem 16. Februar 2019 in Algerien einen zivilen Staat ohne Einmischung des Militärs, eine unabhängige Justiz und freie Wahlen fordert, wurde er im September 2020 in zweiter Instanz zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Am 19. Februar 2021 kam er frei, Ende März kassierte der oberste Gerichtshof das Urteil wegen „Gefährdung der nationalen Einheit“ gegen ihn und ordnete einen neuen Prozess an. Mit seiner Inhaftierung ist der Journalist, der auch für den französischen Fernsehsender TV5 Monde arbeitet, in seiner Heimat und darüber hinaus zu einer Symbolfigur im Kampf um Freiheitsrechte geworden.

Algerien durchlebe bezüglich der Pressefreiheit eine der schlimmsten Perioden seiner Geschichte, sagt Drareni. „Der Niedergang der Presse hat 1999 mit Bouteflika begonnen. Aber heute ist die Situation noch schlimmer. Saïd Boudour, Sofia Marrakchi, Mus­ta­fa Bendjama – man kann gar nicht mehr zählen, wie viele Journalisten vom Regime verfolgt werden oder im Knast sitzen, nur weil sie ihre Arbeit gemacht haben.“

Im Vorfeld der vorgezogenen Parlamentswahlen vom 12. Juni – mit einer Wahlbeteiligung von nur 23 Prozent – nahm der Druck zu. Drareni und Ihsane El-Kadi, der die Website Emergent und den Sender Radio M leitet, wurden vom Inlandsgeheimdienst DGSI in eine Kaserne gebracht und über 30 Stunden verhört. Gegen El-Kadi, einen scharfen Kritiker von Präsident Abdelmadjid Tebboune, wird ermittelt, er darf seit dem 18. Mai auf richterliche Anordnung das Land nicht mehr verlassen.

„Das algerische Regime will weder Veränderungen noch eine freie Presse“, erklärt Lounes Guemache, Mitbegründer der Website Tout sur l’Algérie (TSA), die ebenfalls seit Beginn des Hirak über die Proteste berichtet. „Das Regime will die Medien auf Linie bringen. Da gibt es nur das ‚neue Algerien‘, in dem alles gut läuft. Aber das stimmt nicht: Der Algerische Dinar hat im vergangenen Jahr 17 Prozent verloren, wir stecken in einer schweren wirtschaftlichen und sozialen Krise. Die Arbeit der Presse war noch nie so schwierig, jedenfalls nicht seit dem Ende des Einparteiensystems 1989.“ Sogar im sogenannten schwarzen Jahrzehnt des Terrorismus (1992–2000) habe man debattieren und die Behörden kritisieren können, meint Guemache. „Das Regime will den Leuten Angst machen, um den Hirak zu beenden. Aber das wird nicht funktionieren.“

Mehrere Nachrichtenportale wie In­ter-­Lignes und die junge Website Twa­la wurden zeitweise gesperrt. TSA ist schon seit Juni 2019 für algerische Nutzerinnen und Nutzer nicht mehr erreichbar. Damals versuchte das Regime einen „Gegen-Hirak“ aufzubauen und die TSA-Website, die mit monatlich 25 Millionen Besuchern für sich in Anspruch nahm, das größte algerische Medium zu sein, wurde de facto verboten – ohne irgendeine Erklärung. Unklar ist, wer die Sperrung anordnete. Es wurde keine gerichtliche Entscheidung bekannt, die Regierung streitet jede Verantwortung ab, keine Behörde hat je die TSA-Betreiber vorgeladen.

„Man hat den Eindruck, dass da jemand aus dem Hintergrund agiert, der mit Supervollmachten ausgestattet ist und verbieten kann, was er will“, sagt Guemache. „Das Regime kehrt zurück zum alten Schema, als Entscheidungen über die Medien außerhalb jedes legalen Rahmens getroffen werden konnten.“ Die neue Verfassung, die im November 2020 per Referendum angenommen wurde, legt fest, dass keine Website ohne Richterspruch abgeschaltet werden darf. Dennoch bleiben TSA, Casbah Tribune und andere weiterhin unerreichbar.

Amnesty International rief im letzten Bericht zur Lage der Menschenrechte die algerische Regierung auf, die Drohungen und Einschüchterungen gegenüber Presseleuten einzustellen und die Sperrungen von Internetseiten aufzuheben. Das Team von TSA postet inzwischen jeden Abend in den sozialen Medien den Tipp, einen VPN-Client (Virtual Private Network) zu nutzen, um ihre Seite aufzurufen. Und sie berichtet weiter über aktuelle politische Ereignisse und die Freitagsdemonstrationen des Hirak.

Nach zwei Jahren Zensur ist es für TSA finanziell eng geworden. Von den 20 Journalistinnen und Journalisten, die Anfang 2019 Vollzeit für das Portal gearbeitet haben, sind noch sechs übrig. Die arabische Version der Seite wurde eingestellt. TSA lebt von finanziellen Rücklagen und den Zahlungen der wenigen Anzeigenkunden, die ihr treu geblieben sind. 90 Prozent der Werbeeinnahmen gingen verloren, die Besuche der Seite sind auf 4 bis 5 Mil­lio­nen im Monat zurückgegangen. „Heute informieren sich die Leute in ausländischen Medien über Alge­rien“, bedauert Guemache. „Oder über die sozialen Netzwerke – was schlimm ist, weil die durch Fake News vergiftet sind. Wir steuern auf eine Situation zu, in der Algerien – trotz hunderter Zeitungen und anderer Medien – keine glaubwürdige Presse mehr haben wird.“

Investigativjournalisten im Hungerstreik

Das algerische Regime ist nicht das einzige im Maghreb, das die Medien zur Zielscheibe erkoren hat. In Marokko wird seit Juni in einem Klima wiederkehrender sozialer Spannungen1 gegen den Investigativjournalisten und Mitgründer der Onlinezeitung Le Desk, Omar Radi, verhandelt. Jahrelang wurde er wegen seiner kritischen Veröffentlichungen drangsaliert, seit dem 29. Juli 2020 sitzt er in Untersuchungshaft. Ihm werden Gefährdung der inneren Sicherheit und Vergewaltigung vorgeworfen. Radi bestreitet die Vorwürfe, ebenso wie sein Kollege und Mitangeklagter Imad Stitou.

„Solche Beschuldigungen sollen die internationale Solidarität für anerkannte Journalisten untergraben“, meint Amna Guellali von Amnesty International. Auch Reporter ohne Grenzen fordert die Freilassung Radis. „Man muss über Omar Radi sprechen!“, sagt auch Khaled Drareni. „Wir müssen uns im ganzen Maghreb solidarisieren, um Freiheit für Presse und Medien zu erreichen.“

Viele sehen in der Anklage wegen Vergewaltigung einen Schachzug der Behörden gegen den unabhängigen Journalismus, der in den vergangenen 20 Jahren im Königreich Marokko nahezu ausgeschaltet wurde. Am 29. Dezember 2020 wurde auch Maâti Mon­jib, Gründer der marokkanischen Vereinigung für investigativen Journalismus (AMJI) und führende Persönlichkeit im Kampf für Menschenrechte, in Rabat verhaftet. Er wurde im Zusammenhang mit der Ausbildungsfinanzierung für investigative Journalisten wegen Geldwäsche und Betrugs angeklagt und im Januar zu einer einjährigen Haftstrafe verurteilt. Nach einem 19-tägigen Hungerstreik wurde der 60-Jährige am 23. März vorläufig entlassen.

„Mehr noch als die Androhung einer Gefängnisstrafe ist die Diffamierung zur Waffe der politischen Polizei geworden, um Oppositionelle zu diskreditieren und sie zu zwingen, ihren Ton zu ändern“, sagt Monjib. Die bekanntesten Presseleute würden verhaftet, um allen Übrigen Angst einzujagen. „Und es funktioniert! Wir sind in unserem eigenen Berufsstand isoliert.“ Insgesamt sei zu beobachten, so Monjib, dass die Sicherheitsdienste des Regimes auf der Flucht nach vorn seien und immer repressiver agierten.

Auch der Chefredakteur der Tageszeitung Akhbar Al-Youm und Kritiker des Regimes, Soulaiman Raissouni, ist wegen sexueller Übergriffe angeklagt worden. Er bestreitet die Taten und trat am 8. April in der Untersuchungshaft in Hungerstreik. Der Prozess gegen ihn, der am 29. Juni fortgesetzt wurde, findet wegen seines extrem geschwächten Zustands in seiner Abwesenheit statt.

In Tunesien ist die Situation seit der Revolution von 2011 anders. „Was wir zurzeit in Marokko sehen, erinnert uns an das, was wir in Tunesien unter dem Regime von Ben Ali erlebt haben“, sagt Riadh Ferjani, der in Tunis Mediensoziologie lehrt. „Die Taktik ist dieselbe, nur dass das Regime hier die Zeitungen benutzte, um Oppositionelle zu verunglimpfen. In Marokko werden sie jetzt im Fernsehen diffamiert.“

Seit der Revolution hat sich in Tunesien langsam eine pluralistische Medienlandschaft herausgebildet. Aber der investigative Journalismus steckt noch in den Kinderschuhen. Die Nachrichtenplattform Inkyfada, die zusammen mit Nawaat zu den Pionieren der unabhängigen Onlinemedien in Marokko gehört, ist eine der wenigen Medien, die investigativ arbeitet. 2020 veröffentlichte die Seite etwa 30 Recherchen.

Die Inhalte bei Inkyfada sind frei zugänglich, veröffentlicht wird auf Arabisch, Französisch und Englisch. Wirtschaftlich funktioniert die Plattform als Hybridmodell: Nur die Hälfte der 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind journalistisch tätig, die anderen sind in der Ausbildung und der Entwicklung von technologischen Lösungen für andere Medien beschäftigt. Als gemeinnütziger, nichtkommerzieller Verein investiert Inkyfada bei einem jährlichen Umsatz von umgerechnet 500 000 Euro alle Gewinne in die eigene Entwicklung. Die Benutzerzahlen der Seite sind bescheiden: 200 000 Aufrufe pro Monat.

Inkyfada sei ein Vorbild, bilde in einer unterentwickelten Medienlandschaft aber nur eine sehr kleine Insel, meint Malek Khadhraoui, der Leiter von Inkyfada. „In Tunesien fehlt journalistische Recherche. Der Informationsgehalt der Medien insgesamt ist kärglich: Von zehn privaten TV-Sendern hat nur einer eine tägliche Nachrichtensendung im Programm. Radio und Fernsehen setzen auf Unterhaltung, weil das mehr Werbeeinnahmen generiert.“ Zudem stelle sich ein ethisches Problem: „Die einflussreichsten Medien sind die, die unter Ben Ali gegründet wurden.“ Die wichtigsten TV-Stationen stehen der Politik und der Industrie nahe, wie der Sender Nessma2 von Nabil Karoui, Verlierer der Stichwahl um die Präsidentschaft 2019.

2013 wurde eine unabhängige Behörde für audiovisuelle Kommunika­tion (Haute autorité indépendante de la communication audiovisuelle, ­Haica) gegründet, um den Sektor zu regulieren. Allerdings ohne Erfolg: „In Tunesien ist es den unabhängigen Institutionen – wie auch die Haica – nicht gelungen, sich von der politischen Polarisierung unabhängig zu machen“, sagt Mediensoziologe Ferjani, der die Haica mit aufgebaut hat. „Zwei Jahre haben wir es geschafft, uns dem Einfluss der beiden damals wichtigsten Parteien, Nidaa Tounès und Ennahda, zu entziehen. Nachdem diese 2015 ein Bündnis eingegangen sind, ging das nicht mehr.“ Heute gleiche die Haica eher einem kleinen Verein ohne wirkliche Macht denn einer Regulierungsbehörde.

Khadhraoui von Inkyfada meint, die wachsende Bedeutung der sozialen Medien trage in diesem Kontext zur „Polarisierung und Hysterisierung“ einer ohnehin schon „ungesunden“ politischen Debatte bei. Anfang April war auf Face­book eine Aufnahme aufgetaucht, aus der hervorging, dass der Stabschef von Präsident Kais Saied auf die Entlassung von Premierminister Hichem Mechichi gedrängt hatte. Das macht deutlich, welch zentrale Rolle die sozialen Medien bei den aktuellen Rivalitäten zwischen Präsidentschaft und Exekutive spielen.3

Diese Manipulation der öffentlichen Meinung nutze „alle Mittel der modernen Kommunikation“, meint Kha­dhraoui. Bereits im Präsidentschaftswahlkampf von 2019 hatten Unternehmen eine Rolle gespielt, „die Fake Accounts erstellen und Kandidaten in nie dagewesener Weise attackieren“. Facebook hatte daraufhin mehrere Konten gesperrt, unter anderem von Personen aus dem Umfeld von Nabil Karoui.

Dieses politisch-mediale Chaos ist umso beunruhigender, als in Tunesien die bürgerlichen Freiheiten wieder eingeschränkt werden. „Das Strafgesetzbuch wird benutzt, um Aktivistinnen und Demonstranten zu verfolgen“, sagt Amna Guellali von Amnesty Interna­tio­nal. „Eine wirkliche Reform des Justizsystems hat nicht stattgefunden. Der Artikel 86 des Tele­kom­muni­ka­tions­ge­setzes mit Bezug auf die sozialen Netzwerke kann jederzeit dazu genutzt werden, Freiheiten einzuschränken.“ Dasselbe gelte für Gesetze gegen die Diffamierung von Amtsträgern, von der Straffreiheit der Sicherheitskräfte ganz zu schweigen. Viele in Tunesien erinnern sich lebhaft an die Verhaftung von mehreren hundert Demonstrierenden – größtenteils Minderjährige – bei den Feierlichkeiten anlässlich des 10. Jahrestags der Revolution im Januar.

Fehlende Reformen, mangelnde Regulierung und zu wenig investigativer Journalismus: Die tunesische Medienlandschaft ist durch Angriffe aus verschiedenen Richtungen verwundbar. Der jüngste Skandal war die Ernennung von Kamel Ben Younes zum Direktor der staatlichen Nachrichtenagentur Tunis Afrique Presse (TAP) Anfang April. Mitarbeitende der TAP warfen ihm vor, Teil des Propaganda- und Zensurapparats unter Ben Ali gewesen zu sein. Ben Younes zog sich schließlich zurück. Aber diese Episode zeigt, wie groß Unverständnis und Desinteresse der tunesische Exekutive für journalistische Ethik sind.

1 Siehe Pierre Puchot „Marokkanische Trugbilder“, LMd, Mai 2020.

2 Siehe Thameur Mekki, „Dossier: Nessma, retour sur cinq ans d’impunité d’un média hors-la-loi“, Nawaat, 26. April 2019.

3 „Tunisie: Nouvelle tension dans le bras de fer qui op­pose le président au premier ministre“, RFI, 23. Februar 2021.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Pierre Puchot ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Pierre Puchot