08.07.2021

Eine Partei, eine Nation

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Eine Partei, eine Nation

Vor hundert Jahren wurde die Kommunistische Partei Chinas gegründet – in einem Land, das mangels Industrialisierung keine Arbeiterklasse hatte. Dafür stand von Beginn an die Einheit der Nation auf dem Programm.

von Jean-Louis Rocca

Keiran Brennan Hinton, Plaid Shirt, 2020, Öl auf Leinwand, 35,6 x 28 cm
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Laut ihrer Verfassung ist die Volksrepublik China „ein sozialistischer Staat, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht“. Dass die Verfassung eines Landes nicht ganz mit seiner Rea­li­tät übereinstimmt, ist nicht überraschend. Doch in diesem Fall ist die Diskrepanz besonders groß.

Die chinesische Gesellschaft weist mittlerweile alle Merkmale eines kapitalistischen Systems auf: Arbeit ist eine Ware; Konsum dient als Wachstumsmotor und Garant für soziale Stabilität; Ungleichheiten verfestigen sich durch soziale Reproduktion, die auf Geld, Bildung und guten Verbindungen basiert. Und diejenigen, die eigentlich das Sagen haben sollten, die Bauern und Arbeiterinnen nämlich, gehören zur untersten Schicht.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist charakteristisch für die Geschichte der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh). Seit ihrer Gründung im Juli 1921 imaginiert die ­KPCh eine Gesellschaft, die es nicht gibt, um ihre Macht zu begründen und zu erhalten, aber auch um das Land umzugestalten. So gelang es ihr – getreu den revolutionären Idealen des frühen 20. Jahrhunderts –, das Land zu modernisieren, einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung aus der Armut zu holen und die Nation als solche zu stärken. Dafür genießt sie bis heute breite Unterstützung im Land. Die erfolgreiche Eindämmung der Coronapandemie hat zusätzlich zu dem Eindruck beigetragen, dass die KPCh trotz ihrer Mängel und Fehler unersetzlich ist.

Für China war das frühe 20. Jahrhundert eine Zeit des Scheiterns: Es scheiterten die Reformversuche der Qing-Dynastie, die 1912 ausgerufene Republik wurde ein Opfer der Warlords und die Wirtschaft litt an anhaltender Schwäche. Die meisten Nationalisten glaubten, dass nur ein starker, von einer einzigen Gruppe dominierter Staat das Land modernisieren und China dazu befähigen könne, sich gegen die imperialistischen Mächte zu behaupten.

Die Russische Revolution von 1917 hat diese Überzeugung verstärkt. So besaß die damals noch winzige KPCh gewisse Vorteile gegenüber ihrer Konkurrentin, der Kuomintang:1 Sie konnte sich auf eine Theorie (den Marxismus) berufen, auf ein Modell (den Bolschewismus) und auf einen Staat (die Sowjetunion). Doch als es ihr nötig erschien, zögerte sie nicht, mit diesem Staat, seinem Modell und der Theorie zu brechen.

Mit der Theorie ging man von Anfang an ohnehin eher kreativ um. Denn die KPCh war nicht die Partei der Arbeiterklasse, die in dem 1949 noch kaum industrialisierten Land etwa 0,5 Prozent der Bevölkerung ausmachte. 1930 stellte sie gerade einmal 8 Prozent der Parteimitglieder, davon waren nur 2 Prozent Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter. Fast alle Parteiführer waren wohlhabende Bauern, Angestellte oder Gebildete aus der Provinz.2 Auch wenn mitunter, vor allem zu Beginn der 1920er Jahre, gemeinsame Kämpfe ausgefochten wurden, hatte die Arbeiterklasse ihre eigenen Organisationen – Geheimbünde, regionale Solidaritätsnetzwerke, Gewerkschaften.3

Erst nach 1949 führte die Industrialisierung zu einem starken Anwachsen der Arbeiterschaft, die zum Aushängeschild des Regimes wurde. Dadurch wurden einige von ihnen bevorzugt behandelt. Neben einer sicheren Beschäftigung und sozialer Absicherung stellte man ihnen Wohnraum zur Verfügung und die Mitgliedschaft in einer Konsumgenossenschaft.

Diese „Angestellten und Arbeiter“ verteidigten ihre Klasseninteressen – manchmal auch gegen die Partei. 1957 opponierten zum Beispiel viele gegen die Einführung „wissenschaftlicher“ Arbeitsmethoden und die Herrschaft der kleinen Parteikader. Sie traten für Gleichberechtigung am Arbeitsplatz ein4 und verlangten während der Kulturrevolution (1966–1976) die Beibehaltung ihrer materiellen Privilegien und deren Ausweitung auf befristete Beschäftigte.

Außerdem, auch darin wich die Partei von der Theorie ab, betrachtete die KPCh die Schaffung einer neuen Gesellschaft nur als Mittel zur Wiederherstellung der Nation und Festigung ihrer Macht. Der Begriff der „Klasse“ spiegelte nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit wider, sondern diente der Mobilisierung: Für die nationale Einigung und die Übernahme der Macht mussten, zum Beispiel im Krieg gegen Japan (1937–1945), unterschiedliche Kräfte zusammengespannt werden. So galt die „nationale Bourgeoisie“ als unverfänglicher Verbündeter – im Gegensatz zur „Kompradorenbourgeoisie“, die sich angeblich an Ausländer verkauft hatte, und zur „Bürokratenbourgeoisie“, die es mit der Kuomintang hielt.

Analog dazu wurde die Bauernschaft aus weniger ideologischen denn praktischen Gründen in den Mittelpunkt gerückt. Nach 1927 waren die Parteiorganisationen in den Städten von der Kuomintang zerstört worden. Als Mao Tse-tung 1934 die Führung der ­KPCh übernahm, wurde das Proletariat durch die Bauernschaft als „revolutionäre Klasse“ ersetzt. Doch obwohl die ländlichen Regionen Chinas von starker sozialer Ungleichheit geprägt waren, waren die armen oder landlosen Bauern kaum revolutionär gestimmt.

China und der Mythos der ­klassenlosen Gesellschaft

Die Partei stützte sich aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen zudem auf die gebildetere und dynamischere Schicht der „mittelgroßen Bauern“. Durch die Agrarreform von 1950 konnte sie die Lage auf dem Land verbessern und die Unterstützung der dortigen Bevölkerung gewinnen – bis die um 1955 einsetzende Kollektivierung die Bauernschaft erneut ausbeutete. Mit ihrer Arbeit wurde nun die Industrialisierung finanziert.

Und es gab ein drittes Problem mit der Theorie: Sollte die Partei zum Nutzen der Nation auf politische oder auf wirtschaftliche Entwicklung setzen, auf Klassenkampf oder auf Wohlstand? Nachdem Mao 1956 erklärt hatte, seine Politik habe die Feinde des Sozialismus vernichtet, hielt er den Klassenkampf dennoch für weiterhin notwendig. Zuvor hatte es, wie in den meisten sozialistischen Ländern, eine Welle der Kritik am Regime gegeben, die sich auf autoritäre Auswüchse und Korruption sowie den niedrigen Lebensstandard bezog.

Um jeden Widerstand im Keim zu ersticken, bediente sich die ­KPCh nun einer Klassentheorie, die nichts mit dem Eigentum an Produktionsmitteln, sondern mit „Werten“ zu tun hatte. Selbst wenn die Bourgeoisie verschwunden sei, so die Erklärung, könne sich der „bürgerliche Geist“ noch in den Köpfen einnisten. Im Laufe der Kulturrevolution galten die Anhänger des „großen Steuermanns“ automatisch als echte Revolutionäre. Und wer die Lösung der Probleme des Landes in der wirtschaftlichen Entwicklung sah, wurde kaltgestellt.

Ende der 1970er Jahre und verstärkt ab den 1990er Jahren kam es erneut zu einem fundamentalen Wandel. Die meisten zuvor verdrängten Mitglieder der herrschenden Klasse kehrten an die Macht zurück und stellten nach und nach kapitalistische Mechanismen in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik. Für sie konnte nur ein neuer Gesellschaftsvertrag, der Wohlstand versprach, die Macht Chinas und den Fortbestand der Partei garantieren.

Gemäß der seit 2002 zum Parteistatut erhobenen Leitlinie des „Dreifachen Vertretens“, nach der die KPCh die Produktivkräfte, die Kultur Chinas und die Mehrheit des chinesischen Volkes vertritt, sollten fortan auch die Interessen der Unternehmerschaft gewahrt werden, die schließlich für Wachstum und Arbeitsplätze sorgt. Denn diese kann in einem nach wie vor sozialistischen China per definitionem nicht ausbeuterisch sein, da man sich in einer klassenlosen Gesellschaft befindet, in der ein jeder seinen Beitrag zum Wohl und zur Größe der Nation beizutragen hat. Gewiss, die Partei hat Feinde, aber diese sind in Wahrheit Feinde der Nation.5

Aus diesem Blickwinkel – wenn der Sozialismus von Anfang an nicht das Ziel war, sondern ein Mittel, um das Land zu einen und zu stärken – lässt sich in der Entwicklung der ­KPCh schwerlich Verrat entdecken. Die „so­zia­lis­ti­sche Elite“ hat sich als neue herrschende Klasse etabliert, bei der alle Fäden der Macht zusammenlaufen.

Allen Misserfolgen und Fehlern zum Trotz ist China nicht nur zu einer wirtschaftlichen und militärischen Weltmacht geworden, sondern hat auch einem großen Teil seiner Bevölkerung den Wunsch nach Konsum erfüllt. Heute unterscheiden sich Erwartungen und Lebensstil der durchschnittlichen Chinesin nicht fundamental von denen des durchschnittlichen Europäers. Zwar betont die KPCh, „chinesische Wer­te“ stünden im Gegensatz zu „westlichen Werten“, aber sie handelt nicht danach. Begriffe wie „harmonische Gesellschaft“ oder „der chinesische Traum“ verbinden lediglich Banalitäten wie Rechtsstaat, gute Regierungsführung (durch effiziente Bürokratie, Konfliktprävention und dergleichen) mit der uralten, durchaus westlichen Vorstellung von Gemeinwohl.

Der Xiismus stützt sich sowohl auf den Leninismus („die Führung der Partei über alle Institutionen gewährleisten“) als auch auf die Aufklärung (durch die Wissenschaft „eine Schicksalsgemeinschaft der Menschheit schaffen“), den Humanismus (besseres Leben für alle Menschen) oder auf Ideen, die heutzutage so ziemlich alle Nationen teilen (wie „Leben im Einklang mit der Natur“).6

Tatsächlich ist die KPCh zwei Prinzipien treu geblieben: dem Mythos einer klassenlosen Gesellschaft und der Weigerung, zwischen Nation und Partei zu trennen. Um die tatsächliche Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft geht es ihr sicher nicht, aber darum, der gesamten Bevölkerung wenigstens einen „kleinen Wohlstand“ zu ermöglichen. Es spielt keine Rolle, wie gigantisch die Einkommensunterschiede sind, solange die Armut beseitigt wird und alle ein gewisses Maß an Wohlstand erreichen können. Das rechtfertigt in den Augen eines Großteils der Bevölkerung – bis auf Weiteres jedenfalls –, dass alles andere dem Interesse der Partei und der Nation untergeordnet wird.

Mit Ausnahme der 1980er Jahre, als einige Parteimitglieder für einen „humanistischen Sozialismus“ oder eine „Volks“-Demokratie im Wortsinn eintraten, hat sich die KPCh nie mit echten Alternativen auseinandergesetzt. Bis heute sind selbst kritische Geister besorgt über die Instabilität, die Wahlen mit sich bringen könnten.7 Hinzu kommt der politische Konservatismus eines großen Teils der Bevölkerung, der sich auch in der Beständigkeit des politischen Personals zeigt. Die Männer an der Spitze des Landes kommen aus dem gleichen Milieu wie die Re­volu­tio­nä­re zu Beginn des Regimes. Es sind die Kinder und Verbündeten hochrangiger Parteikader, und sie gehören der gebildetsten Schicht an.8

Falls jedoch der Gesellschaftsvertrag nicht respektiert wird, falls die Bevölkerung nicht mehr das Gefühl hat, dass ihr eigenes Schicksal mit dem der Partei und der Nation verbunden bleibt, könnte das zweite Jahrhundert der KPCh schnell zu Ende gehen. Um die Stabilität in Innern aufrechtzuerhalten, ist es daher entscheidend, das Wachstum zu fördern, auch wenn sich der Staat dabei nicht länger auf ausländisches Kapital und billige Exporte verlassen kann. Die Partei setzt daher neuer­dings verstärkt auf Binnennachfrage, Investitionen im Ausland und technologische Innovationen. Hinzu kommt eine Art ökonomischer Nationalismus, der allerdings mit den Interessen anderer dominanter Wirtschaftsmächte kollidiert.

In ihrem hundertjährigen Bestehen hat die KP ein starkes China geformt. Aber um dessen Stabilität zu bewahren, bleibt ihr keine andere Wahl, als gegen die Interessen anderer vorzugehen, wie der Konflikt mit den USA zeigt. Das wiederum macht sie auch verwundbar.

1 Die 1912 gegründete nationalistische Partei Kuomintang bekämpfte zunächst die Kommunisten, verbündete sich dann mit ihnen gegen die japanischen Besatzer und stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder gegen sie. Nach ihrer Niederlage zog sie sich nach Taiwan zurück, wo sie bis März 2000 an der Macht blieb.

2 James Pinckney Harrison, „The Long March to Power: A History of the Chinese Communist Party, 1921–1972“, New York (Praeger) 1972.

3 Gail Hershatter, „The Workers of Tianjin, 1900–1949“, Stanford (Stanford University Press) 1993.

4 Mark W. Frazier, „The Making of the Chinese Indus­trial Workplace: State, Revolution, and Labor management“, Cambridge (Cambridge University Press) 2002.

5 Jean-Louis Rocca, „The Making of the Chinese Middle Class: Small Comfort and Great Expectations“, New York (Palgrave Macmillan) 2017.

6 John Garrick und Yan Chang Bennett, „La pensée de Xi Jinping“, Perspectives chinoises, Nr. 1–2, Hongkong 2018.

7 Émilie Frenkiel, „Parler politique en Chine. Les intellectuels chinois pour ou contre la démocratie“, Paris (Presses universitaires de France) 2014.

8 David S. G. Goodman, „Class in Contemporary China“, Cambridge (Polity Press) 2014.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Jean-Louis Rocca ist Professor an der Pariser Universität Sciences und Autor von „The Making of the Chinese Middle Class: Small Comfort and Great Expectations“, New York (Palgrave Macmillan) 2017.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Jean-Louis Rocca