08.07.2021

Endlich wieder links

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Endlich wieder links

Grüner Antikapitalismus von Belgrad bis Ljubljana

von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin

Protest gegen Gentrifizierung in Belgrad, April 2017 DARKO VOJINOVIC/picture alliance/AP Photo
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Die Idee des demokratischen Sozialismus war in Kroa­tien 30 Jahre lang tabu. „Wir haben es geschafft, ihn wieder in die politische Diskus­sion einzubringen“, sagt Katarina Peović. Bei den Präsidentschaftswahlen am 22. Dezember 2019 holte sie als Kandidatin der Arbeiterfront nur 1,12 Prozent der Stimmen. Gut sechs Monate später, bei den Parlamentswahlen vom 5. Juli 2020, kam ein linksökologisches Mehrparteienbündnis, dem auch die Arbeiterfront angehörte, überraschend auf 7 Prozent und zog mit 7 (von insgesamt 151) Abgeordneten ins Parlament ein.

Im Mai 2021 konnte das Bündnis diesen Erfolg noch weiter ausbauen und holte schon im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit im Zagreber Stadt­rat. Zwei Wochen später wurde ihr Kandidat Tomislav Tomašević mit triumphalen 65 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister der Hauptstadt gewählt. Auch in Pula, Split und anderen Städten erzielte die Allianz – aus der die Arbeiterfront später ausschied – beachtliche Ergebnisse.

Der linke Aufwärtstrend hatte in Slowenien begonnen, wo die Vereinigte Linke (Združena Levica) 2014 erstmals Abgeordnete ins Parlament entsenden konnte. Darunter Luka Mesec, der damals erst 27 Jahre alt war, weshalb er manchmal der „slowenische Tsipras“ genannt wird.

In Slowenien hat sich – anders als in Kroatien – immer eine lebendige linke Tradition erhalten, „mit Zeitungen wie Mladina, mit Diskussionsforen und mit Intellektuellen wie Slavoj Žižek“, erläutert Mesec, der heute die „ ‚Arbeiter- und Punk-Universität‘ leitet“, ein wichtiges Forum für die intellektuelle Wiederaufrüstung der Linken. „Meine Generation hat die globale Krise 2008 mit voller Wucht abgekriegt. Sie hat begriffen, dass es in Zukunft nicht genug Arbeit für alle geben wird und die Verhältnisse sich nicht von selbst zum Besseren wenden.“ Diese Generation weiß: „Es reicht nicht, die Gesellschaft zu verstehen, man muss sie verändern.“

Eine wichtige Rolle spielte für die neue Generation der slowenischen Linken der „Bürgeraufstand“ im Winter 2012. Der damalige konservative Ministerpräsident Janez Janša (der seit März 2020 erneut Regierungschef ist) betrieb eine rigide Sparpolitik, kürzte die Beamtengehälter und verfügte Einschnitte im Bildungs- und Gesundheitswesen. Wegen seiner Verstrickung in Korruptionsskandale trat er Ende Februar 2013 nach wochenlangen Protesten zurück.

In Kroatien war die Krise von 2008 ein Wendepunkt, erklärt der Schrift­steller Igor Štiks, der eine führende Rolle in der kroatischen Studentenrevolte gespielt hat. „Damals kamen andere Fragen auf die Tagesordnung. Die Studierenden protestierten gegen das liberale Hochschulmodell, das die Europäische Union durchsetzen wollte. Die zentrale Forderung lautete: kostenlose Bildung vom Kindergarten bis zur Promotion.“ Diese Bewegung wurde, ähnlich wie später in Slowenien, zur Schule des Protests für eine ganze Generation.

In Bosnien und Herzegowina begann der Aufbruch erst Anfang 2014, und zwar in der abgewirtschafteten Industriestadt Tuzla. Als die Beschäftigten der privatisierten Betriebe wegen ausstehender Löhne auf die Straße gingen, schloss sich die Bevölkerung an und belagerte den Sitz der Kantonsregierung. Das war der Beginn der sogenannten Plenum-Bewegung. Am Ende protestierten die Leute nicht nur gegen das neoliberale Modell, das in Bosnien und Herzegowina praktiziert wurde, sondern auch gegen die Spaltungs­erschei­nungen innerhalb der Föderation.

„Diese Bewegung war ein Experiment in direkter Demokratie“, meint Igor Štiks. Allerdings ist es keiner politischen Kraft in Bosnien und Herzegowina gelungen, sich diesen Erfolg zunutze zu machen. Die Bewegung scheiterte zumindest teilweise an den ethnopolitischen Bruchlinien, die von den regierenden Nationalisten weiter gepflegt und ausgenutzt werden.

In Serbien dagegen wurden die Entwicklungen in Kroatien und in Slowe­nien als inspirierendes Vorbild wahrgenommen. Im September 2020 gründete ehemalige Mitglieder der Sozialdemokratischen Union (SDU) eine Partei der radikalen Linken (Partija Radikalne Le­vi­ce, PRL). „Wir sind stolz darauf, dass die SDU sich in den 1990er Jahren in der Antikriegsbewegung engagiert und gegen das Regime von Slobodan Mi­lo­še­vić gekämpft hat“, erläutert Ivan Zla­tić vom PRL-Parteivorstand. Doch er verurteilt im Rückblick, dass seine alte Partei in den 2000er Jahren als Teil einer Regierungskoalition die Privatisierungen zu verantworten hat.

Ambivalent bewertet Zlatić das „Andere Serbien“ (Druga Srbija) – jene breite Bewegung, die sich mutig gegen Nationalismus und Krieg gewandt hatte. Die Bewegung habe es zwar geschafft, den Kontakt zwischen den Republiken der ehemaligen Föderation zu bewahren und zugleich die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten zu verteidigen. Aber gegenüber diesem „Internationalismus“ habe man die zweite wichtige „jugoslawische“ Errungenschaft, nämlich die sozialen Rechte vernachlässigt.

Zlatić kritisiert, dass jenes Andere Serbien, das nach Milošević’ Sturz am 5. Oktober 2000 an die Regierung kam, sich nicht damit begnügte, ein liberales Reformprogramm ins Werk zu setzen. „Es wollte mit den Privatisierungen die Arbeiterschaft treffen. Es wollte dieses Volk bestrafen, das sich nicht gegen Mi­lo­še­vić aufgelehnt hatte. Was übrigens nicht stimmt: Die Arbeiter haben mit ihren Streiks im Oktober 2000 zum Sturz des Regimes beigetragen.“

Die slowenische Linkspartei Levica ist Mitglied der Partei der Europäischen Linken (EL), der auch die Kommunistische Partei Frankreichs, die deutsche Linkspartei und die griechische Syriza/Progressives Bündnis angehören. „Wir operieren im europäischen Rahmen“, betont Mesec, „aber wir pflegen sehr enge Beziehungen zu den Genossen in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien, in Italien oder Österreich, mit denen wir Gemeinsamkeiten haben.“

Auch für die kroatische Arbeiterfront ist Jugoslawien nach wie vor ein Bezugspunkt, erklärt Katarina Peović: „Die Nationalisten lehnen alles Jugoslawische ab, aber in Kroatien weckt diese Epoche bei vielen wieder positive Assoziationen wie soziale Rechte oder Urlaub für alle.“ Die „Jugo-Nostalgie“ habe zwar eine folkloristische Dimension, aber die Debatte darüber, woran das gemeinsame Staatsgebilde zerbrach, sei noch nicht abgeschlossen. „Und wenn in der Gedankenwelt vieler Kroaten die Begriffe Sozialismus und Jugoslawien nach wie vor zusammenhängen, ist das für uns inzwischen kein Handicap mehr.“

Das Belgrader Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist bemüht, den Versuchen der kroatischen und serbischen Rechten, die Geschichte des Zweiten Weltkriegs umzuschreiben, mit Erinnerungsprojekten entgegenzuwirken. Zugleich fördert die Stiftung die kritische Auseinandersetzung mit dem jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus.

In Belgrad erinnert Ivan Zlatić daran, dass es in Serbien vielfältige Aktionen der Arbeiterschaft gab, „ ehe Alek­san­dar Vučić von 2012 bis 2014 seine autoritär-neoliberale Machtbasis festigen konnte“. Der Streik beim Arzneimittelhersteller Jugoremedya dauerte mehrere Monate: Im Dezember 2003 hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter auf die geplante Privatisierung mit der Besetzung der Pharmafabrik in Zrenjanin reagiert. 2007 sprachen die Gerichte der Belegschaft die Kontrolle über die Kapitalmehrheit zu. Laut Zlatić ist die Erfahrung der Selbstverwaltung weiterhin fest im Gedächtnis der ­jugoslawischen Arbeiterschaft verankert.

Die neu erwachte Linke steht heute am Kreuzungspunkt zweier Traditionslinien: hier die Kämpfe der Arbeiter, da die Erfahrungen der lokalen Protestbewegungen, denen es vor allem um die Verteidigung der Gemeingüter geht. So entstand etwa die Grün-links-Koalition, die das Rathaus der kroatischen Hauptstadt eroberte, aus den Erfahrungen der Plattform „Zagreb je NAŠ!“ (Zagreb ist UNSER!).

Dieser Triumph ist auch ein ermutigendes Signal für das Bündnis „Ne da(vi)mo Beograd“ (Wir geben Belgrad nicht her). Die Bewegung spielt eine zentrale Rolle bei den Protestaktionen gegen den Ausverkauf der serbischen Hauptstadt an die Immobilienlobby, die der regierenden Serbischen Fortschrittspartei (SNS) nahesteht.

Das Belgrader Stadtzentrum wurde gesäubert und plattgemacht, um Platz für das Projekt „Belgrade Waterfront“ zu schaffen, das am Donauufer entstehen soll. Angeblich finanziert mit Dollars aus den Emiraten, aber wahrscheinlich soll hier vor allem Schwarzgeld gewaschen werden. Bereits im Frühjahr 2016 zogen Tausende hinter einer riesigen gelben Plastikente durch die Straßen – dem Maskottchen der Bewegung. Inzwischen richten sich die Proteste auch gegen andere Immobilienprojekte in der Hauptstadt, etwa den Abriss der ehemaligen Avala-Filmstudios und die Bebauung der Wälder von Košutnjak.

Zum Kampf gegen die Gentrifizierung gehört auch der Widerstand gegen Zwangsräumungen, die durch die Gesetzeslage in Serbien extrem einfach geworden sind; etwa wegen rückständiger Mietzahlungen oder aufgrund von Restitutionen an die Hauseigentümer aus der Zeit vor 1945. „Einige Rechtsextreme haben versucht, sich unter die Protestierenden zu mischen, aber damit hatten sie keinen Erfolg“, erzählt die Aktivistin Isidora Petrović von der Organisation Krov nad glavom (Dach über dem Kopf). „Um sich Gerichtsvollziehern und der Polizei entgegenzustellen, die immer mit den Mächtigen im Bunde sind, braucht es Entschlossenheit.“

Allerdings sieht Isidora Petrović die „demokratischen“ Protestkundgebungen des Winters 2018/19 kritisch. Da habe die liberale Opposition versucht, nach mehreren Wahlschlappen wieder mal auf sich aufmerksam zu machen. Dennoch hält sie eine soziale Explo­sion für möglich, die auch die Regierung von Aleksandar Vučić in Verlegenheit bringen könnte. Das habe sich zum Beispiel bei den Demonstrationen vom Juli 2020 gezeigt, als die Studierenden dagegen protestieren, dass ihre Wohnheime unter Berufung auf Maßnahmen zum Gesundheitsschutz geschlossen werden sollten.

Wenn in den Balkanländern Gemeingüter verteidigt werden, geschieht dies vor allem in Form von Protestkundgebungen, wie etwa die großen Demonstrationen in Belgrad Anfang April, aber auch durch lokale Aktionen. Zahlreiche Proteste richten sich gegen die vielen in der Region geplanten Kleinwasserkraftwerke2 , die mit Unterstützung der Europäischen Entwicklungsbank (EBWE) vorangetrieben werden – zumeist von Leuten mit engen Kontakten zur Vučić-Regierung.

„Wir haben durch den Transformationsprozess alles verloren: unsere Arbeitsplätze, unsere Betriebe, unsere Zukunft. Wasser, Luft und die Natur sind alles, was wir noch haben, und auch das will man uns noch wegnehmen“, empört sich Aleksandar Vemić, der in Montenegro für den Schutz des Flusses Bukovica kämpft.

Diese bislang einmalige Mobilisierung hat im August 2020 dazu beigetragen, dass Montenegro nach 30 Jahren erstmals eine Regierung erhielt, die nicht von Langzeitherrscher Milo Dju­ka­no­vić kontrolliert wird. Zuvor war es gelungen, die in der montenegrinischen Gesellschaft so tief verwurzelten Identitätsunterschiede zu überwinden.1 Die Vereinte Reformaktion (Uje­dinjena reformska akcija, URA), eine der Stützen der neuen Regierung, gehört der Europäischen Grünen Partei an und versteht sich als bürgerschaftlich-ökologische Bewegung.

Den Kampf der Arbeiterschaft mit dem Kampf für Ökologie, Frauenrechte und die Rechte sexueller Minderheiten zu verknüpfen, bleibt ein schwieriges Unterfangen. Für Luka Mesec ist eines jedoch sicher: Nachdem Janez Janša, der sich mit seinem ultrarechten Autoritarismus als slowenischer Viktor Or­bán gibt, im März 2020 wieder an die Macht kam, ist es die antikapitalistische Linke, die wieder einmal den Kampf für die Verteidigung der Grundrechte und -freiheiten führen muss.

1 Siehe Philippe Descamps und Ana Otasević, „Neustart in Montenegro“, LMd, Februar 2021.

2 Siehe Paul Hockenos, „Die letzten wilden Flüsse Europas“, LMd, Juli 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin arbeiten als Journalisten für den Courrier des Balkans.

Le Monde diplomatique vom 08.07.2021, von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin