09.09.2021

Vielsagende Enthaltung

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Vielsagende Enthaltung

Warum in Frankreich immer weniger ­Menschen wählen gehen

von Alain Garrigou

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Den typischen Nichtwähler hat man in Frankreich lange als „Angler“ verspottet, der auf dem Land lieber seinem beschaulichen Hobby nachgeht als seiner vornehmen Pflicht zu wählen. Dabei wissen die wenigsten, dass dieses Klischee auf einen notorischen Wahlverächter zurückgeht – den Schriftsteller Octave Mirbeau, der seiner Leserschaft ans Herz legte, den Wahltag lieber zum Angeln zu nutzen, als den Stimmzettel auszufüllen.1

Mittlerweile übersteigt die Zahl der Nichtwählerinnen und Nichtwähler in Frankreich die der Angler und auch die der Jäger. Sie ist sogar höher als die der gesamten Landbevölkerung. Bei den Regionalwahlen im Juni 2021 waren die Nichtwähler so zahlreich, dass sie plötzlich im Rampenlicht standen. Die Beteiligung beim ersten Wahlgang betrug nur 33,27 Prozent. Zwei Drittel der Wahlberechtigten blieben den Urnen fern, womit der lange Abwärtstrend in einen neuen Negativrekord mündete.

Ist dies etwa der Beginn einer neuen Ära, in der die Wahlsieger kaum noch demokratisch legitimiert sein werden? Aber wie hoch muss eigentlich die Wahlbeteiligung sein, um diesem Anspruch gerecht zu werden? In den Analysen unmittelbar nach der Wahl wird dieser Gradmesser demokratischer Bürgerbeteiligung stets als Erstes unter die Lupe genommen.

Und wie zu erwarten, überbieten sich die Vormittagskommentatoren mit Unmutsäußerungen: „Es scheint fast so, dass sich Frankreich daran gewöhnt, an der eigenen Demokratie zu kranken – mit Bürgern, die das wichtigste demokratische Merkmal, den Stimmzettel, verschmähen“, stichelte etwa im Juni der Kommentator von Le Monde, Patrick Roger.2

Genauso schnell wie die Empörung hochkocht, verpufft sie jedoch auch wieder, als wenn Wahlabstinenz nur eine Ausnahmeerscheinung ist und man nun seine ganze Aufmerksamkeit dem „nützlichen“ Teil des Wahlvorgangs widmen kann: den abgegebenen Stimmen. Aber besteht eine Wahl nicht gerade genau darin, Vertreterinnen und Vertreter zu wählen? Mit anderen Worten: Ist es wirklich so normal, „seine Stimme“ einer oder einem Unbekannten zu übertragen, um sie oder ihn Dinge entscheiden zu lassen, von denen man heute noch gar nichts weiß?

Nach jeder Abstimmung wird genau analysiert, wie verschiedene Teile der Bevölkerung gewählt oder auch nicht gewählt haben. Die Frankreichkarten der Analysten, die nach den Regionalwahlen von 2021 über die Bildschirme flimmerten, kündeten somit nicht einfach nur vom allgemeinen Desinteresse der Stimmberechtigten. Sie zeigten auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Départements und Bevölkerungsgruppen.

12 Prozent Wahlbeteiligung in ­Clichy-sous-Bois

In den Départements mit einem hohen Anteil an Geringverdienern lag der Anteil der Nichtwähler am höchsten. Er betrug 75,78 Prozent in Seine-Saint-Denis, 73,28 Prozent in Moselle und 72,79 Prozent in Val-d’Oise. Betrachtet man die Kommunen, also die kleinste administrative Einheit, sticht die soziale Dimension der Wahlenthaltung noch deutlicher ins Auge. In zahlreichen Gemeinden blieben mehr als vier Fünftel der Wahlberechtigten den Urnen fern – in Vaulx-en-Velin etwa waren es 88,3, in Clichy-sous-Bois 88 Prozent und 84,4 Prozent in Givors.

In ländlich geprägten Départements wie Lozère (51,57 Prozent), Aveyron (56,17 Prozent) und Gers (55,32 Pro­zent) war die Wahlenthaltung hingegen weniger stark ausgeprägt. Und nur in Korsika wurden mehr Wähler registriert als Nichtwähler (42,32 Prozent). Damit sind die vorwiegend auf dem Land angesiedelten Angler endgültig vom Verdacht befreit, für die niedrige Wahlbeteiligung verantwortlich zu sein.

Dass die Wahlenthaltung unter den Frauen mit 72 Prozent höher ausgefallen ist als unter den Männern (59 Prozent), hat offenbar auch etwas mit den ungleichen Chancen der Geschlechter in der Politik zu tun. Und diese Erklärung trifft auch für den überdurchschnittlich hohen Anteil der Nichtwähler in der Arbeiterschicht zu.

Inwieweit die verschiedenen Altersgruppen den Urnen ferngeblieben sind, wurde durch weniger genaue Umfragen ermittelt. Trotzdem lässt sich sagen, dass die altbekannte „Glockenkurve“ – geringe Wahlbeteiligung bei Jungwählerinnen und Jungwählern, hohe Beteiligung der Erwerbstätigen und ein sinkendes Interesse unter den Rentnerinnen und Rentnern – offenbar einem anderen Muster weicht.

Während nur wenige Rentnerinnen und Rentner der Wahl fernbleiben, ist der Anteil der jungen Nichtwählerinnen und Nichtwähler sehr hoch, was zukünftig auf einen weiteren Rückgang der Wahlbeteiligung hindeuten könnte. Hinzu kommt, dass immer mehr Jüngere die Stimmabgabe einfach nicht mehr als geeignetes Ausdrucksmittel ihres politischen Willens betrachten.

Diese Korrelationen liefern aber noch keine Erklärung. Glaubt man den Aussagen einzelner Wählerinnen und Befragten, hat die hohe Wahlenthaltung mit einem allgemeinen Misstrauen zu tun, dass man gegenüber Politikerinnen und Politikern, aber auch Institutionen hegt. Diese Interpretation wird auch von den Umfragen gestützt, denn die Meinungsforscher haben nur zu Menschen Zugang, die aufgrund einer vergleichsweise starken Politisierung dazu tendieren, sich auf solche Gründe zu berufen.

In den heute vorherrschenden Online-Umfragen erklären umso mehr Befragte, sicher zur Wahl gehen zu wollen, je „spontaner“ die Stichprobe der Teilnehmer, das sogenannte Access Panel, gebildet wird. Mit anderen Worten: Das Access Panel setzt sich aus Freiwilligen zusammen, die sich aus politischem Interesse zur Teilnahme bereit erklären – oder weil sie die ihnen versprochene Belohnung bekommen ­wollen.

Dass die Befragten gegenüber einem Meinungsforschungsinstitut, das an einer hohen Wahlbeteiligung interessiert ist und ihnen eine Belohnung für die Teilnahme an der Umfrage anbietet, erklären könnten, sie gingen nicht zur Wahl, ist eine geradezu absurde Annahme.

All dies führt auch dazu, dass die Medien die Stimmenthaltung der Nichtwähler als aktive Entscheidung präsentieren. Dabei ist es häufig gar keine bewusste Handlung, sondern vielmehr Ausdruck bloßer Inaktivität. Die Betroffenen denken oft nicht einmal an die Wahl. In der Berichterstattung heißt es dann zum Beispiel, die Nichtwähler hätten „sich entschieden, nicht zur Wahl zu gehen, weil in den Medien zu wenig vermittelt wurde, was auf dem Spiel steht“, wie der Politologe Arnaud Mercier am 22. Juni 2021 auf France Télévisions mutmaßte.

Blickt man auf die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts zurück, erscheint die hohe Wahlbeteiligung paradox. Denn die Wähler, anfangs ausschließlich männlich, waren sich natürlich bewusst, dass zwischen den meisten von ihnen und den Abgeordneten eine große soziale und kulturelle Kluft bestand.

Letztere setzten sich in der Regel aus Grundbesitzern und Freiberuflern wie Anwälten und Ärzten zusammen. Dank der Einführung der allgemeinen Schulpflicht und im Zuge der Angleichung der Lebensverhältnisse ist diese Kluft geschrumpft. Auch der oft ehrerbietige Ton, den etwa die französischen Bauern im 19. Jahrhundert gegenüber ihren Abgeordneten anschlugen, ist längst nicht mehr üblich.

Die Vorstellung, dass an der Urne allein darüber entschieden wird, ob die Parteiprogramme oder politischen Angebote der Kandidatinnen und Kandidaten den Wählererwartungen entsprechen, verkennt die Tatsache, dass die Wahlmotivation zum großen Teil in horizontalen Beziehungen entsteht – in Familienbanden, Freundschaften und Alltagsgesprächen.

Die geografische und soziale Mobilität hat diese lokal verankerten Bindungen teilweise geschwächt und gleichzeitig die Rolle der Medien aufgewertet. Wer sich heute zur Wahl stellt, kennt die eigenen Wählerinnen und Wähler vor allem aus den Umfragen – und weniger vom persönlichen Gespräch an der Haustür, auf dem Markt oder im Café. Da verwundert es nicht, dass der Anteil der Nichtwählerinnen und Nichtwähler in den am stärksten urbanisierten Départements an der Peripherie der Großstädte am höchsten ist.

Die Kandidatinnen und Kandidaten sind dort kaum bekannt oder werden einfach ignoriert, was auch mit den zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun hat; entweder kennt man sich gar nicht mehr oder kommuniziert nur sporadisch und virtuell. Der Kontakt zwischen den Menschen, die im selben Wahlbezirk registriert sind, nimmt ab. Das Gespräch unter Bekannten, das lange eine entscheidende Rolle für die Herausbildung einer eigenen Meinung und die Wahlmotivation gespielt hat, ist seltener geworden.

Es mangelt an physischer Nähe und – bei den Kommunalwahlen – an einem gemeinsamen Thema. Auf der Beziehungsebene gelingt es den Kandidatinnen und Kandidaten anscheinend kaum noch, das Wahlvolk mit Plakaten, Programmen oder Talkshow-Auftritten zu motivieren.

Das Gleichgewicht der repräsentativen Demokratie beruhte lange Zeit auf einem für beide Seiten gewinnbringenden Austausch: Die eine Seite erhielt Macht und Mandate, die andere gewann an staatsbürgerlicher Würde. Doch für Wählerinnen und Wähler mit politischem Anspruch haben Wahlen stets etwas Unbefriedigendes: Einerseits haben sie nur sporadisch die Gelegenheit, einen Vertreter oder eine Vertreterin zu bestimmen, die sie dann nicht mehr kontrollieren können. Und andererseits sollen sie sich Mandatsträgern anvertrauen, die in ihren Augen nicht besser qualifiziert sind als sie selbst.

Kein Wunder, dass es viele vernünftiger finden, sich für direktere und regelmäßigere Formen der politischen Willensäußerung einzusetzen – oder sich dem zwar unaufwendigen, aber als nutzlos wahrgenommenen Wahlprozess einfach zu entziehen. Die alte Hypothese, wonach die Wähler ihre Gunst immer sparsamer verteilen werden, scheint sich von Wahl zu Wahl mehr zu bewahrheiten.3

1 Octave Mirbeau, „La Grève des électeurs“, Paris (L’Herne, coll. Carnets) Paris 2014 (1. Ausgabe 1888).

2 Patrick Roger, „Abstention aux élections régionales: deux Français sur trois sont restés loin des urnes“, Le Monde, 21. Juni 2021.

3 Siehe „Le Vote et la Vertu. Comment les Français sont devenus électeurs“, Paris (Presses de Sciences Po) 1992.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Alain Garrigou ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Paris-Nanterre.

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Alain Garrigou