09.09.2021

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Genomik und die Medizin der Zukunft

von Raúl Guillén

Henrik Eiben, Being There, 2015, Stahl, Lack, Sprühfarbe, Rost, 205 x 165 x 18 cm
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Kasten: Im Innern des Zellkerns

Jean-Yves Blay, Direktor des Krebszentrums Léon-Bérard in Lyon, ist optimistisch: „In 50 Jahren wird man das Genom einer Krebszelle oder eines Patienten so einfach erhalten wie einen Personalausweis. Das wird vielleicht 100 Euro kosten.“ Die Begeisterung des renommierten Onkologen wirkt ansteckend, wenn er über die Möglichkeiten der Genomsequenzierung spricht, die mit den neuesten Geräten allgemein verfügbar wird.

Zwei dieser leistungsfähigen Maschinen stehen nicht weit von seinem Büro entfernt in einem weiß gekachelten Raum im Erdgeschoss der Klinik Édouard Herriot. Von außen kann man nicht erkennen, was sich in den schlichten großen Kästen mit den abgerundeten Ecken abspielt, man sieht nur einen Touchscreen und hört ein kräftiges Brummen. Die beiden NovaSeq 6000 der US-Firma Illumina sind derzeit die besten Sequenzierer, die es auf dem Markt gibt, und die teuersten: Sie kosten pro Stück 1 Million Euro. Mit solchen Maschinen kann man immer schneller und günstiger das komplette Erbgut eines Menschen entschlüsseln.

Die Maschinen gehören dem Konsortium Auragen, das unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Blay die vier Krankenhäuser der Region Auvergne-Rhône-Alpes sowie mehrere Krebszentren und Universitätseinrichtungen betreibt. Ein zweites Konsor­tium namens SeqOIA ist bereits im Pariser Großraum tätig. Insgesamt sollen mit der französischen Genom-Initiative (Plan France Médecine génomique 2025, FMG 25) 12 Sequenzierungsplattformen geschaffen werden, um DNA-Analysen zu vereinfachen. Mit dieser Infrastruktur könnten in Frankreich jährlich 220 000 menschliche Genome sequenziert werden.

„Um die Behandlungen von morgen an das individuelle menschliche Kapital anpassen zu können, müssen wir heute das Genom jedes Einzelnen kennen“, verkündete im Dezember 2016 die Sozial- und Gesundheitsministerin Marisol Touraine zum Start der französischen Genom-Initiative. Angesichts der starken internationalen Konkurrenz dürfe Frankreich nicht „die singuläre Chance verpassen, einen nationalen Industriezweig von hoher strategischer, medizinischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Bedeutung zu entwickeln“1 , heißt es außerdem in dem FMG-25-Plan, den die Nationale Allianz für Lebens- und Gesundheitswissenschaften (Alliance nationale pour les sciences de la vie et la santé, Aviesan) aufgesetzt hat. Nicht von ungefähr definiert sich die 2009 gegründete Aviesan, in der Frankreichs führende biomedizinische Forschungsinstitute versammelt sind, auch als „vorrangiger Ansprechpartner der Gesundheitsindustrie“.2

Als US-Präsident Bill Clinton am 26. Juni 2000 im Weißen Haus erstmals einen Meilenstein der Genforschung verkündete – das internationale Forscherteam des Human Genome Project (HGP) hatte gerade 85 Prozent des menschlichen Genoms sequenziert –, war die Zuversicht noch groß: „Die Genomforschung wird die Diagnostik, Prävention und Behandlung der meisten, wenn nicht sogar aller Humankrankheiten revolutionieren. Tatsächlich kann man sich heute schon

vorstellen, dass für unsere Enkel das Wort ‚Krebs‘ nur noch der Name eines Sternbilds sein wird.“3

Zwanzig Jahre später ist die Genomanalyse immer noch weit vom Versprechen einer Welt ohne Krankheiten entfernt. Die großen Hoffnungen, die einst in sie gesetzt wurden, kreisen stattdessen um ein Versorgungskonzept, das gewöhnlich als „personalisierte Medizin“ oder „Medizin 4P“ (personalisiert, präventiv, prospektiv und partizipativ) bezeichnet wird – als hätte sich die Medizin nicht schon immer um den einzelnen Menschen gekümmert. Tatsächlich steht dieser fragwürdige Begriff für eine Neuausrichtung des Gesundheitswesens in den meisten Industriestaaten. In Frankreich bildet der FMG-25-Plan die Speerspitze dieses neuen gesundheitspolitischen Paradigmas, das die Kosten reduzieren und gleichzeitig Diagnostik und Behandlung verbessern soll.

Damien Sanlaville, ärztlicher Direktor bei Auragen, zeigt uns das Sequenzierungszentrum im Édouard-Herriot-Krankenhaus. In den etwa 100 Qua­drat­meter großen Räumen, die für 10 Millionen Euro renoviert und neu eingerichtet wurden, erledigen brandneue Maschinen die biochemischen Operationen der Sequenzierung: Extraktion der DNA aus dem Zellkern, Dosierung, Vorbereitung der Proben und deren Einspeisung in den Sequenzierer. Die daraus gewonnenen Rohdaten werden anschließend im Universitätsklinikum Grenoble-Alpes aufbereitet.

„Wir wissen natürlich, dass wir wichtige Daten zusammentragen, um viele Dinge besser zu verstehen“, erklärt Sanlaville, der mit seinen Erwartungen nicht hinter dem Berg hält: „Dieses Programm ist ein Baustein der medizinischen Versorgung.“

Die größte Herausforderung bestehe darin, das Tempo zu halten, erklärt uns in der Klinik Grenoble-Alpes der zweite wissenschaftliche Leiter von Auragen, Julien Thévenon. „Es gibt die Apparate zur Herstellung der Sequenzen, die Sequenzierer, und die Analyse-Apparate, die Computer. Die beiden Sequenzierer in Lyon können innerhalb von 40 Stunden zweimal 24 Genome auslesen, das ergibt eine Datenmenge von 5 Terabyte (TB). Unser Ziel für den Routinebetrieb von Auragen liegt bei 50 Genomen pro Tag, das wären über 18 000 Genome pro Jahr. Wir müssen diesen Durchsatz schaffen und halten. Das bedeutet, dass wir pro Jahr zwischen 4 und 6 Petabyte Daten produzieren und speichern wollen.“

Ein Petabyte (1000 Terabyte) entspricht etwa 3,4 Jahren Videoaufzeichnungen in hoher Auflösung rund um die Uhr. Wenn alle 12 Sequenzierungsplattformen der französischen Genom-Initiative aufgebaut sind, werden sie pro Jahr 220 000 Genome analysieren und etwa 60 Petabytes an Gen­daten produzieren. Dafür braucht man riesige Speicherkapazitäten. Die Ausschreibung für die Rechner- und Archiv-Infrastruktur von Auragen hat die Firma Atos gewonnen, deren CEO von 2008 bis 2019 Thierry Breton war, Ex-Wirtschaftsminister und seit 2019 EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt.

Einen Beitrag zum Umweltschutz darf man sich von dieser „Medizin der Zukunft“ also nicht erhoffen. Im Gegenteil, der weltweite Energieverbrauch4 wird mit ihr eher noch zunehmen, genauso wie der Abbau seltener Erden oder die Überlastung der Funkfrequenzen. Eine vergleichende Big-Data-Analyse zählte 2015 bereits 2500 Hochleistungssequenzierer in fast 1000 Genomzentren in 55 Ländern und kam außerdem zu dem Ergebnis, dass die Genomik im Jahr 2025 ein größerer Datenfresser als die Astronomie, Twitter und Youtube sein wird.5

Nachdem Großbritannien im Dezember 2018 sein „100 000-Genome-Projekt“ erfolgreich beendet hatte, wurde ein neues Programm aufgelegt, mit dem in naher Zukunft 500 000 Genome sequenziert werden sollen. In den USA will man 2022 die Millionengrenze knacken. Von China über Saudi-Arabien bis Japan und Australien: Die Liste der Länder, die Massensequenzierungen anstreben, wird immer länger. Doch was verspricht man sich genau davon?

Je mehr Informationen man hat, desto bessere Kenntnisse würde man über eine Krankheit gewinnen, lautet Professor Blays Antwort. „Im FMG-25-Plan sind in Wahrheit zwei Wertschöpfungsketten angelegt. Nach der Analyse des Genoms beschließen wir, welche Therapie der Patient erhalten soll – die dann anschlägt oder auch nicht. Diese Informationen greifen wir ebenfalls auf und speisen sie in ein weiteres Analysesystem ein, das allmählich zu einer riesigen Bibliothek heranwächst.“

Diese computerbasierte Diagnostik stützt sich auf Berechnungen, in die nicht nur die genetischen Informationen einfließen sollen, sondern auch die gesamte persönliche und familiäre Krankengeschichte einer Patientin. Auch Lebensgewohnheiten wie Sport und Ernährung oder die körperliche Konstitution seien mindestens genauso wichtig wie das Genom, erklärt Blay. „Mit der Genom-Initiative bekommen wir einen erweiterten Patienten oder einen erweiterten Arzt: Wir sehen alles bis aufs einzelne Molekül und können dementsprechend besser behandeln.“

Für die Integration und Nutzung der Genomdaten braucht es wiederum standardisierte, elektronische Patientenakten, die mit verschiedenen Computersystemen kompatibel sind. Dieses sogenannte Dossier Médical Partagé (DMP), das mit der neuen nationalen Gesundheitsidentität (Identité national de santé, INS) verknüpft ist, musste man sich in Frankreich bis zum 1. Juli selbst anlegen oder anlegen lassen. Ab dem 1. Januar 2022 sollen alle Daten, sofern man sich nicht explizit dagegen ausspricht, auf der neuen Webseite „Mon espace santé“ („Mein Gesundheitsbereich“) individuell abrufbar sein.

Im Auftrag des Gesundheitsministeriums kümmert sich die Agentur für digitale Gesundheit seit 2019 um die Umstellung auf E-Akten. Damit „unser Schatz von Gesundheitsdaten möglichst schnell möglichst vielen zur Verfügung steht“6 , wie Gesundheitsministerin Agnès Buzyn damals verkündete, wurde im Dezember 2019 eine zentrale Zugangsstelle eingerichtet. Dieser Health Data Hub, der direkt nach seiner Einrichtung für Kontroversen sorgte, ist mit der digitalen Bibliothek der Genom-Initiative übrigens nicht kompatibel.

Auch der 750 Milliarden schwere Coronafonds der Europäischen Union setzt auf Digitalisierung: So muss man für alle damit finanzierten Reformen und Investitionen „nachweisen, dass mindestens 20 Prozent der Gesamtmittel für Ausgaben im digitalen Bereich verwendet werden“7 . Die Pioniere der personalisierten Medizin gehen davon aus, dass sich die gesundheitlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen großenteils durch ihre Genome erklären lassen.

In den USA und Großbritannien wurde die Forschung über die unterschiedlichen Verläufe einer Covid-19-Erkrankung bereits in die nationalen Sequenzierungsprogramme inte­griert. Auch wenn sich die DNA zweier zufällig ausgewählter Menschen lediglich um 1 Prozent unterscheidet, verbergen sich dahinter tatsächlich einige Millionen genetischer Variationen, von denen wir bis heute nur einige hundert verstehen.

Die Genomanalyse als ­Datenfresser

Die Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen diesem kleinen Teil des Genoms und den physischen Eigenschaften in einer großen Population liefere zwar belastbare Daten, mit denen sich manche komplexen Erkrankungen erklären und eine persönliche Risikokartografie erstellen ließen, heißt es in einer Metaanalyse über Vergleichsstudien.8

Doch die Au­to­r:in­nen stellen auch fest, dass „die Relevanz der Sequen­zie­rungs­ergebnisse für die Vorhersage, Verhütung und Behandlung von Krankheiten weiterhin stark umstritten“ ist. Selbst bei einer Krankheit wie Diabetes Typ 1, deren Vererbbarkeit größtenteils geklärt ist, würde ein genetisches Screening der gesamten Bevölkerung nichts bringen, weil die Zahl der falsch positiven Befunde die Zahl der richtig positiven bei weitem übersteigen würde.

Außerdem gebe es bislang noch keine Technologie, die in der Lage wäre, alle Merkmale zu erkennen. So hat die Untersuchung genetischer Verbindungen nur einen „begrenzten klinischen Vorhersagewert“. Die Identifikation von Risikopersonen könne zudem in eine Sackgasse führen, wenn es noch keine Therapie gibt. Und selbst wenn eine Person, die um ihr persönliches genetisches Risiko weiß, ihre Lebensgewohnheiten ändert, bleibt das menschliche Verhalten immer noch ein komplexes Zusammenspiel vieler Faktoren: „Die genetischen Tests führen nicht un­bedingt langfristig zu besseren klinischen Resultaten“, lautet das Fazit der Studie.

Die Biologin Béatrice Des­vergne, die an der Universität Lausanne forscht, kann das nur bestätigen: „Insgesamt konnte man für alle Krebsarten bislang 80 Gene identifizieren, deren Mutation in der Keimbahn eine Prädisposition für Krebs ergibt. Doch diese Gene sind nur für 5 Prozent aller weltweit auftretenden Krebsfälle verantwortlich.“9 Die Wirtschaftlichkeit dieser Medizin der Zukunft findet sich vielleicht an anderer Stelle. Das Zusammentragen von genetischen und medizinischen Daten sowie Informationen über die Lebensgewohnheiten könnte vor allem dazu dienen, passgenaue Medikamente mit größerem Mehrwert zu entwickeln. Diese Schlussfolgerung zog jedenfalls ein EU-Bericht der Parlamentarischen Kommission zur Bewertung wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen (OPECST) zu den wissenschaftlichen, technologischen, sozialen und ethischen Herausforderungen der personalisierten Medizin.10

Die französischen Abgeordneten schreiben die Erfindung dieses Konzepts der Pharmafirma Roche zu: „Mit der Einführung von Herceptin zur Behandlung von Brustkrebs in den 1990er Jahren bewies Roche, dass man mit einem einfachen Gentest deren Ergebnis vorhersagen und herausfinden konnte, für welche Patientinnen das Medikament geeignet war und für welche eher nicht“.

Die personalisierte Medizin werde oft als „individuellere, verbindlichere, empathischere ärztliche Versorgung“ definiert, heißt es in dem EU-Bericht. Dabei ginge es hier vor allem darum, „mit Hilfe von Biomarkern kleine Untergruppen von Patienten zu bilden, für die man die zur Heilung geeignetsten Moleküle herausfiltert, um damit eine größere medizinische Wirksamkeit bei begrenzter Ausfallquote zu erreichen.“ Seitdem versuche die Pharma­indus­trie, extrem spezifizierte Medikamente zu entwickeln, die nur eine bestimmte Mutation oder genetische Anomalie heilen können. Und deshalb brauche man eine „einheitliche Zugangsstelle zu den Datenbanken“.

Selbstverständlich werden bei der Nutzung dieser Daten auch Fachleute für Bioethik eingebunden, um den korrekten Einsatz sicherzustellen und möglichen Missbrauch zu verhindern. Die Sicherheit der persönlichen Daten sowie ihre fachgerechte Aufbewahrung sollen durch offizielle Zertifikate garantiert werden.

Doch müsste man sich nicht erst einmal die grundsätzliche Frage stellen, ob dies tatsächlich der Weg zu einer Welt mit besserer Gesundheitsversorgung ist, bevor man in die ethischen Debatten einsteigt, die ohnehin gern sozialwissenschaftlichen Expertinnen überlassen werden, während die eigentlichen Entscheidungen bereits gefallen sind? Oder sich um ausgefeilte Verschlüsselungstechniken bemüht, die dann doch wieder nur gehackt werden?11 Die wenigen Studien zur Evalua­tion der personalisierten Medizin – vor allem aus der Onkologie, einem Fachgebiet, in dem sie schon seit zwanzig Jahren angewandt wird – kamen zu dem Schluss, dass ihr Nutzen im Verhältnis zu den Kosten bisher nicht auf der Hand liegt.12

Die Methoden der digitalen Ökonomie werden auf das Gesundheitswesen übertragen, wo maßgeschneiderte Anzeigen oder Produkte dazu beitragen sollen, Produktions- und Werbekosten zu sparen. Und wo das oberste Ziel lautet, so viel Mehrwert wie irgend möglich zu erzeugen, das heißt stets das richtige Produkt im richtigen Moment für die richtige Person parat zu haben. Diese Art der Personalisierung beruht aber fast ausschließlich auf quantifizierbaren Daten. Ein rein virtuell erzeugtes Patientenbild soll also dazu beitragen, Vorhersagemodelle zu entwickeln und entsprechende Therapie- oder Vorsorgemaßnahmen vorschlagen zu können.

Qualitative Daten – etwa wie eine Person über ihr Leben und ihre Gesundheit denkt oder in welchem wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Umfeld sie lebt – drohen dadurch an Bedeutung zu verlieren oder geraten womöglich ganz in Vergessenheit. Wie lautete noch mal der universelle Leitsatz der Weltgesundheitsorganisation (WHO)? „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens, und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“13

Die neuesten Techniken der medizinischen Versorgung, die den Bezug des Menschen zu seiner früheren und aktuellen Umwelt in „Lebensdaten“ übersetzen und die Therapie auf das Verschreiben von passgenauen Medikamenten reduzieren, dehnen den industriellen Zugriff auf unser Leben ins Extreme aus. Es muss gar keine akute Erkrankung vorliegen, das Wissen um den allgemeinen Gesundheitszustand reicht schon, um einen neuen Kundentypus zu generieren: den prä­symp­to­matischen Patienten. „Jeder gesunde Mensch ist ein Kranker, der es noch nicht weiß“, sagte bereits vor einem Jahrhundert der berühmte Dr. Knock in Jules Romains Theaterstück „Knock oder Der Triumph der Medizin“.14

Daraus folgt wiederum die Selbstverpflichtung, die eigenen Anfälligkeiten für bestimmte Erkrankungen zu kennen und sich regelmäßig checken zu lassen. Was wiederum die Menge an Informationen erhöht, die man verwalten muss – womöglich mit Hilfe professioneller Dienstleister –, sofern man es sich leisten kann. „Es geht vor allem darum, Anreize zu schaffen, das gesamte Spektrum der Möglichkeiten auszuschöpfen, um die eigene Gesundheit zu optimieren“, erklärt der Philosoph Xavier Guchet. „Diese Entwicklung geht mit einer Erosion des Begriffs der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber dem Einzelnen einher, zugunsten der Verantwortung des Einzelnen selbst.“15

Der präsymptomatische Patient

Die EU-Abgeordneten machen sich wiederum Sorgen, dass medizinische Leistungen künftig im Verhältnis zum angenommenen individuellen Risiko berechnet werden könnten, und warnen vor der Versuchung, die Krankenversicherung an das Verhalten des Patienten zu knüpfen: „Das Risiko wird steigen, dass der Solidarpakt zwischen Gesunden und Kranken infrage gestellt wird.“16

Angesichts der voraussichtlichen Ausgaben der französischen Krankenversicherung17 von 219 Milliarden Euro für das Jahr 2021 mag die über fünf Jahre ausgezahlte Summe von 400 Millionen Euro für die ersten beiden staatlichen Plattformen zur ­Gensequenzierung lächerlich erscheinen. Doch das Risiko einer technologischen Flucht nach vorn versteckt sich schon in den angeführten Zielsetzungen. Bereits jetzt gibt es weniger Mittel zur Untersuchung gesundheits­re­levanter gesellschaftlicher Faktoren und der Wirksamkeit präventiver Maßnahmen.

Ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten spricht für sich: Der Anthropologe Jorge Alberto Bernstein Iriart vom Institut für kollektive Gesundheit im brasilianischen Salvador de Bahia fand heraus, dass die nationalen US-Gesundheitsinstitute seit 2014 Forschungsprojekte, in denen die Worte „Gen“, „Genom“ oder „genetisch“ vorkamen, mit 50 Prozent mehr Mitteln ausgestattet haben als Projekte, in ­denen das Wort „Prävention“ auftauchte.

„Unsere Erkenntnisse über gesundheitsrelevante gesellschaftliche Faktoren zeigen, dass die wichtigsten Probleme der öffentlichen Gesundheit durch personalisierte Medizin nicht gelöst werden können, wenn man nicht zugleich die sozialen Ursachen wirksam behandelt, die diesen Problemen zugrunde liegen.“

Die personalisierte Medizin könnte sogar dem Allgemeinwohl zuwiderlaufen, erläutert Iriart: „Wenn man sich auf sehr kostspielige Techniken für diejenigen gesellschaftlichen Schichten fokussiert, die jetzt schon über einen besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung verfügen, läuft man Gefahr, die bestehenden Ungleichheiten zu verschärfen.“18

Tatsächlich ist es der personalisierten Medizin „weitaus besser gelungen, das Versprechen der Rentabilität privater Investitionen zu erfüllen, als Einsparungen in den Gesundheitssystemen und für die Beitragszahlenden zu ermöglichen“, bestätigt Steve Sturdy, der an der Universität Edinburgh zur Wissensgeschichte der Medizin forscht.19

Es lässt sich nicht leugnen: Die Sprache der Genomik hat derzeit mehr mit der Sprache der Finanzwelt gemein als mit der des öffentlichen Gesundheitswesens. Und höchstwahrscheinlich werden auch noch die Urenkelinnen von Bill Clinton bei dem Wort „Krebs“ nicht zuerst an ein Sternbild denken.

1 „France Médecine Génomique 2025“, Aviesan, Paris, 22. Juni 2015.

2 Vgl. die Website von Aviesan unter „Partenariats industriels“, www.aviesan.fr.

3 Verstreute Zitate, die komplette Rede steht unter anderem auf der Webseite des National Human Ge­nome Research Institute unter „June 2000 White House Event“, und auf Youtube gibt es das Video „Draft of the Human Genome Sequence Announcement at the White House“ (2000).

4 Siehe Sébastien Broca, „Saurer Regen aus der Cloud“, LMd, März 2020.

5 Siehe Zachary D. Stephens u. a., „Big Data: Astronomical or Genomical?“, 7. Juli 2015.

6 Alexandre Piquard und Martin Untersinger, „Données de santé: la plate-forme de la discorde“, Le ­Monde, 3. Dezember 2019.

7 „Guidance to Member States – Recovery and Resi­lience Plans“, Europäische Kommission, Brüssel, 22. Januar 2021.

8 Vivian Tam u. a., „Benefits and limitations of genome-wide association studies“, Nature Reviews Genetics, Bd. 20, Nr. 8, London, August 2019.

9 Béatrice Desvergne, „De la biologie à la médecine personnalisée. Mieux soigner demain?“, Paris (Éditions Rue d’Ulm – Presses de l’École normale supérieure) 2019.

10 Alain Claeys und Jean-Sébastien Vialatte, „Les progrès de la génétique: Vers une médecine deprécision? Les enjeux scientifiques, technologiques, sociaux et éthiques de la médecine personnalisée“, Bericht für die OPECST, Paris, 22. Januar 2014.

11 John H. Coote und Michael Joyner,„Is precision medicine the route to a healthy world?“, The Lancet, Bd. 385, Nr. 9978, London, 25. April 2015.

12 Miriam Kasztura u. a., „Cost-effectiveness of preci­sion medicine: a scoping review“, International Journal of Public Health, Nr. 64, Zürich, Dezember 2019.

13 Statut der Weltgesundheitsorganisation, New York, 22. Juli 1946 (2006 überarbeitet).

14 Jules Romains, „Knock oder Der Triumph der Medizin“, Ditzingen (Reclam) 1997 (Original von 1923).

15 Xavier Guchet, „Le patient ‚actionnable‘ de la médecine personnalisée“, Socio-anthropologie, Nr. 29, Paris 2014.

16 Siehe Anmerkung 10.

17 Gesetz Nr. 2020-1576 vom 14. Dezember 2020 zur Finanzierung der Sozialversicherung 2021.

18 Jorge Alberto Bernstein Iriart, „Precision medicine/personalized medicine: a critical analysis of movements in the transformation of biomedicine in the early 21st century“, Cadernos de Saúde Pública, Bd. 35, Nr. 3, Rio de Janeiro, 25. März 2019.

19 Steve Sturdy,„Personalised medicine and the economy of biotechnological promise“, The New Bioethics, Bd. 23, Nr. 1, London, 2. Januar 2017.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Raúl Guillén ist Journalist.

Im Innern des Zellkerns

Die Desoxyribonukleinsäure (DNA) trägt die Erbinformation der Zelle. Sie bildet ein langes Kettenmolekül, das sich aus den Chromosomen isolieren lässt. 1953 wurde erstmals ihre Struktur entschlüsselt: Sie besteht aus zwei Strängen, die eine Doppelhelix bilden, auf der sich beim Menschen etwa 3 Milliarden Kettenglieder aufreihen beziehungsweise 6 Milliarden Bausteine (Nukleotide), die immer paarweise auftreten. Darin gibt es jedoch nur vier Nukleinbasen, deren Abfolge die Erbinformation bestimmt.

Bei der Sequenzierung des Genoms geht es darum, die Abfolge dieser Basen zu entschlüsseln, die mit ihren Anfangsbuchstaben A, T, C, G bezeichnet werden: Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. So lassen sie sich in einer Computerdatei erfassen, denn in einem anderen ­Me­dium ist ihre Analyse aufgrund der hohen Anzahl von Nukleotiden selbst in einem winzigen DNA-Stückchen nicht möglich.

Man kann auch ausschließlich die „kodierenden“ Abschnitte dieser Ketten betrachten – die Gene, die Informationen zur Proteinherstellung enthalten. Das sind lediglich 2 Prozent der Basenpaare, die in der menschlichen DNA enthalten sind. Als Genom bezeichnet man die Gesamtheit der 3 Milliarden Kettenglieder, die in den 23 Chromosomen im Kern einer menschlichen Zelle aufgewickelt sind. Das Erbgut jeder menschlichen Zelle wird in der Datenbank mit 3 Mil­liar­den Buchstaben dargestellt.

1990 nahm das internationale, staatlich finanzierte Konsortium Human Genome Project (Humangenomprojekt, HGP) seine Arbeit auf. Der Auftrag lautete, das menschliche Genom vollständig zu entschlüsseln. Das öffentliche Forschungsprojekt stand in Konkurrenz zum Privatunternehmen Celera Genomics, das seine Ergebnisse patentieren lassen wollte, die allerdings zum Teil auf öffentlichen Daten beruhten.

Das HGP wurde als wissenschaftlicher Meilenstein präsentiert, stand jedoch vor allem für hohe technische Leistungsfähigkeit, die einen ganzen Industriezweig begründete. „Wie ähnliche Vorhaben in der Physik ist es kein Projekt, um Wissenschaft zu betreiben, sondern um neue Einnahmequellen aufzutun“, erklärte im Vorfeld der Hauptinitiator des HGP, Professor Charles DeLisi, 1988 in einem Beitrag für die Fachzeitschrift American Scientist. Er begründete es denn auch mit der „Aussicht auf medizinische Fortschritte“ und eine „hohe wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit“.

Dank dieser Erstinvestition haben sich Zeitaufwand und Kosten der Gensequenzierung inzwischen deutlich verringert. Heute kann man das Erbgut eines Menschen binnen weniger Stunden zum Preis von etwa 1000 Euro entschlüsseln. Die erste Analyse des HGP bewies nicht allein die Machbarkeit des Vorhabens, sondern lieferte auch eine Art Benchmark. Dieses „Referenzgenom“ diente als Vorbild, um die Sequenzierung zu automatisieren und die entsprechenden Berechnungen auf der Grundlage der Rohdaten des Sequenzierers zu programmieren.

Seit Mai 2021 gilt das menschliche Genom als vollständig entschlüsselt. Es umfasst 19 969 Gene.

Die Informatik ist bei der Analyse des Genoms ebenso wichtig wie die Biologie. Mit computergestützten Daten kann jedes Individuum auf molekularer Ebene charakterisiert werden. Diese Charakterisierung ermöglicht eine eindeutige Identifizierung, auch in juristischer Hinsicht, und ist längst in die Alltagssprache eingewandert. Sagte man früher, „es liegt in meiner Natur“, hat sich inzwischen „es liegt in meiner DNA“ eingebürgert.

Le Monde diplomatique vom 09.09.2021, von Raúl Guillén