10.06.2021

Ist weniger arbeiten gut fürs Klima?

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Ist weniger arbeiten gut fürs Klima?

von Claire Lecœuvre

Ist weniger Arbeiten gut fürs Klima?
Kasten: Macrons Bürgerkonvent

Wie lassen sich Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit auf einen Nenner bringen, wenn die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert werden sollen? In Frankreich hat der Präsident vor zwei Jahren einen Bürgerkonvent für das Klima (CCC) berufen, der einen interessanten Vorschlag machte, wie das Problem zu lösen sei: durch Reduzierung der Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden.

Als dann aber im Juni 2020 die Liste mit den 149 Empfehlungen (siehe nebenstehenden Kasten) dem Präsidenten überreicht wurde, war dieser Vorschlag nicht mehr dabei. 65 Prozent der CCC-Delegierten hatten sich bei der Abstimmung über die Liste gegen den Vorschlag entschieden, weil sie befürchteten, damit nur eine große Debatte loszutreten, ohne dass ein direkter Nutzen für den Klimaschutz herausspringen würde. Die Delegierte Mélanie Blanchetot argumentierte zum Beispiel, beim Thema Arbeitszeitverkürzung gehe es eher „um das Wohlbefinden am Arbeitsplatz und gesellschaftlichen Wandel als um eine Reduzierung der Treibhausgase“.

Eine Auswertung verschiedener Studien kommt allerdings zu dem Schluss, dass es tatsächlich einen engen Zusammenhang zwischen Arbeitszeit und ökologischem Fußabdruck gibt. Doch der sei leider, stellen die Autoren fest, wegen der mangelhaften Datenlage und der großen Zahl relevanter Faktoren nicht mit exakten Zahlen zu belegen.1

Die Wirtschaftswissenschaftler David Rosnick und Mark Weisbrot vom Washingtoner Center for Economic and Policy Research haben bereits 2007 berechnet, dass die USA 18 Prozent ihres Energieverbrauchs einsparen könnten, wenn sie ihre Arbeitszeit an den EU-Durchschnitt (von damals 15 Staaten) anpassen würden. Umgekehrt würde der Verbrauch in der EU um 25 Prozent steigen, wenn man hier genauso lange arbeiten würde wie in den USA.2

Eine weitere Studie von 2018 konnte belegen, dass in den Vereinigten Staaten 1 Prozent mehr Arbeitszeit zu einem Anstieg der CO2-Emissionen um 0,65 bis 0,67 Prozent führt.3 Damit wurde auch eine Analyse bestätigt, nach der in Schweden eine Reduzierung der Arbeitszeit um 1 Prozent dazu führen würde, dass die Emissionen pro Haushalt um 0,8 Prozent zurückgehen.4

Je weniger Menschen arbeiten und je weniger sie verdienen, desto geringer ist ihr CO2-Fußabdruck. Ist deshalb der Umkehrschluss zulässig, dass eine globale Verarmung nötig sein wird, um das Klima zu retten? Dazu meint François-Xavier Devetter, Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Lille: „Wenn die Menschen mehr Zeit haben, reduziert sich die Umweltintensität ihres Konsums. Wenn wir weniger produzieren und dafür mehr Freizeit haben, schaffen wir Wohlstand auf andere Weise.“ Außerdem könne die gewonnene Freizeit das geringere Einkommen zumindest teilweise ausgleichen, weil wir viele Dienstleistungen, für die wir Geld ausgeben mussten, im Idealfall selbst erledigen können.

Wenn wir dazu beitragen wollen, die Klimakatastrophe abzuwenden, müssen wir die Treibhausgasemissionen reduzieren. Wer das erreichen will, muss sich auch der Tatsache stellen, dass die energieintensive Produktion von Gütern und Dienstleistungen zur Erdüberhitzung beiträgt.

Es wird also nicht reichen, fossile Brennstoffe zu ersetzen und die Energieeffizienz zu verbessern, um die durch die Industrie verursachten Umweltschäden deutlich zu vermindern. Dass man den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen auftrennen kann, ist und bleibt ein Mythos. Was man hingegen durchbrechen kann, ist die Verbindung zwischen Wohlfahrtswachstum und Produktionswachstum, das heutzutage als Bruttoinlandsprodukt erfasst und gemessen wird.

Arbeit als Quelle allen materiellen Wohlstands ist ein entscheidender Hebel für die anstehenden Transforma­tio­nen. Sie spiegelt die Organisation unserer Gesellschaft wider und den Wert, den wir dem beimessen, was wir an materiellen und gesellschaftlichen Gütern produzieren – oder nicht produzieren.

Viele Ökonomen regen ein Nachdenken über eine Postwachstumsgesellschaft an, in der die entscheidende Kennzahl nicht mehr das Output ist, sondern die erfüllten sozialen Bedürfnisse.5 „Durch die Verwendung anderer Indikatoren, die die Produktion im Rahmen ihrer insbesondere ökologischen Grenzen darstellen, wird es möglich, die Diktatur des Wachstums durch die Befriedigung sozialer Bedürfnisse zu ersetzen und dabei zugleich unser natürliches Erbe und den sozialen Zusammenhalt zu respektieren“, schreibt der Soziologe Dominique Méda.6 Damit stellt sich die Frage, welche Produktion teilweise oder ganz herunterzufahren wäre und welche beibehalten werden kann. Dabei ist es überaus wichtig, die Bevölkerung in diese Entscheidungen einzubeziehen.

Die Verkürzung der Arbeitszeit ist eine der größten Errungenschaften der jüngeren Geschichte (siehe Grafik). Der Arbeitskampf um die Freizeit hat sich als effektiv und realistisch erwiesen. In Frankreich wurde die Zahl der Arbeitsstunden pro Arbeiter seit Beginn des Industriezeitalters praktisch halbiert: von durchschnittlich 3041 Stunden im Jahr 1831 auf 1613 Stunden im Jahr 2019.7 In Ländern wie Deutschland, den Niederlanden und Norwegen sind es sogar noch weniger Stunden.

Mit der 28-Stunden-Woche in eine grüne Zukunft

Heute fordern fortschrittliche Gewerkschaften, linke Parteien und Umweltschützer für Frankreich eine weitere Arbeitszeitverkürzung. Im Mai 2020 haben auf Initiative von Attac, dem Gewerkschaftsbund CGT und Greenpeace rund 20 Arbeitnehmerorganisationen und Umweltverbände einen „Plan zur Überwindung der Krise“ vorgelegt. Zu den Programmpunkten gehört eine „Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsumverteilung“ mit einer Sollzeit von „32 Wochenstunden, ohne Lohneinbußen und Arbeitszeitflexibilisierung“.

Durch Arbeitsumverteilung wird allerdings nicht nur die Arbeitslosigkeit reduziert, sondern auch die prekäre Beschäftigung. Denn de facto betreiben manche Arbeitgeber ihre eigene Art von Arbeitszeitverkürzung, die im Namen der Flexibilität vor allem darauf angelegt ist, Teilzeitarbeit durchsetzen oder ältere Beschäftigte loszuwerden.

Die Frage der Arbeitsumverteilung wird erneut an Aktualität gewinnen, wenn der Aufschwung, der nach der Coronapandemie zu erwarten ist, zu einer Wiederbelebung der Beschäftigung führt. In Frankreich beträgt die gesetzliche Arbeitszeit zwar 35 Stunden, aber ein Großteil der Beschäftigten arbeitet nach wie vor viel länger.8 Diese Differenz beweist nicht etwa, dass die 35-Stunden-Woche gescheitert ist, sondern nur, dass sie unzureichend umgesetzt wurde.

Der ideologisch begründete Widerstand gegen eine Umverteilung der Arbeit kollidiert jedoch seit Jahrzehnten mit den Fakten: In Frankreich wächst die Zahl der Erwerbstätigen schneller als die Menge der verfügbaren Arbeit. Zwischen 1980 und 1989 betrug das Gesamtvolumen der jährlich geleisteten Arbeitsstunden 38,5 Milliarden bei einer Erwerbsbevölkerung von 24,7 Millionen. Von 2010 bis 2019 betrug die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden 41,9 Milliarden pro Jahr, was einem Wachstum von 7,9 Prozent entspricht, während die Zahl der Erwerbstätigen auf 29,4 Millionen und damit um 15,7 Prozent anwuchs.9

Wir leben also in einer Gesellschaft, in der die Arbeit sehr schlecht verteilt ist. Eine immer kleiner werdende Zahl von Arbeitnehmern arbeitet sehr lange, während viele andere arbeitslos sind.

Die Reduzierung der Arbeitszeit kann also sehr wohl zum Kampf gegen den Klimawandel beitragen. Auch kann von einem Gegensatz zwischen Beschäftigungs- und Klimapolitik keine Rede sein, ganz im Gegenteil. Denn die Energiewende schafft, wie mehrere Studien aufgezeigt haben, zugleich eine große Anzahl von Arbeitsplätzen.10

Allerdings wird dieser Impuls nicht ausreichen, um die derzeitige Lücke zu schließen. Die offizielle Arbeitslosenstatistik für „France métropolitaine“ (ohne Überseegebiete) weist derzeit 5,7 Mil­lio­nen Menschen aus, die ohne Beschäftigung oder in Teilzeitarbeit sind und zugleich eine neue – oder volle – Arbeit anstreben. Da aber diejenigen nicht erfasst sind, die keine Beschäftigung suchen oder bereits aus der Arbeitslosenversicherung herausgefallen sind, liegt die tatsächliche Zahl viel höher. Eine bessere Verteilung der Arbeit und der damit geschaffenen Werte ist daher in jedem Fall notwendig.

Um eine Verringerung der Produk­tion insbesondere in den CO2-intensiven Branchen zu planen, muss man von der Arbeitsproduktivität pro Stunde ausgehen. Eine Arbeitszeitverkürzung führt nämlich fast immer zu einer Produktivitätssteigerung zulasten des Klimaschutzes – ganz zu schweigen von der damit verbundenen Arbeitsverdichtung, die viele Menschen seit Jahren erleben. Die meisten Unternehmer haben genau diesen Effekt im Auge, wenn sie die Arbeitszeit oder die Zahl der Arbeitstage verringern. Die Verkürzung erfolgt also zumeist aus wirtschaftlichen Gründen.

Die Recyclingfirma Yprema führte schon 1997 die Viertagewoche ein. Ein Jahr zuvor war ein Gesetz zur Flexibilisierung der Arbeitszeit in Kraft getreten, das Unternehmen, die sich daran beteiligten, eine Reduzierung der Sozialversicherungsabgaben in Aussicht stellte. „Es war eine gute Gelegenheit, das anzupacken. Wir entschieden uns für die Option, 35 Stunden an vier Tagen pro Woche zu arbeiten“, erzählt Ypre­ma-­Geschäftsführerin Susana Men­des. „Dafür haben wir die Belegschaft vergrößert. Wir hatten anfangs 42 Mit­arbeiter und haben im Laufe des Jahres 1998 auf 50 aufgestockt. Um die schwere körperliche Arbeit durchstehen zu können, bekamen unsere Mitarbeiter drei Tage frei, wenn sie vier Tage hintereinander gearbeitet haben. Dank der neuen Arbeitsorganisation konnten wir die Maschinenauslastung optimieren, längere Öffnungszeiten anbieten und die Produktionszeit von 39 auf 43 Stunden pro Woche steigern. Damit hat sich unsere Gesamtproduktivität verbessert.“

Ähnliche Erfolge erzielten Micro­soft in Japan oder die neuseeländische Fondsgesellschaft Perpetual Guar­dian, als sie flexiblere Arbeitszeitmodelle erprobten. „Unser Ziel ist es, die Leistung an der Produktion zu messen, nicht an der Zeit“, erklärt Nick Bangs, Chef von Unilever in Neuseeland, das im Dezember 2020 auf das Viertagemodell umgestiegen ist.11

In Frankreich führte die Handelssparte für Computerteile LDLC am 25. Januar 2021 bei vollem Lohnausgleich die Viertagewoche mit 32 Stunden ein – gegen alle Widerstände und die Appelle mehrerer Minister, wegen der Coronapandemie doch bitte mehr zu arbeiten. Firmengründer Laurent de la Clergerie erläuterte seine Entscheidung so: „Außer den Fällen, in denen wir das Tempo nicht erhöhen können, etwa bei der Versandvorbereitung, gibt es viele Arbeiten, die auch in kürzerer Zeit erledigt werden können, ohne dass man zusätzlich Leute einstellen muss. Ich habe das durchkalkuliert und bin überzeugt, dass es sich rechnet. Wenn ein Mitarbeiter zufrieden ist, ist auch der Kunde zufriedener.“ Mathilde Pom­mier, bei LDLC für den Einkauf zuständig, kann das nur bestätigen: „Wenn die Menschen ausgeruhter und fitter sind, schaffen sie mehr.“

Als im CCC über die 28-Stunden-Woche debattiert wurde, meinte ein Mitglied: „Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mehr reisen.“ Tatsächlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Menschen, wenn sie mehr Zeit haben, aber genauso viel verdienen wie vorher, auch mehr konsumieren und damit die Umwelt stärker belasten. Wir wissen es nicht. Allerdings haben Erhebungen des französischen Arbeitsministeriums ergeben, dass zumindest arbeitende Eltern nach der Umstellung auf die 35-Stunden-Woche die gewonnene Zeit dafür genutzt haben, sich mehr um ihre Kinder zu kümmern, bei den Hausaufgaben zu helfen oder regelmäßiger zu den Lehrersprechstunden zu gehen.

Zudem sind es vor allem die reichsten Haushalte, die die Umwelt am stärksten belasten. Nach einer neueren Studie produzieren die reichsten 10 Prozent der Haushalte 2,2- bis 2,8-mal mehr Treibhausgase als die ärmsten 10 Prozent.12 Unser Gesellschaftsmodell fördert diesen Überkonsum, indem es die zwanghafte Befriedigung aller Wünsche als eine Art Erfolgsbeweis bewertet.

Wenn wir insgesamt weniger produzieren wollen, ist deshalb ein Kulturwandel vonnöten, argumentiert der Ökonom Devetter: „Einerseits müssen wir die Arbeitszeit reduzieren und dabei zugleich besser verteilen. Und andererseits müssen wir das Wachstum drosseln oder sogar den Produktionsanstieg rückgängig machen, indem wir die Produktivitätsgewinne nicht in Form von Einkommen, sondern in Form von freier Zeit verteilen.“ Dafür wären die Menschen am ehesten einzunehmen, wenn man „das, was sie gewinnen, nämlich Zeit, stärker betont als das, was sie verlieren: Konsum, der nicht unbedingt gleichbedeutend mit Vergnügen und Glück ist.“

„Die Arbeitszeitverkürzung hat zwei Vorteile“, argumentiert der Ökonom Jean-Marie Harribey.13 „Erstens können viele Arbeitslose auch ohne berauschende Wachstumsraten in den Arbeitsmarkt integriert werden.“ Als zweiten Vorteil nennt er, dass womöglich viele Menschen eine andere Vorstellung von „Wohlbefinden“ entwickeln, wenn sie sich fragen: „Sollen wir immer mehr arbeiten, um mehr zu konsumieren, oder lieber ein bisschen weniger arbeiten, damit jeder arbeiten kann – jeder, der will – und auch etwas anderes machen kann?“

Arbeitszeitverkürzung wäre so gesehen der erste Schritt, um die Beschränkung von Konsum und Produktion akzeptabel zu machen. Sie könnte zum Hebel für einen Mentalitäts- und Gesellschaftswandel werden, der die Energiewende begleitet und die Umverteilung begünstigt und begleitet.

In Frankreich ist die Arbeitszeitverkürzung für manche immer noch ein rotes Tuch. Patrick Martin zum Beispiel, Vizepräsident des Arbeitgeberverbands Medef, bezeichnete den vom Bürgerkonvent für das Klima gemachten – und dann verworfenen – Vorschlag einer 28-Stunden-Woche „als wirtschaftlichen und sozialen Selbstmord“. Und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hält schon die 35-Stunden-Woche für einen Fehler. „Die eigentliche strategische Frage für Frankreich ist unser gesamtes Arbeitsvolumen und damit der von uns geschaffene Reichtum und Wohlstand für alle. Jeder muss mehr arbeiten“, erklärte er am 4. Dezember 2020 im Radiosender RMC.

Dieselben neoliberalen Rezepte empfahl der Ökonom Bertrand Martinot in einem Report für das Institut Montaigne vom Mai 2020: „Der tiefgreifende Charakter der Krise erfordert auch entschiedene Maßnahmen zur Stützung der Angebotsseite. Mit anderen Worten: investieren, mehr arbeiten und die totale Faktorproduktivität erhöhen – das müssen die zentralen Ziele der Wirtschaftspolitik in den kommenden Jahren sein.“

Solchen Forderungen tritt der linke Ökonom Michel Husson entgegen. Wer auf der Linie argumentiere: „Die Beschäftigung ist um 10 Prozent geschrumpft, also ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Arbeitszeit zu reduzieren‘“, vergesse schlicht, dass die durchschnittliche Arbeitszeit so oder so laufend zurückgehe. Viele Arbeitgeber versuchen auch gar nicht, die Arbeitszeit zu reduzieren, sondern splitten sie eher auf. So hat sich in Frankreich der Anteil der Teilzeitarbeit seit 1975 praktisch verdreifacht; 2019 hatten bereits 18,1 Prozent der Beschäftigten keine Vollzeitjobs. Zudem ermöglichen prekäre Arbeitsverhältnisse, wie die sogenannten Ich-AGs, ein Outsourcing ohne Verantwortung. Das Ergebnis ist eine wachsende Ungleichheit und perfekte Voraussetzungen, um die Angst vor Arbeitslosigkeit zu schüren und Arbeitnehmerrechte einzuschränken.

Demgegenüber setzt man in Deutschland und noch mehr in den Niederlanden beim Bekämpfen der Arbeitslosigkeit in großem Umfang auf Teilzeitarbeit. Damit werden aber „Unternehmen der Leiharbeitsbranche subventioniert, deren Geschäftsmodell auf Hungerlöhnen basiert“, schreibt Christoph Butterwegge in seiner Bilanz über die fatale Hartz-IV-Reform.14 Bei einem Anteil der Teilzeitbeschäftigungen von 22 beziehungsweise 37 Prozent haben Deutschland und die Niederlande eine halb so hohe Arbeitslosenquote wie Frankreich. Allerdings wirkt sich der Trend zur Teilzeitarbeit oft negativ auf die Löhne aus und verstärkt die Geschlechterungleichheit, wie die parallele Zunahme der Minijobs und der Armut in Deutschland zeigt.

In Frankreich wird die Arbeitszeitverkürzung mit abstrusen Thesen diffamiert: Sie erhöht die Arbeitskosten, wird behauptet, sie lässt die Produktivität einbrechen, den „Wert der Arbeit“ zerstören, und so weiter. Das Wirrwarr und der faktische Lohnverzicht beim Übergang zur 35-Stunden-Woche haben tiefe Spuren hinterlassen – eine Bresche, die arbeitgebernahe Medien wie die politischen Rechte nutzen. „Über diese Maßnahme wurde im CCC-Plenum am längsten diskutiert“, erinnert sich der Moderator Erwan Dagorne. Jedes Mal, wenn das Thema Arbeitszeitverkürzung anstand, sei es unter Teilnehmern hoch hergegangen: „Einige waren von der 35-Stunden-Woche und deren Umsetzung äußerst enttäuscht. Sie waren der Meinung, es handele sich dabei um ein ‚heikles‘ Thema, das in der Gesellschaft nur schwer zu vermitteln ist. Sie wollten vermeiden, dass auf diese Weise ein Misstrauen gegenüber der CCC entsteht.“

Nicht zuletzt die Coronapandemie hat die Risiken aufgezeigt, die ein Mangel an Voraussicht mit sich bringt. Um die Auswirkungen der übermäßigen Erderwärmung einzudämmen, ist es höchste Zeit für Lösungsansätze, die möglichst vielen Menschen zugutekommen. Der Vorschlag einer 28-Stunden-Woche ist vielleicht schockierend, doch er kann wichtige Anstöße geben, über die Orga­nisa­tion und Verteilung von Arbeit oder über unser Verhältnis zur Pro­duk­tion wie auch zur Entmystifizierung des Wachstums nachzudenken. Die zwingend gebotene Reduktion der Treibhausgase stellt uns eindringlich vor eine neue „soziale Frage“: Sind wir bereit, weniger zu arbeiten, zu produzieren und zu konsumieren, um unser Zusammenleben gerechter zu gestalten?

1 Miklós Antal u. a., „Is working less really good for the environment? A systematic review of the empirical evidence for resource use, greenhouse gas emissions and the ecological footprint“, Environmental Research Letters, Bd. 16, Nr. 1, Bristol, Januar 2021.

2 David Rosnick und Mark Weisbrot, „Are shorter work hours good for the environment? A comparison of US and European energy consumption“, International Journal of Health Services, Bd. 37, Nr. 3, Newbury Park (CA) Juli 2007.

3 Jared B. Fitzgerald, Juliet B. Schor und Andrew K. Jorgenson, „Working hours and carbon dioxide emissions in the United States, 2007–2013“, Social Forces, Bd. 96, Nr. 4, Oxford, Juni 2018.

4 Jonas Nässén und Jörgen Larsson, „Would shorter working time reduce greenhouse gas emissions? An analysis of time use and consumption in Swedish households“, Environment and Planning C: Government and Policy, Bd. 33, Nr. 4, Thousand Oaks (CA), August 2015.

5 Zur Postwachstumsbewegung siehe: Le Monde diplomatique/Kolleg Postwachstumgesellschaften (Hg.), „Atlas der Globalisierung. Weniger wird mehr“, Berlin (taz Verlag) 2015.

6 Dominique Méda, „L’emploi et le travail dans une ère postcroissance“, in Isabelle Cassiers, Kevin Maréchal und Dominique Méda (Hg.), „Vers une société post­crois­sance. Intégrer les défis écologiques, économiques et sociaux“, La Tour d’Aigues (L’Aube) 2017.

7 Olivier Marchand und Claude Thélot, „Le Travail en France, 1800–2000“, Kollektion „Essais et recherches“, Nathan, Paris 1997; „Emploi en continu“, Statistiken des Institut national de la statistique et des études économiques (Insee), Paris.

8 So arbeiteten Vollzeitbeschäftigte 2018 im Durchschnitt 40,5 Stunden pro Woche. Bei den Angestellten waren es 39,1 Stunden, siehe „Emploi“, Jahresstatistiken 1990–2002 und „Emploi en continu“, Insee.

9 Berechnung nach volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung, Insee, 2020.

10 Laut NégaWatt könnten dadurch bis 2030 etwa 630 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, siehe Philippe Quirion, „L’effet net sur l’emploi de la transition énergétique en France: une analyse input-output du scénario négaWatt“, Document de travail, Nr. 46, 2013, Centre international de recherches sur l’environnement et le développement, Paris, April 2013; „Un million d’emplois pour le climat“, Plate-forme emploi-climat d’un collectif d’association (Greenpeace, Attac, Alternatiba u. a.), Dezember 2016, und Jean Gadrey, „On peut créer des millions d’emplois utiles dans une perspective du­rable“, Debout!, 25. November 2014, blogs.alternatives-economiques.fr.

11 Olivier Bénis, „En Nouvelle-Zélande, Unilever va tester la semaine de quatre jours (avec le même salaire)“, France Inter, 2. Dezember 2020, www.franceinter.fr.

12 Antonin Pottier u. a., „Qui émet du CO2? Panorama critique des inégalités écologiques en France“, Revue de l’OFCE, Nr. 169, Paris, November 2020.

13 Siehe Jean-Marie Harribey, „Le Trou noir du capitalisme“, Lormont (Le Bord de l’eau) 2020.

14 Siehe Christoph Butterwegge, „Ungleichheit per Gesetz“, LMd, Januar 2020.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Claire Lecœuvre ist Journalistin.

Macrons Bürgerkonvent

von Claire Lecœuvre

Ausgerechnet eine umweltpolitische Maßnahme – die geplante Preiserhöhung für fossile Treibstoffe zur Finanzierung der Energiewende – trieb im Herbst 2018 in ganz Frankreich die Massen auf die Straße. Der Klimaschutz dürfe nicht zulasten der sozial Schwächeren gehen, so die Kritik der Gelbwestenbewegung. Und kleine Handwerker oder Stadtrandbewohner in prekären Beschäfti­gungsverhältnissen seien nun mal fast alle aufs Auto angewiesen.

Die monatelangen und zum Teil gewalttätigen Proteste bewogen Präsident Macron am Ende zu dem ungewöhnlichen Schritt, zu einer „großen nationalen Debatte“ aufzurufen. Nach vielen kommunalen Versammlungen und Treffen zwischen Macron und Bürgermeistern versprach die Regierung eine stärkere Bürgerbeteiligung und speziell die Einberufung eines Bürgerkonvents für das Klima (Convention citoyenne pour le climat, CCC).

Per Losverfahren wurden 150 Bürgerinnen und Bürger für den Klimakonvent ausgewählt. Der sollte „strukturelle Maßnahmen definieren, um im Geiste der sozialen Gerechtigkeit bis 2030 eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um mindestens 40 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen“.

Im Juni 2020 legte der Konvent seinen Bericht mit 149 Empfehlungen vor. Dazu gehörten eine verringerte Mehrwert­steuer auf Bahntickets, bessere Verbraucherinformation, etwa durch die Einführung eines CO2-Punktesystems für Produkte und Dienstleistungen, die Schaffung von Gemüse-Anbauflächen im städtischen Umland und die Bevorzugung lokaler Produkte in den Lieferketten.

Die Vorschläge fließen seither in den Gesetzgebungsprozess ein. Jedoch wurden einige nur in Teilen oder in abgeschwächter Form aufgegriffen, etwa die im Corona-Konjunkturpaket vorgesehenen Subventionen für den Biolandbau oder den Bahnverkehr. Verabschiedet wurde auch ein Verbot von Inlandsflügen, wenn das Reiseziel per Bahn innerhalb von maximal 2,5 Stunden erreichbar ist – der Konvent hatte allerdings eine Grenze von 4 Stunden gefordert.

Nur wenige Empfehlungen wurden ganz gestrichen, wie das geforderte Tempo 110 auf Autobahnen. Tatsächlich stützt sich der am 10. Februar 2021 vorgelegte Entwurf für ein Klimaschutzgesetz in weiten Teilen auf die Vorschläge des Bürgerkonvents.⇥Nicola Liebert

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Claire Lecœuvre