10.06.2021

Zuflucht am Bosporus

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Zuflucht am Bosporus

Istanbul ist zum Zentrum der arabischen Diaspora geworden

von Killian Cogan

Erdoğans Berater Yasin Aktay auf einer Gedenkfeier für Jamal Kashoggi NEYRAN ELDEN/picture alliance/ap
Zuflucht am Bosporus
Kasten: Man spricht wieder Arabisch

Mahmud Darwisch, Nagib Machfus, Nizar Qabbani: In der Buchhandlung al-Shabaka al-Arabiyya („das arabische Netzwerk“) füllen Klassiker der arabischen Literatur die Regale. Eine Kalligrafie an der Wand erinnert an den abbasidischen Dichter al-Mutanabbi. Im Verkaufsraum signiert ein junger ägyptischer Autor seinen neuesten Roman. Die Buchhandlung in der Altstadt, die der saudische Verleger Nawaf al-Qudaimi erst vor vier Jahren eröffnet hat, ist ein Treffpunkt der arabischen Intellektuellen in Istanbul. Beim Kaffee tauschen sie sich hier jede Woche über die aktuelle Lage in ihren Heimatländern aus.

Seit 2011 stranden Schiffbrüchige der arabischen Revolutionen in der Metropole am Bosporus. Allein mehr als 500 000 syrische Bürgerkriegsflüchtlinge leben in der Stadt.1 Aber auch andere arabische Länder sind stark vertreten: In der Türkei dürften heute mehrere hunderttausend Menschen aus dem Irak leben, mehr als 30 000 aus Ägypten, mehrere zehntausend aus Libyen, Jeme­n, Pa­läs­ti­na und Jor­da­nien, dazu viele aus Algerien, Ma­rok­ko und Tunesien. Die meisten von ihnen wohnen in der einstigen Hauptstadt des Osmanischen Reichs.

Unter die Dissidenten, Flüchtlinge und Migrantinnen mischen sich Autoren, Studentinnen und normale Touristen. An keinem Ort der Welt träfe man auf so viele verschiedene arabische Nationalitäten wie in Istanbul, erklärt Nouran Gad, Doktorandin an der ­Science Po in Aix-en-Provence und eine der wenigen Expertinnen für dieses Forschungsthema.

„Durch die Vielfalt der arabischen Gemeinschaften übertrifft Istanbul noch die Rolle, die früher Kairo oder Beirut einnahmen“, bestätigt der Buchhändler al-Qudaimi, der in der libanesischen Hauptstadt noch einen Verlag besitzt. In den 1950er Jahren war Nassers Ägypten das pulsierende Herz der arabischen Kultur. Doch die autoritäre Herrschaft des panarabischen Führers vertrieb die Leute wieder, und so stieg Beirut – ein Ort einzigartiger Freiheit – zum geistigen Zentrum der arabischen Welt auf, bis 1975 der libanesische Bürgerkrieg begann. Fast zwei Jahrzehnte lang hatten sich bis dahin Schriftsteller, Künstlerinnen und Verleger aus den Nachbarländern in den Cafés von Westbeirut getroffen.2 Bis heute ist der Libanon trotz der aufeinanderfolgenden politischen und gesellschaftlichen Krisen das unangefochtene Zentrum des arabischen Verlagswesens.

In Beirut wird zwar publiziert, erklärt der saudische Verleger, aber in Istanbul leben und schreiben die Intellektuellen. Wie Jamal Khashoggi, der saudische Dissident, der im Oktober 2018 durch die Schergen von Kronprinz Bin Salman ermordet wurde, als er im saudischen Konsulat in Istanbul persönliche Dokumente für seine bevorstehende Heirat abholen wollte. Der Journalist und Wissenschaftler, dessen Familie osmanische Wurzeln hat, lebte seit 2017 in den USA, kam aber regelmäßig an den Bosporus, wo er eine Wohnung besaß.3 „Ein langjähriger Freund“, sagt al-Qudaimi traurig. „Er kam oft in die Buchhandlung.“ Wie Khashoggi wurde auch al-Qudaimi vom saudischen Regime verjagt, weil er „über einen politischen Skandal geschrieben“ hatte. Auch die Einreise in Kuwait, Ägypten oder Jordanien ist ihm verboten. Seit mehr als drei Jahren hat er seine Frau und seine Kinder nicht mehr gesehen, weil sie Saudi-Arabien nicht verlassen dürfen.

Es ist schon paradox: Die Türkei von Recep Tayyip Erdoğan, die immer stärker autokratische Züge annimmt, ist für viele Bürger arabischer Staaten ein Hafen der Freiheit. Wenn wir das Thema Menschenrechtsverletzungen oder Unterdrückung türkischer Journalisten ansprechen, geben unsere Gesprächspartner alle die gleiche Antwort: Sie wollen sich auf keinen Fall zu Erdoğans Politik äußern. Denn sie empfinden vor allem Dankbarkeit gegenüber dem türkischen Präsidenten. Seit 2011, als die arabische Welt durch eine Welle von Aufständen erschüttert wurde, hat sich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) auf die Seite der Revolutionäre gestellt. Unter der Ägide des später in Ungnade gefallenen Außenministers Davut­oğlu hat die Türkei ihren Einfluss im Gebiet ihres einstigen Großreichs ausgeweitet und die Oppositionsbewegungen, vor allem die verschiedenen Parteien der Muslimbrüder, unterstützt.4

Nachdem die meisten Volksbewegungen gescheitert sind und der alte Despotismus fast überall zurückgekehrt ist, hat sich die Bruderschaft nach Istanbul zurückgezogen, das ihr nun als Basis dient. Die ägyptischen Muslimbrüder haben sich seit dem Putsch von General Abdal-Fattah al-Sisi im Juli 2013 und ihrer erbarmungslosen Unterdrückung in der Heimat in einem Istanbuler Vorort neu formiert. Im Frühjahr 2020 wählte auch die ebenfalls den Muslimbrüdern nahestehende jemenitische Partei al-Islah in Istanbul ihren neuen Führer.5 Und die syrische Muslimbrüder-Opposition folgt sogar direkt den Anweisungen der türkischen Regierung.6

Die Exil-Sender der Muslimbrüder

Außerdem gründete die Muslimbruderschaft in Istanbul mehrere Fernsehsender, meist mit Unterstützung Katars7 , das seit der Golfkrise von 2017 der engste Verbündete des türkischen Re­gimes ist. 2017 hatten Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Ägypten und Bahrain die diplomatischen Beziehungen zum Emirat Katar abgebrochen und es mit einer Blockade belegt. Daraufhin ist die Türkei in die Bresche gesprungen und hat Katar wirtschaftliche, diplomatische und militärische Hilfe gewährt. In den Sendern Mekameleen und Watan TV können die ägyptischen „Brüder“ predigen, während Yemen Shabab das Programm der jemenitischen Muslimbrüder verbreitet.8

Seit Beginn dieses Jahres vollzieht sich jedoch eine vorsichtige Annäherung zwischen der Achse Türkei–Katar und dem Bündnis aus Ägypten, Saudi-Arabien und den VAE. Mit der Aussicht, die diplomatischen Beziehungen zu normalisieren, verlangt Kairo von Ankara und Doha unter anderem, ägyptenkritische Medien zum Schweigen zu bringen und die in ihren Ländern lebenden Anführer der Muslimbrüder auszuliefern. Katar und die Türkei lehnen die Auslieferung ab, ein Teil der ägyptischen Exilanten wurde sogar schon eingebürgert. Um dennoch ein Zeichen der Entspannung zu senden, hat die Türkei allerdings im März die ägyptischen Medien in Istanbul gebeten, ihre Kritik an al-Sisi zu mäßigen.9 Einige Fernsehprogramme wurden abgesetzt und werden jetzt über Youtube verbreitet.

Doch nicht alle arabischen Kanäle in Istanbul sind auf der Linie der Muslimbrüder. Der Oppositionssender Televisyon Surya ist mit dem in London ansässigen Netzwerk Al-Araby Al-Jadeed verbunden. Es wurde 2014 auf Initiative des Palästinensers Azmi Bishara von einem katarischen Unternehmen gegründet, um ein liberaleres und progressiveres Bild Dohas zu vermitteln und dem bruderschaftfreundlichen Sender al-Dschasira Konkurrenz zu machen.10

Aktuell gibt es in Istanbul 15 arabische Fernsehsender. „Der türkische Staat mischt sich nicht in die Angelegenheiten der Araber ein, die in der Türkei leben“, betonte noch im November 2020 Ayman Nour, ägyptischer Dissident und Gründer der liberalen Al-Ghad-Partei, die mehrere Fernsehkanäle in Istanbul betreibt. Anfang März, nach der türkisch-ägyptischen Annäherung, musste allerdings auch Nour zugeben, dass sich Ankara in sein Programm eingemischt hat.11

Neben Ägypten versucht sich die Türkei auch wieder Saudi-Arabien anzunähern. Jüngst erklärte Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalin, man „respektiere“ die Entscheidung der saudischen Gerichte hinsichtlich des Schicksals von Jamal Khashoggi. Weht also ein neuer Wind? Immerhin versucht die Türkei seit Jahren, in der Region damit zu punkten, dass sie sich gegen die Regime in Kairo und Damaskus, Riad oder Abu Dhabi stellt. Davon zeugen auch ihre militärischen Interventionen. In Libyen unterstützte sie die ehemalige Regierung der nationalen Übereinkunft (GNA) gegen die Kräfte von General Haftar. In Syrien kommandiert sie Rebellengruppen und kontrolliert de facto den Norden des Landes, wo die türkische Fahne weht und man mit türkischen Lira bezahlt.

Ankara versucht offenbar auch über die arabische Diaspora den türkischen Einfluss zu verstärken. Der Präsident der Union der arabischen Medien, zu der mehr als 850 Jour­na­lis­t:in­nen gehören, ist Turan Kışlakçı, Direktor des staatlichen Nachrichtensenders TRT Arabi, der seit 2010 die Stimme der Türkei in der arabischen Welt verbreitet. Und die im Frühjahr 2019 gegründete Union der arabischen Gemeinschaften, die den Anspruch erhebt, „die arabische Diaspora in der Türkei zu vertreten“, wurde vom regierungstreuen türkischen Journalisten Metin Turan und dem Libyer Mustafa Tarhuni ins Leben gerufen. Für Letzteren ist die türkische Regierung der „Verteidiger der unterdrückten Muslime in der Welt“.12

Des Weiteren startete die Türkei 2010 ein Programm zur Vergabe von Stipendien an ausländische Studierende, von denen viele aus dem Maghreb und dem Nahen Osten kommen. Mehrere Universitäten des Landes bieten Studiengänge auf Arabisch an.

Seit den 2000er Jahren ist die Regierung zudem Schirmherrin verschiedener Kulturveranstaltungen, wie der „Tage des arabischen Buchs und der arabischen Kultur“. Hinter diesen Initiativen steht oft Yasin Aktay. Er spricht Arabisch, ist Mitglied der AKP und enger Vertrauter von Erdoğan. Er gilt als zentraler Vermittler zwischen den arabischen Kreisen in Istanbul und dem Regime.

„Wir haben viel mit den Türken gemeinsam. Hier wollen so viele Araber leben, weil es hier nicht die postkoloniale Verachtung gibt, die wir im Westen erleben“, erklärt Esraa Shaikh, palästinensisch-jordanische Sprecherin des panarabischen Londoner Fernsehsenders Al-Hiwar, der vor einigen Jahren ein Büro in Istanbul eröffnet hat. Fragt man sie jedoch auch nach dem osmanischen Joch und den Gründen für den wachsenden arabischen Nationalismus Ende des 19. Jahrhunderts, schreckt Esraa Shaikh nicht davor zurück, die Geschichte umzudeuten: Die arabische Welt habe durch die Türken „mehr gewonnen als verloren, anders als beim europäischen Kolonialismus“.

Auch bei anderen Gesprächspartnern weckt die Vergangenheit keinen Groll, im Gegenteil. Viele tauchen gern in das osmanische Universum der türkischen Fernsehserien (Dizi) ein, die die ägyptischen und syrischen Serien ausgestochen haben.13 Von diesem Glanz profitiert auch Erdoğan. Er gilt als Gegengewicht zum Westen und Verteidiger der Palästinenser, die von den apathischen arabischen Potentaten schon lange im Stich gelassen wurden.

Nicht nur die Sympathisanten der Muslimbrüder, auch viele sunnitische nichtarabische Muslime sind stolz auf türkische Erfolge. Der 60-jährige Tunesier Rachid D. macht Urlaub in Istanbul und muss unbedingt in die Çamlıca-Moschee. Der Monumentalbau für 30 000 Gläubige wurde 2019 eingeweiht. „Wie die osmanischen Mo­scheen ein Erbe der Sultane sind, wird man sich in ein paar Jahrhunderten bei dieser Moschee an Er­doğan erinnern!“, schwärmt der Tourist.

Nicht alle in der arabischen Diaspora in Istanbul teilen diese Begeisterung. Ganz unabhängig von einem „türkisch-islamischen Traum“ locken vor allem das hohe Lebensniveau, gesetzt den Fall, man hat Arbeit, und ein relativ stabiles politisches Klima im Vergleich zu dem Chaos, das anderswo in der Region herrscht. Zudem bekommt man relativ leicht eine Aufenthaltsgenehmigung. Viele wählen das Exil in Istanbul aus Mangel an Alternativen. Neben den Dissidenten, Flüchtlingen oder Journalisten, die sich dem türkischen Regime auf die eine oder andere Art verbunden fühlen, nimmt die Stadt alle auf, denen ein Unglück widerfahren ist, seien es Schiiten, Sunniten, Islamisten oder Atheisten.

Ahmed Saadawi, Autor des Erfolgsromans „Frankenstein in Bagdad“14 , wollte sein Heimatland Irak nie verlassen. Doch während der Protestbewegung, die im Herbst 2019 das Land erschütterte und der sich auch Saadawi angeschlossen hatte, wurden mehrere seiner Mitstreiter ermordet oder von schiitischen Milizen verhaftet. Eines Tages warnte man ihn, er sei „der Nächste auf der Liste“. Die Türkei war der einzig erreichbare Zufluchtsort. „Der Westen ist den Irakern verschlossen. Der Libanon erteilt zwar Visa, aber dort wimmelt es von Anhängern der Hisbollah, die mit unseren Milizen unter einer Decke stecken“, erzählt Saadawi. In einem Café am Ufer des Marmarameers erzählt er von seinen Sorgen und der Hoffnung, in ein sicheres Land zu gelangen. In Istanbul fühlt er sich nicht wirklich sicher. „Ich kenne Mitglieder der irakischen Regierung, die hier Häuser besitzen und sich regelmäßig in Istanbul aufhalten. Die Türken öffnen ihre Türen für alle. Wenn die Milizen es wollen, können sie mich ohne Weiteres finden.“

Dank einem seit 2018 geltenden Gesetz kann jeder, der Immobilien für mehr als 250 000 Dollar kauft, einen türkischen Pass beantragen. Ein Segen für die Iraker. 2019 waren sie die größten Immobilieninvestoren in der Türkei, 2020 die zweitgrößten nach den Iranern. Auch unter wohlhabenden Arabern aus den Golfstaaten und anderen Ländern lässt die Nachfrage nicht nach. Im Immobiliensektor, aber auch im Medizintourismus kann man sich in Istanbul schon mit bescheidenen Türkischkenntnissen als Vermittler betätigen und saftige Provisionen kassieren. Amir Z., ein 32-jähriger Algerier mit Goldkette, hat sich selbst zum „Koordinator“ für Immobilienkäufer ernannt, und wenn seine Kunden sich zufällig auch noch Haare implantieren lassen wollen, weiß er auch dazu Rat: Es gibt in Istanbul hunderte Schönheitskliniken, die sich darauf spe­zia­li­siert haben.

Zwischen politischem Exil und schnellen Geschäften hat sich Istanbul zu einem einmaligen Raum panarabischer Begegnungen entwickelt. Oft gewinnen allerdings Chauvinismus und Rivalitäten die Oberhand, wie Hamza T., ein 30-jähriger Sänger aus dem marokkanischen Tanger, berichtet. Mit Melone auf dem Kopf und schwarzem Jackett, nach dem Vorbild amerikanischer Schnulzensänger, hoffte er in Istanbul auf eine „große Karriere“. Sechs Monate ist er in Bars und auf arabischen Hochzeiten aufgetreten. Auch der berühmte syrisch-kurdische Sänger Omar Suleyman hatte schließlich so angefangen. „Es war nicht leicht. Syrer und Iraker engagieren nämlich keine Marokkaner“, erzählt Hamza, während wir in einem jemenitischen Restaurant am Taksimplatz sitzen.

Viele Emigranten treffen hier auf ein ebenso vertrautes wie freizügiges Umfeld. Diese Offenheit löst zuweilen tiefgreifende Veränderungen aus. Abdulaziz D. sieht mit seinem Matrosenhemd und halblangem Haar zum Beispiel überhaupt nicht wie ein Islamist aus. Dabei war der 25-jährige Ägypter noch vor zwei Jahren einer der wildesten „Brüder“. „Die Muslimbrüder waren meine Familie“, erklärt er mit einem Bier in der Hand. Ein Jahr saß er deswegen in einem Kerker des Al-Sisi-Regimes. Nach seiner vorläufigen Freilassung im Sommer 2016 gelang ihm die Flucht nach Istanbul. „Alle meine Freunde waren schon hier.“

Die Bruderschaft organisierte ihm eine Wohnung und unterstützte ihn finanziell. Doch Abdulaziz erlag den Versuchungen der Großstadt. Im Laufe der Zeit fing er an, Alkohol zu trinken, hatte eine Freundin, rauchte. Trotz der Ordnungsrufe seiner Brüder wandte er sich allmählich von der Bewegung ab. „In Istanbul habe ich mich neu entdeckt. Auf der einen Seite gibt es die Moscheen, auf der anderen die Nachtbars. Diese Atmosphäre hat mich verwandelt. Heute weiß ich nicht mehr, wer ich eigentlich bin“, gibt er zu. „Vielen geht es so wie mir. Die ägyptischen Brüder, die hier leben, sind nicht mehr dieselben wie früher. Die Stadt verändert die Perspektive.“

Seine Freunde in Kairo sehen weiterhin die Sendungen der Brüder, die in Istanbul produziert werden. Er selbst hat ein Reisebüro aufgemacht, um die Nachfrage seiner Landsleute zu bedienen, „die im Fantasiereich der Serien leben“. Nachdem seine Visaanträge für die Niederlande und Kanada abgelehnt wurden, hat sich Abdulaziz damit abgefunden, hier zu bleiben. Gegenwärtig fürchtet er sich allerdings wie andere seiner Landsleute vor den Folgen der türkisch-ägyptischen Annäherung und davor, dass die Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung oder sein Einbürgerungsantrag abgelehnt werden.

Die Anziehungskraft der türkischen Metropole reicht sogar bis ins verregnete Brüssel. Dort träumt die Mathematikstudentin Yasmine G. davon, in Istanbul zu leben. Die 22-jährige Belgisch-Marokkanerin lernt eifrig die türkische Grammatik, und wenn sie ihr Diplom in der Tasche hat, wird sie „für ein Jahr hingehen, zur Probe“. Es sei zwar nicht immer leicht, in Belgien Muslima zu sein, aber sie könne „ihre westlichen Anteile“ nicht verleugnen. Im Unterschied zum Land ihrer Vorfahren, „wo man unter den strengen Sitten in die Knie geht“, scheint ihr die Türkei ein ideales Gleichgewicht zwischen Islam und Moderne zu bieten.

Fasziniert vom osmanischen Erbe

Wie viele andere hat sich Yasmine von den Dizi und Schauspielern wie Kıvanç Tatlıtuğ und Burak Özçivit verführen lassen. Neben den Serien mag die Studentin auch die Welt der Instagram-Stars des Muslimchic mit Hidschab und Handtasche. Einer dieser Stars, Assiatique, in Bordeaux geboren und mit türkisch-marokkanischen Wurzeln, studiert in Istanbul und hat mehr als 120 000 Follower. Wie zum Beweis, dass die Türkei bei den Europäern mit maghrebinischen Wurzeln in Mode ist, singen die französischsprachigen Rapper Soolking und L’Algérino manche Refrains auch auf Türkisch.

Auch den franko-algerischen Politiker Mourad Ghazli zog es in die Türkei. Früher war er im Rassemblement pour la République (RPR) von Jacques Chirac und in der Union des dé­mo­crates et indépendants (UDI) aktiv, aus der er 2016 ausgeschlossen wurde. Ein Jahr später zog er an die türkische Südküste, um in Alanya in das Geschäft mit dem islamischen Tourismus einzusteigen. Diese organisierten „Halal-Reisen“, die Aufenthaltsorte in der Nähe von Moscheen und Geschlechtertrennung am Strand und Pool anbieten, erleben einen großen Aufschwung und ziehen immer mehr europäische Muslime an.15

In den sozialen Medien lobt Ghazli unermüdlich den türkischen Präsidenten. Erdoğan ist bei den Euro-Maghrebinern ebenso beliebt wie in der arabischen Welt. „Die Türkei ist das einzige muslimische Land, das sich gegenüber dem Westen behauptet. Als Muslimin bewundere ich das“, verkündet Selma Ajam, 29, Franko-Algerierin aus Valence. Die propalästinensische Aktivistin lebt heute in Istanbul, wo sie in den regierungstreuen Medien unzählige Interviews gibt. „In Frankreich ist mein Kopftuch ein Problem. Deswegen bin ich weggegangen. Hier habe ich das Gefühl, dass alles für mich möglich ist“, sagt die Tochter des Muez­zins der Moschee von Valence. Ihre sechsjährige Tochter ist bisher an einer französischen Onlineschule angemeldet. Später wird Ajam sie jedoch in die Schule des Viertels schicken.

Für Erdoğan sind solche Geschichten ein Segen. Der starke Mann der Türkei präsentiert sich nicht nur als größter Verteidiger der palästinensischen Sache, sondern widmet sich auch voller Inbrunst seinem Kampf gegen die Diskriminierung der Muslime, indem er das Schicksal „der unterdrückten muslimischen Minderheiten in Europa“ anprangert. Seit einigen Jahren organisiert die türkische Regierung Foren und Diskussionen zur Islamophobie und will diesen Begriff in internationalen Organisationen wie der OSZE, dem Europarat und der Unesco ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Seit 2015 veröffentlicht der regimetreue Thinktank Seta einen jährlichen „Euro­pean islamophobia report“, der muslimfeindliche Handlungen in mehreren europäischen Ländern auflistet.

Die Türkei als Zufluchtsort für Muslime, die sich von Europa abwenden? Nachdem Frankreich im November 2020 das Verbot der NGO BarakaCity angekündigt hatte, bat deren Präsident Idriss Sihamedi per Twitter um „politisches Asyl bei Präsident Erdoğan“. Im Mai 2021 verkündete die NGO, sie habe die Basis ihrer humanitären Tätigkeit in die Türkei verlegt. Im Oktober 2020 gründete David Bizet, genannt Davut Paşa, ein zum Islam konvertierter Franzose und eifriger Verteidiger Erdoğans, die Facebook-Gruppe „Émigrer en Turquie“. Die Gruppe, die sich an französische Muslime wendet, „die in die Türkei ziehen wollen, um in Frieden den Islam zu praktizieren“, hat rund 2000 Mitglieder.

Anders als in Katar oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die sich dank ihrer Erdöl- und Erdgasvorkommen als wahres Eldorado darstellen, das auch qualifizierte arabische Arbeitskräfte anzieht, bleibt die Perspektive für die Euro-Maghrebiner in der Türkei ungewiss. Wenn sie sich auf der Suche nach ihrer Identität in Erdoğans Reich auf Dauer niederlassen wollen, werden sie früher oder später mit der Realität eines Landes konfrontiert, das von ökonomischen Schwierigkeiten und politischen Unwägbarkeiten geprägt ist.

1 Siehe Ariane Bonzon „Exil in Gaziantep“, LMd, Mai 2020.

2 Siehe Robyn Creswell, „City of Beginnings: Poetic Modernism in Beirut“, Oxford und Princeton (Princeton University Press) 2019.

3 Siehe „The Dissident“, Dokumentarfilm von Bryan Fogel, 2020.

4 Siehe Hamit Bozarslan, „Heurs et malheurs de la politique arabe de Turquie“, in: M’hamed Oualdi, Delphine Pagès-El Karoui und Chantal Verdeil (Hg.), „Les Ondes de choc des révolutions arabes“, Presses de l’Institut français du Proche-Orient (IFPO), Beirut 2014.

5 Mohanad Hage Ali, „Exiles on the Bosphorus“, Carnegie Middle East Center, Beirut, 10. März 2020.

6 Amberin Zaman und Dan Wilkofsky, „For Syria’s opposition activists, Turkey’s ‚best of the bad‘“, Al Monitor, 10. September 2020.

7 Franck Mermier, „À Istanbul, une scène médiatique sous influence“, Orient XXI, 4. Januar 2021

8 Laurent Bonnefoy und Khaled Al-Khaled, „La télévision yéménite en temps de ramadan“, Orient XXI, 24. Mai 2019.

9 „Turkey asks Egyptian media to limit criticism: TV channel owner“, al-Dschasira, 19. März 2021.

10 Franck Mermier, „Les fondations culturelles arabes et les métamorphoses du panarabisme“, Arabian Humanities, 2016.

11 „Turkey asks Egyptian media to limit criticism …“, siehe Anmer­kung 9.

12 Haberler.com, 1. Februar 2020 (Türkisch).

13 Siehe Timour Muhidine, „Propaganda, Soaps und Horrorstreifen“, LMd Edition Nr. 29 Türkei, 2021.

14 Ahmed Saadawi, „Frankenstein in Bagdad“, Deutsch von Hartmut Fähndrich, Berlin (Assoziation A) 2019.

15 Marion Fontenille, „En Turquie, les hôtels „muslim friendly“ font le plein de touristes“, Slate.fr, 18. Juli 2018.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Killian Cogan ist Journalist.

Man spricht wieder Arabisch

Arabisch hat in der Türkei eine lange und wechselvolle Geschichte. In der Osmanenzeit prägte es stark die türkische Alltags- und Bildungssprache. Die Eliten der Hohen Pforte parlierten in einem Mischmasch aus Türkisch, Arabisch und Farsi (Persisch) und Osmanlıca, das türkische Arabisch, schrieb man mit arabischen Buchstaben. Abgesehen von ihrer religiösen Bedeutung als heilige Sprache des Koran galt Arabisch, wie Farsi, als klassische Sprache, die – wie im Westen Griechisch und Latein – an den höheren Schulen unterrichtet wurde.

Ihren privilegierten Status verlor sie 1923 mit der Gründung der türkischen Republik. Mustafa Kemal (Atatürk) erließ eine Reihe von Sprachreformen, um das Türkische zu „entarabisieren“. 1924 wurden auf sein Geheiß sogar die Reli­gionsschulen (Medrese) geschlossen, die Zentren des Arabischen waren. Vier Jahre später wurde das lateinische Alphabet eingeführt, und immer mehr arabisch-persische Begriffe wurden durch turksprachige Wörter ersetzt. An den normalen Schulen wurden Farsi und Arabisch aus den Lehrplänen gestrichen. Nur an den neuen Imam-Hatip-Schulen, die im staatlichen Auftrag die Ausbildung der Imame übernehmen sollten, stand das Koran-Arabisch noch auf dem Lehrplan.

1930 startete Atatürk außerdem eine große linguistische Assimilationskampagne, die sich gegen die arabischsprachige Minderheit in den südlichen Provinzen Hatay und Mardin und andere nichttürkischsprachige Minderheiten wie Kurden und Tscherkessen richtete.

1932 erfasste die Türkisierung schließlich auch die spirituellen Praktiken: Atatürk führte den türkischen Gebetsruf ein – eine Premiere in der islamischen Welt. Und durch die Übersetzung des Korans ins Türkische wollte die kemalistische Elite auch das Gebet in der Nationalsprache fördern. Diese Bemühungen waren jedoch vergeblich, das Arabische wurde weiterhin verwendet. 1950 machte die konservative Regierung von Adnan Menderes Atatürks Erlass wieder rückgängig, und die Muezzins durften offiziell wieder auf Arabisch zum Gebet rufen.

Bei der intellektuellen Elite geriet die zuweilen sogar stigmatisierte arabische Sprache im Laufe der Jahre immer mehr in Vergessenheit. Sie lebte nur noch in ein paar tausend Wörtern fort, die bis heute das Türkische bereichern. Praktizierende Muslime und alle, die eine religiöse Ausbildung erhielten, sind vor allem durch die auswendig gelernten Suren mit dem Koran-Arabischen vertraut.

Seit dem Machtantritt der konservativ-islamischen AKP 2002 hat die arabische Sprache ihr altes Ansehen zurückgewonnen. Die konservative islamische Elite, die ideologisch mit den Kemalisten gebrochen hat, benutzt ganz bewusst und mit einer gewissen Nostalgie für das Osmanische Reich möglichst viele arabische Ausdrücke.

Präsident Erdoğan hat wiederholt öffentlich bedauert, dass die jungen Generationen die arabischen Grabinschriften „ihrer Ahnen“ nicht lesen können. Im Januar 2021 bezeichnete der Staatschef die Sprachreform von 1928 gar als „historisches Massaker“. Im Gegensatz zur laizistischen politischen Führung von damals, für die Arabisch ein Synonym für Obskurantismus war, beherrschen viele AKP-Kader Arabisch und geben auch gern damit an. Manche sind ohnehin im arabischsprachigen Südosten aufgewachsen, wie Emine Erdoğan, die Ehefrau des Präsidenten, oder Yasin Aktay, einer seiner wichtigsten Berater; andere haben es auf Sprachreisen im Ausland gelernt.

Die Zahl der religiösen Imam-Hatip-Schulen ist in den letzten 20 Jahren explodiert. 2016 kehrte Arabisch auch in die staatlichen Schulen zurück und an den Universitäten wurden zahlreiche arabischsprachige Institute eingerichtet. Sie lehren Theologie, islamisches Finanzwesen oder internationale Beziehungen und wenden sich an türkische wie arabische Studierende. Außerdem wurden Partnerschaften mit einigen Universitäten der arabischen Welt gegründet, vorneweg Jordanien und Sudan. Viele Studierende entscheiden sich aus religiösen oder ideologischen Gründen für diese Institute, andere hoffen, von den intensivierten Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und der arabischen Welt zu profitieren.

⇥Killian Cogan

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Killian Cogan