Emanzipiert in Belutschistan
von Charlotte Wiedemann
Belutschistan ist das Armenhaus Irans. Die Region im äußersten Südosten des Landes gilt bei Iranern aus Teheran oder Isfahan als zurückgeblieben, wild und gefährlich.
Offiziell heißt die Provinz „Sistan und Belutschistan“, denn es leben hier auch schiitische, Persisch sprechende Sistaner. Ganz überwiegend ist dies jedoch die Heimat von etwa 2,5 Millionen Belutschen. Als Sunniten sind sie gegenüber dem Zentralstaat in doppeltem Sinn Minderheit, ethnisch wie konfessionell, und ihre Sprache verbindet sie mit den pakistanischen Belutschen jenseits der Grenze. Ausgerechnet in dieser besonders konservativen Region tun sich nun seit einigen Jahren junge Frauen hervor, die in die Politik streben und ihre Community verändern wollen.
Im Straßenbild Belutschistans deutet bislang wenig auf den Wandel hin: Männer dominieren den öffentlichen Raum. Meist tragen sie wie Pakistaner ein knielanges Hemd zur weiten Hose; Frauen sind mit dem Tschador oder anderen großen Tüchern verhüllt, fast nirgends ein Kurzmantel, wie sonst bei Iranerinnen verbreitet. In manchen Ortschaften ist draußen kaum eine Frau zu sehen. Doch die Fassade eines unberührten Patriarchats täuscht.
Vor acht Jahren war Samieh Baluchzehi die Erste, die dem Typ der neuen Belutschin ein Gesicht gab, das auf den Titelseiten Teheraner Zeitungen erschien. Die 26-Jährige war in einer Kleinstadt Bürgermeisterin geworden. Nach dem Studium in Teheran hatte sich die Umweltingenieurin entschieden, in ihre Heimat zurückzukehren, um dort, wie sie sagte, den Frauen Hoffnung und Selbstvertrauen zu geben. „Ich breche den Bann, der so lange auf uns lag.“ Vier Jahre später, 2017, wurde Baluchzehi wiedergewählt, und nun war das Phänomen der neuen Belutschin bereits ein Trend: Auf einen Schlag kamen über 400 Frauen in die Räte von Städten und Dörfern, mehr als in jeder anderen Region Irans.
In den Kommunen werden die Bewerber, anders als bei nationalen Wahlen, nicht vom Wächterrat vorsortiert.1 Die Wahlbeteiligung ist in der Regel hoch, denn die Dorf- und Kleinstadträte spielen in ländlichen Regionen eine wichtige Rolle: Hier werden abseits des sonst üblichen Machtkampfs zwischen Hardlinern und Moderaten Alltagsfragen erörtert.
Die Frauen, die in Belutschistan die öffentliche Arena betreten, fordern gleichwohl eine doppelte Machtstruktur heraus, in der patriarchales und tribales Denken immer noch eng verflochten sind. Die Kandidatinnen, oft junge Lehrerinnen, müssen sich nicht nur aus der Dominanz der Familie lösen, sondern quer zu den Linien verwandtschaftlicher Interessen ein Bündnis mit weiblichen und jungen Wählern schmieden. Sie müssen also andere Frauen davon überzeugen, nicht mehr für die männlichen Verwandten aus dem eigenen Klan zu stimmen.
Mancherorts haben Frauen die Dorfräte komplett übernommen. Im abgelegenen Afzalabad wurde die 37-jährige Maryam Ahmadzehi, die schon seit elf Jahren Bürgermeisterin ist, zu einem Modell weiblicher Effizienz: Sie ließ in dem vorher vernachlässigten Ort Straßen pflastern, Häuser ans Stromnetz anschließen und Verwaltungsakte vereinfachen. Nebenher machte die Mutter von vier Kindern ihren Master in Industriemanagement an einer 120 Kilometer entfernten Hochschule.
Ahmadzehi sagt, sie träume davon, dass irgendwann eine Meritokratie das Patriarchat ersetze. Frauen wie sie passen wenig in die geläufige westliche Vorstellung, nach der Iranerinnen entweder religiöse Staatstreue im Tschador sind oder säkular-feministische Oppositionelle. Die neuen Belutschinnen revolutionieren ihr Umfeld im Tschador, sie trauen sich viel zu, sind gebildeter und motivierter als viele Männer und auch im Umgang mit dem iranischen Zentralstaat geschickter als die „rish sefid“, die bisher in den Communitys tonangebenden „Weißbärte“.
Der Widerstand aus dem traditionellen Patriarchat sei eigentlich erstaunlich gering, beobachtet Narjes Khatun Barahoi, eine aus der Region stammende Anthropologin. In einigen Gegenden seien gar keine Männer mehr bei Gemeinderatswahlen angetreten – weil sie nicht gegen eine Frau verlieren wollten! Für Barahoi sind auch solche Ausweichmanöver Indikatoren eines generellen Wandels: „Die Belutschen sind eine Gesellschaft im Übergang. Die Gebildeten möchten heute lieber als Bürger gelten, nicht mehr als Mitglied eines Stamms oder Klans.“
Die Emanzipation der Belutschinnen ist allerdings kein bloßer Akt des Willens, sondern wird auch durch pure Not vorangetrieben, durch das materielle und psychosoziale Elend. Immer mehr Frauen übernehmen die Rolle der Ernährerin der Familie, weil ihre Männer dafür schlicht ausfallen: Viele, die im Drogenschmuggel zeitweise ein Einkommen finden, erliegen der Sucht und siechen dahin. Und die Landwirtschaft, Domäne von Männerarbeit, ist nach zwei Jahrzehnten zunehmender Dürren vielerorts verkümmert.
In Ghasemabad ist eine Kooperative von mehr als hundert Frauen nun das Rückgrat der Dorfökonomie: mit der Produktion kunstvoller Stickereien. Die Initiative ging von Zeinab Noruzi aus, die einst als erste Frau aus dem Ort studierte. Mit der Kooperative hat sie dem Kulturerbe von Ghasemabad eine moderne Form gegeben: Noruzis Tante Mahtab war zur Schahzeit von Dorf zu Dorf gezogen, um die Vielfalt belutschischer Muster zu dokumentieren und die althergebrachte Stickkunst wiederzubeleben. Mahtab wurde berühmt, Kaiserin Farah Diba trug ihre Kreationen auf weißer Seide in den 1960er Jahren bei Staatsempfängen.
Heute sind die geometrischen Muster aus Belutschistan als Ethno-Look bei wohlhabenden Teheranerinnen erneut in Mode; die Stickerei bringt etwas ein, in der Kooperative verdient jede Frau etwa 150 Euro im Monat, das ist viel in dieser Gegend. Zeinab Noruzi, die den Verkauf organisiert, händigt den Stickerinnen das Geld so aus, dass es nicht in die Hände der Männer gelangen kann, zumal, wenn sie drogensüchtig sind. „Für die Frauen ist dies ein Beruf, während die meisten Männer keinen haben“, sagt sie. Die hochwertige Nadelarbeit fungiert in vielen Orten Belutschistans als Netzwerk, um das herum sich weibliche Interessen organisieren: Bürgermeisterinnen und Gemeinderätinnen wurden mit dem Auftrag gewählt, für die Vermarktung der Stickereien zu sorgen und die Produzentinnen gegen billigere Konkurrenzware aus Pakistan und Indien abzuschirmen.
Zeinab Noruzi ist wie ihre berühmte Tante unverheiratet. Frauen, die etwas verändern wollten, hätten dafür keine Zeit, deutet sie an. Neben der Kooperative leitet sie noch eine Bibliothek, ein Refugium für wissbegierige Dorfmädchen, die sich auf diese Weise häuslichen Verpflichtungen entziehen. Jungen, sagt Frau Noruzi, kämen nur, wenn sie etwas Bestimmtes für die Schule bräuchten; Mädchen kämen immer. An diesem Vormittag sind es Schülerinnen aus einem Kurs für besonders Begabte; sie haben schulfrei wegen eines Sandsturms, der an den Fenstern der Bibliothek graue Staubwolken vorbeitreibt. Die Mädchen erzählen von ihren Lieblingslektüren, und ganz selbstverständlich wollen alle studieren, das ist für ihre Generation kein verstiegener Traum mehr.
Neben Bildung, persönlichem Ehrgeiz und den ökonomischen Erfordernissen gibt es noch eine weitere Ursache für das Vordringen der neuen Belutschinnen: die Politik von Präsident Hassan Rohani. Seine Regierung berief erstmals in der Geschichte der Islamischen Republik drei Belutschinnen auf Gouverneursposten in strategisch wichtigen Grenzregionen. Eine von ihnen, die 46-jährige Homeira Rigi, ist mittlerweile Botschafterin in Brunei, als dritte Frau auf einem derartigen Posten und als erste Sunnitin. Rigis Karriere sei ein symbolischer Durchbruch gewesen, sagen Belutschinnen.
Das Kapitel Rohani ist bald beendet; am 18. Juni wird sein Nachfolger gewählt, der vermutlich aus dem rechten Lager kommen wird. Der moderate Rohani hatte – obwohl schiitischer Geistlicher – im sunnitischen Belutschistan Zustimmungswerte weit über dem Landesdurchschnitt, ähnlich wie in den kurdischen Gebieten, denn er weckte bei den Minderheiten Hoffnungen auf mehr bürgerliche Gleichberechtigung. Ganz überwiegend wurden die Erwartungen enttäuscht, doch bei den Belutschinnen hat Rohanis Amtszeit immerhin Spuren hinterlassen.
Durch Ermutigung aus Teheran wurden erstmals Frauen auf Beamtenposten berufen, die einem Landratsamt vergleichbar sind. Eine Juristin, die als Erste ein solches Amt übernahm, erinnert sich amüsiert, welch einen Schreck ihre Berufung in der örtlichen Männerwelt auslöste: nicht bei den einfachen Leuten, sondern bei den belutschischen Lokalpolitikern. „Sollen wir etwa bei offiziellen Anlässen hinter einer Frau hergehen?“, fragten sie entsetzt. Doch sie gewöhnten sich daran. „Die meisten Hindernisse für Frauen kommen aus der Tradition, nicht der Religion“, sagt die Landrätin. Für den Umstand, dass in der Bevölkerung weibliche Führungskräfte zunehmend beliebt seien, hat sie folgende Erklärung: „Frauen gelten als weniger risikofreudig und darum auch als weniger anfällig für Korruption.“
Auf die Frage, was die Bürger von ihr erwarten, antwortet eine Landrätin nur: „Wasser!“ Sie ist zuständig für gut hundert von Dürre geplagte Dörfer. Datteln waren das Hauptprodukt, nun vertrocknen die Haine. Einige Dörfer wurden wegen des Wassermangels umgesiedelt; andere müssen mit Tanklastwagen versorgt werden. Die Landrätin repräsentiert den Staat, von ihr werden Lösungen erwartet.
Diese hohen Beamtinnen tragen keine Turnschuhe zum Tschador wie die jungen Bürgermeisterinnen, aber sie veredeln ihre schwarze Erscheinung durch belutschische Stickereien und elegante Sonnenbrillen. Manche stammen aus der örtlichen Oberklasse, aus Familien, die früher den halbfeudalen Titel „Khan“ im Namen trugen, was sie seit der Islamischen Revolution nicht mehr dürfen. Manche ihrer Vorfahren residierten in Lehmburgen, von denen heute nur noch Ruinen übrig sind. Diese Frauen hätten die finanziellen Möglichkeiten, Iran zu verlassen, aber sie haben sich anders entschieden. Der respektable Familienname allein trägt sie gleichwohl nicht weit; Respekt für ihr Geschlecht und für sich selbst müssen sie durch Leistung erringen.
So rechtschaffen und motiviert die neuen Belutschinnen sein mögen: Was sie bewirken können, bleibt angesichts der Armut und des sozialen Elends begrenzt. Im Februar gab es Tote, als die iranischen Sicherheitskräfte gegen Benzinschmuggler an der Grenze vorgingen2 ; verzweifelte Proteste flammten auf. Wer allerdings ausschließlich auf Repression und Diskriminierung durch den Zentralstaat blickt, übersieht leicht, was sich innerhalb der Minderheitencommunitys verändert – nicht nur bei den Belutschen, doch bei ihnen besonders auffallend.
„Früher war unsere Rolle wie bei den Nomaden, die Frau war für das Zelt, für das Häusliche zuständig. Jetzt machen Frauen ihren Doktor.“ Eine städtische Angestellte, die die Dimension des Neuen derart umreißt, lässt ihre Englischkenntnisse nur erkennen, wenn der Chef nicht in der Nähe ist; sie will ihn nicht öffentlich demütigen. Als er hinzutritt, rafft sie den Tschador unter dem Kinn eng zusammen und steht bescheiden am Rand. Vorher hatte sie noch eine belutschische Fabel erzählt, in der die Heldin ihre Siege stets durch List erringt.
Welche Spannungen der Umbruch mit sich bringt, zeigen solche kleinen Vorkommnisse: In der Stadt Khash ist eine junge Frau nun die Personalchefin von vier Dutzend Angestellten. Nicht dass die Männer dagegen etwas einwenden würden. Aber es entsteht ein fühlbares atmosphärisches Unbehagen, wenn sich die Aufmerksamkeit von Besuchern allzu lange ausschließlich auf eine Frau konzentriert.
In einer Töpferei, die ganz in den Händen weiblicher Beschäftigter ist, kann man am frühen Abend folgende Szene erleben: Der Ehemann einer Frau, die mit ihrer Arbeit die Familie ernährt, tritt in Erscheinung und schreit herum, sie solle endlich nach Hause kommen. Offensichtlich sind seine Nerven durch Drogen zerrüttet. Sie ignoriert seinen Auftritt.
Eine Bürgermeisterin gelangte in ihr Amt, weil sich im Gemeinderat zwei rivalisierende Männerklans eher auf sie als auf einen der ihren einigen konnten. Nun muss die junge Frau für jede Entscheidung die Streithälse erneut zu einer Einigung bewegen; das zermürbt. Aber wenn sie das Amt vorzeitig hinwerfen würde, könnte das allen Frauen zur Last gelegt werden, sagt sie. Ein universeller Moment in der belutschischen Provinz.
Charlotte Wiedemann ist Journalistin und Autorin. 2019 erschien in aktualisierter Fassung „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“, München (dtv).
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