10.06.2021

Indiens Leid, Modis Propaganda

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Indiens Leid, Modis Propaganda

Nach offiziellen Angaben sind in Indien bislang über 350 000 Menschen im Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben. Die tatsächliche Opferzahl dürfte allerdings um ein Vielfaches höher liegen. Anstatt einer vorausschauenden Gesundheitspolitik betreibt die hindunationalistische Regierung Imagepflege und Pressezensur.

von Samrat Choudhury

Tammam Azzam, Portrait, 2019, Papiercollage auf Holz, 100 x 70 cm
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Welch furchterregende Dimensionen die Coronapandemie in Indien erreicht hatte, wurde zuerst in den sozialen Medien sichtbar – und zwar in Form von Todesanzeigen. Mich erreichte Anfang April über die Whatsapp-Gruppe meiner ehemaligen College-Clique die Nachricht, dass einer von uns gestorben war. Er war Mitte 40 gewesen und vier Tage zuvor positiv getestet worden. Als sich sein Zustand plötzlich verschlechterte, hatte seine Familie versucht, ihn schnell in ein Krankenhaus zu bringen. Aber in keiner einzigen Klinik gab es ein freies Bett. Er starb auf der Straße, in seinem Auto. Das geschah in dem verhält­nismäßig wohlhabenden Bundesstaat ­Gujarat im Westen Indiens, der Heimat von Premierminister Narendra Modi.

Damals, Anfang April, schien sich in ganz Indien kein Mensch – einschließlich des Regierungschefs – der Tatsache bewusst zu sein, dass die Krankenhäuser bereits mit Covid­pa­tien­ten überfüllt waren. Das Land war mit anderen Dingen beschäftigt. In fünf Bundesstaaten standen Wahlen an. Und der Premierminister und sein Vize, Innenminister Amit Shah, befanden sich auf Wahlkampftour.

Die zentrale Wahlkommission hatte in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen, den Urnengang in dem am heftigsten umkämpften Bundesstaat Westbengalen über acht Etappen und einen ganzen Monat zu strecken. Für Modi und Shah war dieser Bundesstaat besonders wichtig. Westbengalen mit der Metropole Kalkutta wird von der Opposition regiert, sie wollten dort unbedingt eine Regierung ihrer eigenen Partei, der hinduistischen BJP (Bharatiya Janata Party), installieren. Und so fanden tagtäglich Wahlkundgebungen statt, bei denen sich wie bei einem Rockkonzert auf engstem Raum zehntausende Menschen drängten, die meisten ohne Masken.

Noch größere Menschenmengen kamen aus anderem Anlass zusammen: Seit Januar wurde in der Stadt Haridwar im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand ein gigantisches religiöses Fest begangen, das Kumbh Mela (Fest des Kruges). Zu diesem von der regionalen wie der zentralen BJP-Regierung geförderten Ereignis, das alle drei Jahre stattfindet, kamen mehrere Millionen gläubige Hindus und zahlreiche Gurus und Sekten aus ganz Indien.

Das Fest zieht sich über mehrere Monate hin. Einige Tage gelten als besonders glückverheißend für die Teilnehmer. An einem dieser Tage, dem 13. April dieses Jahres, strömten schätzungsweise 3,5 Millionen Menschen nach Haridwar, um im heiligen Fluss Ganges ihr schlechtes Karma abzuwaschen. Sie hätten es besser ein Jahr später tun sollen, mit weniger unglückseligen Folgen. Denn eigentlich war das Kumbh Mela erst im Jahr 2022 fällig, aber auf den Rat von Astrologen hin hatte die Regierung den Termin vorverlegt. Am 21. März schaltete die Regierung in den Zeitungen sogar noch eine ganzseitige Anzeige, in der Pre­mier­minister Modi zur Teilnahme an dem Fest aufrief, das er als „sauber“ und „sicher“ anpries.1

All das wurde in den Medien kaum kritisiert, es gab auch keine Meldungen, dass bereits eine zweite Coronawelle, verstärkt durch eine lokale, bereits im Oktober 2020 entdeckte Mutante des Virus, begonnen hatte. Die Schlagzeilen in Printmedien und Fernsehsendern lieferten Themen wie die Wahlen. Die gefährlichen Versammlungen gigantischer Menschenmassen wurden dabei kaum angesprochen.

Im Monat zuvor hatten sich die TV-Kanäle und Zeitungen – bis auf ganz wenige Ausnahmen – vor Begeisterung überschlagen, als in Ahmedabad, Bundesstaat Gujarat, die Cricketteams von Indien und England zweimal aufeinandertrafen. Kurz zuvor war die zum größten Cricketstadion der Welt mit 110 000 Zuschauerplätzen umgebaute Arena auf den Namen Narendra Modis umgetauft worden. Beschlossen hatte das der nationale Cricketverband, dessen Generalsekretär, Jay Shah, der Sohn von Modis Vizepremier ist.

Seit einigen Jahren betrachtet es der allergrößte Teil der Mainstream-Medien als Hauptaufgabe, Herrn Modi und seine BJP zu preisen und deren politische Rivalen zu attackieren. Auch der gesamte Regierungsapparat einschließlich des diplomatischen Corps ist damit beschäftigt, Modis Image aufzupolieren.

Öffentliche Kritik an Handlungen oder Versäumnissen der Regierung gilt in Indien nicht mehr als selbstverständlicher Teil des demokratischen Lebens. Wer den großen Führer zu kritisieren wagt, wird als antinational oder Antihindu oder beides abgestempelt. JournalistInnen können leicht ihren Job verlieren, wenn sie unbequeme Fragen stellen, wozu sie allerdings auch kaum Gelegenheit haben: Modi hat in seiner siebenjährigen Amtszeit noch nicht eine einzige Pressekonferenz abgehalten. Zudem müssen sich Medienunternehmen, die als BJP-unfreundlich gelten, auf finanziellen Druck und Untersuchungen der Steuerfahndung gefasst machen.

Narendra Modi und seine Partei pflegen einen militanten Hindunationalismus. Die meisten Medienunternehmer und ihre journalistischen Angestellten produzieren, um sich nicht den Zorn der Regierung zuzuziehen, am laufenden Band Beiträge über die Größe Indiens und die Größe Modis. Ein wichtiges Thema des letzten Jahres war, wie bewundernswert der große Führer des großen Landes die große Pandemie bewältigt habe. Als die BJP am 21. Februar im Parlament eine Erklärung verabschiedete, in der man Modi dafür pries, dass er Indien vor der ganzen Welt als „stolze und siegreiche Nation im Kampf gegen Covid-19 präsentiert“ habe, wurde das von den Medien wie eine göttliche Wahrheit verkündet.

Dieselben Medien verbreiteten am 7. März die Behauptung des Gesundheitsministers Harsh Vardhan, In­dien habe „die Endphase der Covidpandemie“ erreicht. Allerdings könne das Land nicht sicher sein, „solange das neuartige Coronavirus weiterhin in armen und unterentwickelten Ländern umgeht“. Doch zum Glück habe sich Indien, so der Gesundheitsminister, unter Modis Führung zur „Apotheke der Welt“ entwickelt und 55,1 Millionen Dosen Covid-19-Impfstoff an 62 Länder geliefert.

Zu solch verfrühtem Siegesgeschrei hatte die Regierung der Rückgang der ersten Coronawelle verleitet, zumal seit Mitte Januar bereits die ersten Impfstoffe zum Einsatz kamen. Höchste Priorität hatten dabei Ärzte und Pflegepersonal, danach folgte die Altersgruppe über 60 Jahre. Jeden Tag wurden 1,5 Millionen Inderinnen und Inder geimpft, entweder mit dem Impfstoff von AstraZeneca, der vom einheimischen Serum Institute of India in Lizenz unter dem Namen Covishield hergestellt wird, oder mit Covaxin, einem in Indien entwickelten und vom Unternehmen Bharat Biotech produzierten Impfstoff.

Das Problem war nur, dass die indische Regierung keine ausreichenden Mengen von Impfstoff vorbestellt hatte, um die eigene Bevölkerung von rund 1,4 Millionen auch nur annähernd zu versorgen. Bis Ende Februar 2021 hatte das Serum Institute of India, der größte Impfstoffhersteller der Welt, von der Regierung lediglich Aufträge über 21 Millionen Dosen erhalten.2 Und Bharat Biotech hatte in der ersten Impfphase (für medizinisches Personal) nur 5,5 Millionen Dosen Covaxin geliefert.3

Die anfängliche Begeisterung – und der nationale Stolz – der Modi-Regierung galt ausschließlich Covaxin. Die einheimische Impfstoff wurde bereits vor Abschluss der Testphase III, also der klinischen Tests, für den Einsatz freigegeben. Den Impfwilligen wurde mitgeteilt, dass sie nicht zwischen Covi­shield und Covaxin wählen konnten, doch wer mit Covaxin geimpft wurde, musste eine Einverständniserklärung unterzeichnen, in der auch eine finanzielle Entschädigung für unerwünschte Nebenwirkungen zugesagt wurde, falls diese kausal auf das Impfmittel zurückgeführt werden konnten. Dieses Formular wurde später wieder aus dem Verkehr gezogen.

Mit der allmählich schwindenden Impfskepsis, die zum Teil auf verständlicher Angst vor Nebenwirkungen beruhte, bemühten sich immer mehr Menschen um eine Impfung. Das aber führte bei Privatkliniken und staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu gravierenden Engpässen. Wie sich herausstellte, konnte Covaxin bei weitem nicht in den erforderlichen Mengen hergestellt werden. Und die Regierung hatte zugelassen, dass Indien zig Mil­lio­nen von Dosen exportierte, aber versäumt, ausreichende Vorräte für die eigene Bevölkerung zu sichern. Wäre das Impftempo erhöht worden, bevor die zweite Welle begann, hätte man viele Menschenleben gerettet. Aber das geschah nicht.

Den ganzen April und Mai hindurch suchten Menschen – meist über Twitter – verzweifelt nach Krankenhausbetten und Sauerstoffbehältern. In den Kliniken starben Patienten, weil der Sauerstoff für die Beatmungsgeräte ausgegangen war. Das kam selbst in der Hauptstadt Neu-Delhi vor, wo in zwei Krankenhäusern insgesamt 31 Menschen aus Mangel an Sauerstoff starben. Einige Fälle landeten sogar vor Gericht, wo die Behörden als Todesursache zwar „Atemstillstand“ nannten, aber nicht zugaben, dass der Stillstand auf fehlende Sauerstoffversorgung zurückzuführen war.

Zu normalen Zeiten können sich viele Menschen in Indien mittels Geld und Beziehungen gegen die Mängel des nationalen Gesundheitssystems absichern, indem sie sich Zugang zu den teuren privaten Versorgungseinrichtungen erkaufen. Aber dieses Mal war auch das manchmal nicht mehr möglich. So starb Ashok Amrohi, ein ehemaliger Botschafter Indiens, in seinem Auto auf dem Parkplatz einer luxuriösen Privatklinik in Gurugram bei Neu-Delhi. Wie seine Familie berichtete, hatte er dort fünf Stunden lang auf seine Aufnahme in das Krankenhaus gewartet.

Was die ärmeren Menschen in Gegenden fern der Metropolen durchmachen mussten, kommt erst allmählich ans Licht. Einige der in Regionalsprachen erscheinenden Zeitungen halten sich inzwischen nicht mehr an das ungeschriebene Gesetz, keine „negativen“ Meldungen zu bringen, nachdem Mitglieder ihrer Redaktion oder Fami­lien­angehörige an Covid-19 gestorben sind. Fast täglich gibt es Berichte, Fotos und Videoaufnahmen von unmarkierten Massengräbern mit hunderten Leichen, die entlang des Ganges entstanden sind.

Wie viele Menschen tagtäglich sterben, weiß im Grunde niemand. Offi­ziell werden pro Tag mehr als 4500 Tote registriert. Allerdings zeigen die Berichte in Lokalzeitungen, deren Reporter in den Leichenhallen der Krankenhäuser und Krematorien die Toten gezählt haben, dass die offiziellen Zahlen immer wieder stark nach unten korrigiert wurden. Als zwei Reporter und ein Fotograf der Zeitung Sandesh (die in der Lokalsprache Gujarati erscheint), am 11. April das staatliche Covid-Krankenhaus in Ahmedabad besuchten, zählten sie 69 Leichen, die allein aus diesem Krankenhaus herausgebracht wurden. Am nächsten Tag gab die offizielle Statistik 20 Tote für die ganze Stadt an.

Die zu niedrigen Zahlen gehen aber nicht nur auf gefälschte Daten zurück, sondern haben auch mit der unzureichenden Ausstattung von Behörden und Gesundheitseinrichtungen zu tun. Vor allem auf dem Land gibt es praktisch keine Testmöglichkeiten und für den Großteil der Bevölkerung ist die Behandlung einer Covid-19-Erkrankung weder zugänglich noch erschwinglich. Viele Leichen werden in flachen Gruben anonym bestattet oder in den Ganges geworfen. Diese Toten tauchen also in der offiziellen Statistik gar nicht auf. Daher liegt die tatsächliche Zahl der Covid-19-Opfer in Indien mit Sicherheit um ein Vielfaches höher als offiziell gemeldet.

Die zuverlässigsten Schätzungen über die Gesamtzahl von Coronafällen beruhen auf serologischen Stichprobenerhebungen. Dabei werden nichtgeimpfte Menschen auf Antikörper gegen das Virus getestet, um zu ermitteln, wie viele von ihnen infiziert wurden. Die New York Times hat auf Basis dieser Daten – und mit Hilfe von Experten in verschiedenen Ländern – auch Schätzungen für die indische Covid-Todesrate vorgelegt, wobei sie drei unterschiedliche Szenarien vorstellte. Ein „konservatives“ (also vorsichtiges) Szenario sieht die tatsächliche Zahl der Ansteckungen bis zum 24. Mai 2021 bei 404 Millionen, während die Anzahl der Todesfälle auf 600 000 geschätzt wird. Damit würde die Zahl der Coronafälle 15-mal höher und die Zahl der Toten doppelt so hoch liegen wie die amtlichen Angaben.

Ein zweites Szenario, das die konsultierten Epidemiologen und Gesundheitsexperten für wahrscheinlicher halten, kommt auf 539 Millionen Infektionen und 1,6 Millionen Todesfälle – das 20-Fache respektive 5,3-­Fache der offiziellen indischen Zahlen.4 Diese Todesraten und der Anblick völlig überlasteter Krematorien und frisch ausgehobener Gräber haben die Regierenden so schockiert, dass sie einige Sofortmaßnahmen ergriffen. Das trifft vor allem für die Regierung des Bundesstaats Uttar Pradesh zu, unter Chief Minister Yogi Adityanath, einem Hindu-Hardliner, der Modis nationalistischer BJP angehört.

Als Erstes ließ Adityanath einen Wellblechzaun um die Krematorien in der Hauptstadt Lucknow hochziehen, damit niemand sehen oder fotografieren konnte, was dahinter passierte. Am 27. April wurden polizeiliche Ermittlungen gegen einen Mann eingeleitet, der über Twitter Sauerstoff für seinen im Sterben liegenden Großvater auftreiben wollte. Er wurde nach dem Tod des Verwandten beschuldigt, er habe durch das Verbreiten von Gerüchten die öffentliche Ruhe gestört. Der Grund: Der alte Mann war nicht offiziell als coronapositiv registriert gewesen.

Ende Mai sorgten die Behörden von Uttar Pradesh dafür, dass von den frischen Gräbern, die an den Ufern des Ganges entstanden waren, die bunten Leichentücher entfernt wurden, denn die Tücher machten die Gräber zu einem Motiv für Pressefotos, die mit Drohnen aufgenommen wurden. Zuvor hatte die Nachrichtenagentur Reuters ein solches Bild veröffentlicht, das überall online verbreitet wurde.

Schon seit Beginn der Pandemie hatte die Regierung alles getan, um unangenehme Tatsachen unter den Teppich zu kehren. Der erste Coronafall in Indien war am 30. Januar 2020 entdeckt worden. Sechs Wochen später, am 13. März, erklärten die Sprecher der Ministerien für Gesundheit, für Inneres und für die Zivilluftfahrt bei einer Pressekonferenz in Delhi, die Coronapandemie bedeute „keinen Gesundheitsnotstand“. In dieser Phase exportierte Indien immer noch medizinische Schutzkleidung und Masken.

Dass Indien von diesen unentbehrlichen Dingen nicht genügend hatte, wurde sehr schnell offenkundig, als sich die Lage drastisch verschlimmerte. Das medizinische Personal an vorderster Front sah sich gezwungen, provisorische Schutzanzüge aus Regenmänteln zu schneidern und Motorradhelme als Schutzvisiere einzusetzen. Wer sich beschwerte, wurde bestraft.5

Doch dann änderte die Regierung das Narrativ. Einen Monat später erläuterte Modi dem Volk in einer Fernsehansprache, Indien habe aus der Krise eine Chance gemacht: Nachdem man zunächst „nicht einen einzigen Schutzanzug“ und nur „unbedeutende Mengen“ von N-95-Masken hergestellt habe, werde man künftig 200 000 Masken pro Tag produzieren.

Seit Beginn des großen Sterbens unternimmt die Regierung hartnäckig weitere Versuche, die Fakten umzudeuten, und schreitet mit aller Härte ein, wenn unangenehme Wahrheiten ans Licht kommen. Die einflussreiche hindunationalistische Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh, Anführerin einer „Familie“ ähnlicher Organisationen, zu der auch die BJP zählt, verbreitete im Fernsehen eine Aufklärungsserie namens „Positivity Unlimited“, mit deren Hilfe man sich von schlechten Nachrichten reinigen sollte.

Der Messenger-Dienst der BJP denunziert mit Vorliebe Journalisten, die über die vielen Toten berichten, als „Geier“. Und BJP-Sprecher Sambit Patra brachte über Twitter ein Dokument in Umlauf, das die negative Berichterstattung über die Coronakrise als Verschwörung der oppositionellen Kongresspartei gegen die Modi-Regierung entlarven sollte. Ein unabhängiger Faktencheck ergab, dass dieses Dokument gefälscht war, woraufhin es von Twitter als „manipuliert“ gekennzeichnet wurde. Die Regierung protestierte heftig und forderte Twitter auf, die Etikettierung rückgängig zu machen. Als sich Twitter weigerte, rückte am 24. Mai die Polizei bei den indischen Büros von Twitter in Delhi und im nahegelegenen Gurgaon an und hinterließ eine kaum verhüllte Warnung.

Die Verheerungen durch die Coronapandemie, die Indien nun vor allem in der zweiten Welle erlebt hat, sind eindeutig darauf zurückzuführen, dass die Regierung Modi dazu neigt, sich mehr um ihr PR-Image zu kümmern als um eine Anti-Covid-Strategie. Seit Beginn der Pandemie hatte sie reichlich Zeit, die Infrastruktur des Gesundheitswesens zu verbessern. Wäre dies geschehen, hätten wir nicht zusehen müssen, wie die Menschen in den Krankenhäusern zu Hunderten starben, weil die Sauerstofflaschen leer waren.

Die Ineffizienz des Gesundheitssektors hat allerdings auch mit einer weit verbreiteten Wissenschaftsfeindlichkeit zu tun. Zum Beispiel sitzt im Parlament noch immer eine BJP-Abgeordnete namens Pragya Thakur, die als besten Schutz gegen Lungeninfektionen empfiehlt, den Urin von Kühen zu trinken.

Zusätzlich zu all diesen Problemen sucht nun auch eine Welle von Pilzerkrankungen das Land heim. Die normalerweise sehr seltene Infektion mit dem „Schwarzen Pilz“, die sehr aggressiv verlaufende Mukormykose, tritt bei geschwächten Covid-19-Patienten auf.

Der einzige Silberstreifen am Horizont ist, dass in der zweiten Welle die indischen Städte vor dem Schlimmsten bewahrt geblieben zu sein schienen. Jedenfalls sind die Hilferufe in den sozialen Medien seltener geworden – die Bewohner des ländlichen Indien allerdings sind dort kaum aktiv.

Die verheerende Welle hat uns bislang viele namenlose Gräber hinterlassen, dazu den Rauch aus den Krematorien und das Leid all der Menschen, die ihre Liebsten verloren haben. Und inmitten dieses furchtbaren pandemischen Schlachtfelds haben Modi und seine Gefolgsleute nichts Wichtigeres zu tun, als das angekratzte Image des großen Führers mit allen Kräften und allen Mitteln aufzupolieren.

1 Siehe auch den Bericht im Guardian vom 30. Mai 2021 mit eindrucksvollen Fotos von dem Massenandrang: „Kumbh Mela: how a superspreader festival seeded Covid across India“.

2 Siehe „India’s vaccine shortage will last months, biggest manufacturer warns“, Financial Times, 2. Mai 2021. Der CEO des Unternehmens erklärte, die Regierung Modi habe im Januar nicht mit einer zweiten Welle gerechnet.

3 Für die zweite Phase bestellte die Regierung weitere 4,5 Millionen Dosen Covaxin. Siehe „Govt places orders for 14.5 million doses of Covid-19 vaccines“, Business Standard, 9. Februar 2021.

4 The Economist veröffentlichte eine auf mathematischen Modellen beruhende Schätzung, wonach in Indien bis Mitte Mai 2021 rund eine Million Menschen an Covid-19 verstorben sind. Siehe: „There have been 7m-13m excess deaths worldwide during the pandemic“, The Economist, 15. Mai 2021.

5 Die Vereinigung des am „Gesamtindischen Institut für die Medizinische Wissenschaft“ in Delhi beschäftigten Ärztepersonals forderte Modi in einem offenen Brief auf, diese Strafen aufzuheben.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Samrat Choudhury ist Journalist und Autor.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Samrat Choudhury