10.06.2021

Brasiliens Militärdemokratie

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Brasiliens Militärdemokratie

Gegen den Machtmissbrauch der Familie Bolsonaro und das Versagen der Regierung in der Pandemiepolitik kommt es immer häufiger zu Massenprotesten. Einen erheblichen Anteil an den gegenwärtigen Zuständen im Land haben hochrangige Armeeangehörige, die mittlerweile mehr Posten im Staatsapparat besetzen als zur Zeit der Militärdiktatur.

von Anne Vigna

August 2020: Militärpersonal desinfiziert den Corcovado in Rio de Janeiro ELLAN LUSTOSA/pictura alliance/zuma wire
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Es ist die Geschichte eines großen Missverständnisses. Am 30. März verkündeten in Brasilien die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine gemeinsam ihren Rücktritt. Am Vortag war bereits Verteidigungsminister General Azevedo e Silva zurückgetreten.

Die Presse jubilierte: Endlich hatten die Offiziere den verhassten Präsidenten Jair Bolsonaro fallengelassen. „Mission erfüllt“, titelte die Tageszeitung Folha de São Paulo am 31. März, und das Konkurrenzblatt Estado de São Paulo betonte „den Widerstand des Generalstabs gegen Jair Bolsonaros Bestrebungen, ihn in ein autoritäres Abenteuer zu verwickeln“.1 Eine Woche zuvor hatte der Präsident gegenüber seinen Anhängern noch erklärt: „Das Volk kann sich auf die Armee verlassen, sie wird Demokratie und Freiheit verteidigen.“ Gemeint war: das Recht, sich den Coronabeschränkungen mancher Bundesstaaten zu verweigern.

Doch jetzt, so verkündeten die brasilianischen Medien, die auch von der internationalen Presse zitiert wurden, sei das Maß voll: Der Rücktritt des hochrangigen Trios zeige, dass das Militär sich von der Exekutive nichts mehr vorschreiben lasse. Die Wirtschaftszeitung Valor Economico kam zu dem Schluss, es bestehe nach wie vor „keinerlei Risiko einer Politisierung der Streitkräfte“.2

Die Wirklichkeit sieht anders aus. „Ganz sicher haben die Offiziere ihre Pressekontakte genutzt, um ihre Ver­sion der Ereignisse zu verbreiten. Angesichts der Tatsachen ist die aber kaum glaubwürdig“, meint Christoph Harig, Forscher an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Der PR-Coup ziele vielmehr darauf, die Armee als Garantin der Demokratie zu zeigen und als einzige Institution, die den „Bolsonaro-Wahn“ in Politik und Medien zu bremsen vermag.

Die französische Historikerin Maud Chirio, Expertin für brasilianische Militärgeschichte, erklärt: „Es gibt in der Tat ein paar Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Präsidenten und dem Militär. Aber die Generäle sind längst an der Macht. Sie sind so politisiert wie nie zuvor und sie haben keineswegs die Absicht, ihre Posten aufzugeben.“ Der von den Medien verkündete große „Bruch“ war wohl eher ein kleinerer Zank, der Bolsonaro keineswegs um den Schlaf brachte: Am 23. April, nur drei Wochen nach dem angeblich so entscheidenden Rücktritt, drohte er bei einem Interview auf TV A Critica in Manaus damit, die Armee gegen aufmüpfige Gouverneure ins Feld zu schicken.

Die Erzählung von der Armee als Verteidigerin der Demokratie ist in Brasilien wohlbekannt. Alljährlich am 31. März, dem Datum des Militärputschs von 1964, der eine 20-jährige Diktatur einleitete, wird sie in allen Kasernen des Landes neu bemüht. Dieses Jahr formulierte der neue Verteidigungsminister General Braga Netto in seinem Rundschreiben: „Vor 57 Jahren übernahmen die Streitkräfte die Verantwortung, das Land zu befrieden und die demokratischen Freiheitsrechte zu sichern, derer wir uns heute erfreuen.“

Auch wenn die Offiziere nicht für die Machtübernahme Bolsonaros verantwortlich sind, haben sie dabei doch eine entscheidende Rolle gespielt. Mit ihrer klaren Positionierung haben sie mit dafür gesorgt, dass „Lula“ da Silva von der Präsidentschaftswahl 2018 ausgeschlossen wurde, obwohl er in den Umfragen als Favorit galt. Am 4. April 2018 – einen Tag bevor der oberste Gerichtshof über den Widerspruch des früheren Staatschefs gegen seine Verurteilung zu einer 12-jährigen Haftstrafe entscheiden sollte – drohte der damalige Oberbefehlshaber des Heers, General Villas Bôas, auf Twitter: Sollte das Urteil zu Lulas Gunsten ausfallen, werde das Militär eingreifen. Inzwischen ist bekannt, dass dieser Tweet mit Zustimmung des gesamten Generalstabs verfasst wurde.

Bolsonaro hatte Villas Bôas bei der Amtseinführung von Verteidigungsminister General Azevedo e Silva im Januar 2019 als „einen der Hauptverantwortlichen für meine Wahl“ gewürdigt. Eine Studie über das Twitter-Verhalten des Generals3 zeigt, dass mindestens 115 aktive Militärangehörige mit gemeinsam knapp 670 000 Followern von April 2018 bis April 2020 insgesamt 3427 Tweets mit politischen Inhalten veröffentlichten. Solche Aktivitäten sind für Militärs nicht erlaubt, wurden aber ebenso wenig verfolgt wie die Wahlwerbung für Bolsonaro in den Kasernen.

Als ihr Kandidat die Wahl gewonnen hatte, verstärkten die Offiziere ihre Präsenz in der Zivilverwaltung, sodass sie schließlich mehr Posten besetzten als zur Zeit der Militärdiktatur. Nach einem Bericht des obersten Rechnungshofs (Tribunal de Contas da União, TCU) saßen 6157 Militärangehörige, davon über die Hälfte noch im aktiven Dienst, im Juli 2020 auf Stellen, die eigentlich Zivilpersonen vorbehalten waren. 2016, am Ende der Regierungszeit von Dilma Rousseff, hatte man noch 2957 Offiziere gezählt – und in der Zwischenzeit wurden nicht wesentlich mehr Stellen geschaffen.

Der neuerliche Aufstieg der Militärs hatte bereits unter den PT-Regierungen begonnen. Lula da Silva, Präsident von 2003 bis 2010, beugte sich lieber ihrem Druck und entließ seinen ersten Verteidigungsminister, als ihnen die Stirn zu bieten, und kein General wurde für seine politischen Handlungen – wie den mangelnden Schutz der Indigenen-Gebiete – belangt. Dilma Rousseff, die von 2011 bis 2016 regierte, billigte die Teilnahme der Armee an „Sicherheitsoperationen“ in den Favelas von Rio de Janeiro, vor allem im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016.4

Es gibt also eine gewisse Konti­nui­tät, doch inzwischen bekleiden Offiziere sehr viel wichtigere Ämter: Von 23 Ministern sind 7 hohe Offiziere, die auch 16 der 46 staatlich kontrollierten Unternehmen leiten, wie den Öl- und Gaskonzern Petrobras. „In Brasi­lien sitzen in der Verwaltung mehr Militärangehörige als in Venezuela, das von Brasília als ‚Militärregime‘ bezeichnet wird“, sagt Marcial Suarez, Professor für Internationale Beziehungen an der Bundesuniversität Fluminense in Rio de Janeiro. „Tatsächlich kenne ich derzeit keine Demokratie, in der so viele Offiziere so hohe Ämter bekleiden.“

Für Adriana Aparecida Marques, Forscherin an der Bundesuniversität Rio de Janeiro, ist das kein Zufall: Neun hohe Reserveoffiziere, die heute zen­tra­le Posten in Brasília innehaben, gehörten früher der UN-Stabilisierungsmission in Haiti (Minustah) an, die von 2004 bis 2017 unter brasilianischem Kommando stand. Man habe die Politisierung der Militärs verhindern wollen, indem man sie von der heimischen Politik fernhielt, meint die Forscherin. „Erreicht hat man das Gegenteil, denn sie hatten dort nicht nur militärische, sondern auch politische Aufgaben.“

Trotz massiver Kritik von vielen Seiten, zuvorderst von haitianischen NGOs, betrachteten die brasilianischen Offiziere ihre Mission als Erfolg5 – und waren danach nur allzu bereit, Ämter in der Heimat zu übernehmen. Ein Glücksfall für Bolsonaro, der keine Partei im Rücken hatte und dringend Leute für sein Kabinett suchte. João Roberto Martins Filho, Sozialwissenschaftler an der Bundesuniversität von São Carlos, meint, dass „die Militärs seit mindestens einem Jahrzehnt eine Strategie der Professionalisierung verfolgen. Hohe Offiziere erweitern ihre Ausbildung mit Universitätsabschlüssen in Verwaltung, Kommunikation und Management, vor allem an den beiden wichtigsten liberalen Wirtschaftshochschulen Fundação Getulio Vargas und Fun­dação Dom Cabral.“6

Seit 2014 kandidieren immer mehr Militärs bei Bundes- und Landeswahlen. „Es ist gut für Brasilien, auf Offiziere zu setzen, denn sie sind kompetent und nicht korrumpierbar“, sagt uns der General der Reserve Ribeiro Souto, ohne mit der Wimper zu zucken. Die anrüchigen Beziehungen zwischen Politikern und den riesigen Baukonzernen, Kern der großen Korruptionsskandale, wurden allerdings unter der Militärdiktatur geknüpft. „Die Offiziere der neuen Generation fühlen sich schlecht behandelt und mies bezahlt, dabei halten sie sich für die Elite der Nation. Sie wollen einfach ihr Stück vom Kuchen“, meint die Historikerin Chirio.

Doch obwohl sie bereits zweieinhalb Jahre an der Staatsspitze mitmischen, sind die Offiziere bislang nicht durch besondere Kompetenzen aufgefallen. Der Kampf gegen die Rodungen im Amazonas, den der Vizepräsident und General der Reserve, Hamilton Mou­rão, leitet, zeigt keinerlei Erfolge, was die internationale Gemeinschaft extrem beunruhigt. Das Pandemiemanagement, das fast zehn Monate lang in den Händen von General Pazuello lag, erwies sich als Katastrophe, die Hunderttausende das Leben kostete. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Exame/Ideia vom 10. April sank das Vertrauen der Bevölkerung ins Militär um 18 Prozentpunkte, dabei hatte die Armee – ebenso wie die Kirche – bislang stets zu den wenigen Institutionen gezählt, die unerschütterliches Vertrauen genossen.

„Der Rücktritt der drei Generäle ändert nichts an ihrer Mitwirkung in dieser Regierung“, meint Martins Filho. „Aber sie bewahren sich damit einen Ausweg, falls die Situation weiter eskaliert.“ Seit Ex-Präsident Lula da Silva nach der Aufhebung der gegen ihn verhängten Urteile auf die politische Bühne zurückgekehrt ist und Bolsonaros Beliebtheit sinkt, sprechen die Militärs von einem „dritten Weg“: Ein Mitte-rechts-Kandidat, der ihrer ideo­logischen Ausrichtung entspricht, könnte die Rückkehr der verhassten Linken an die Macht verhindern und ihnen ihre neuerworbenen Privilegien sichern.

„Es wäre sehr schwierig, den brasilianischen Staat zu entmilitarisieren“, meint Chirio, „denn dafür müssten tausende Offiziere bereit sein, nur noch ein Zehntel ihrer jetzigen Einkünfte zu beziehen.“ Manche, wie Vizepräsident Mourão, bewerben sich bereits um einen Sitz im Senat.

Seit dem Sturm auf das Kapitol in Washington haben Bolsonaros Wutreden, in denen er unbotmäßigen Bürgern mit einer Militärintervention droht, noch an Schärfe zugenommen. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass die Streitkräfte dem Präsidenten in ein Abenteuer außerhalb der Verfassung folgen würden, auch wenn die Demokratie in Brasilien weitaus verletzlicher ist als in den USA und Donald Trump gegen Jair Bolsonaro wie ein Ausbund an Weisheit wirken mag.

Auch jenseits der Kasernen gibt die wachsende Politisierung der über 700 000 Polizisten (zu denen noch über 250 000 Reservisten kommen) Anlass zu Sorge. Eine neue Studie7 hat ihr Verhalten in den sozialen Medien untersucht: 35 Prozent der Offiziere der Militärpolizei und 41 Prozent der Mannschaftsdienstgrade interagierten mit Bolsonaro-freundlichen, durchaus auch radikalen Seiten. Bei der Kriminalpolizei sind es nur 12 Prozent, bei der Bundespolizei 13 Prozent.

Der Hass in den Kommentaren, der sich vor allem gegen andere demokratische Institutionen (oberster Gerichtshof und Nationalkongress) richtet, gegen die Bolsonaro regelmäßig wütet, deutet auf eine Radikalisierung hin. „Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass diese Truppen Bolsonaro auch bei ungesetzlichen Aktionen folgen würden, wie im Februar 2020 im Bundesstaat Ceará, wo die Polizei gegen einen Gouverneur der politischen Opposition rebellierte“, erklärt Adilson Paes de Souza, Reservist der Militärpolizei von São Paulo.

Nach 13 Tagen und über 240 Toten in der Hauptstadt Fortaleza hatte Bolsonaro die Entsendung von Soldaten, die die Ordnung wiederherstellen sollten, begrenzt, da es sich nur um einen Streik handle. Diese Unterstützung eines illegalen, gewaltsamen Aufstands ist ein gefährlicher Präzedenzfall.

1 „Entre golpistas e velhacos“, Estado de São Paulo, 31. März 2021.

2 Andrea Jubé, Fabio Murakawa und Matheus Schuch, „Cresce temor de politização das Forças Armadas“, Valor Economico, São Paulo, 31. März 2021.

3 Marcelo Godoy, „Soldados influenciadores: os guerreiros digitais do bolsonarismo e os tuítes de Villas Bôas“, in: João Roberto Martins Filho (Hg.), „Os militares e a crise brasileira“, São Paulo (Alameda) 2021.

4 Siehe Anne Vigna, „Die neuen Bosse der Hügel“, LMd, Februar 2013.

5 Vgl. Celso Castro und Adriana Marques, „Missão Haiti: a visão dos force commanders“, Rio de Janeiro (FGV) 2019.

6 João Roberto Martins Filho (Hg.), „Os militares e a crise brasileira“, São Paulo (Alameda) 2021.

7 „Política e fé entre os policiais militares, civis e federais do Brasil“, Forum da Segurança Publica, São Paulo 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Anne Vigna ist Journalistin und lebt in Rio de Janeiro.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Anne Vigna