10.06.2021

Außer Kontrolle in Kolumbien

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Außer Kontrolle in Kolumbien

von Lola Allen und Guillaume Long

Gewalt und Vandalismus von oben CAMILLO ERASSO/picture alliance/zuma wire
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Kolumbien hat das zweit­niedrigste Steueraufkommen aller OECD-Länder. Am 15. April stellte Präsident Iván Duque Pläne für eine Steuerreform vor: 23 400 Milliarden Pesos (etwa 5,2 Milliarden Euro) werde sie in die Kassen spülen und die Staatsschulden reduzieren, die in diesem Jahr auf 8,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschätzt werden. Außerdem sollten 2,8 Millionen Menschen aus extremer Armut befreit und ein Fonds zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels eingerichtet werden.

Doch nicht alle Steuerreformen sind echte Fortschritte. Im vorliegenden Fall ging es darum, den Geltungsbereich der Mehrwertsteuer – die vor allem ärmere Privathaushalte belastet – auf bislang steuerfreie Produkte zu erweitern. Zudem sollten Einkommen besteuert werden, die bislang als zu niedrig dafür galten, und zahlreiche Freibeträge für Haushalte der unteren Mittelschicht, die bereits stark von der Coronakrise gebeutelt sind, gestrichen werden.

Sogar Parteien der Mitte, wie die Soziale Partei der Nationalen Einheit (Partido de la U, PU) des früheren Präsidenten Juan Santos (2010–2018) und die Liberale Partei waren sich einig darin, dass dieses Gesetz vor allem die Schwächsten belasten würde. Die NGO Progressive International erklärte: „Es handelt sich um eine rückschrittliche Steuerreform mit dem Ziel, die kolumbianischen Auslandsschulden zurückzuzahlen und das Kreditrating des Landes aufrechtzuerhalten.“1

Am Tag nach der Vorstellung der Reform rief die größte Gewerkschaft des Landes Central Unitaria de Trabajadores (CUT) für den 28. April zu einem Generalstreik auf und wurde darin von einer breiten Koalition sozialer Bewegungen unterstützt. Der Streik führte zu Massendemonstrationen. Jahrelang aufgestaute Frustrationen brachen sich Bahn. Am 29. April veröffentlichte die staatliche Statistikbehörde Zahlen, nach denen 45 Prozent der Ko­lum­bia­ne­r:in­nen unterhalb der Armutsschwelle leben, 10 Prozent mehr als 2020; 15 Prozent leben sogar in extremer Armut.

Immer größer wurden die Protestversammlungen, die Lage geriet außer Kontrolle. Am 2. Mai zog Duque sein Reformprojekt zurück, am nächsten Tag folgte der Rücktritt von Finanzminister Alberto Carrasquilla. Doch das genügte nicht, um den Unmut zu besänftigen. Die Demonstrierenden empörten sich über die brutale polizeiliche Repression und die Menge auf den Straßen wuchs weiter an.

„Der kolumbianische Sicherheitsapparat arbeitet auf der Grundlage der anachronistischen Doktrin des Antikommunismus“, meint der Politologe Pedro Piedrahita von der Universität Medellín. Demonstrierende gelten nicht als Bürgerinnen und Bürger, sondern als „innere Feinde“, als „legitime militärische Ziele“.2 In den sozialen Netzwerken zirkulierten Bilder von den Angriffen der Aufstandsbekämpfungsbrigaden (Escuadrón Móvil Antidisturbios, Esmad) auf die Protestierenden. Bis zum 12. Mai zählte das Institut für Entwicklungs- und Friedensstudien (Indepaz) 39 Morde, 1055 willkürliche Verhaftungen und 16 sexualisierte Gewalttaten durch Polizeikräfte.

Die Sprecherin der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte erklärte am 4. Mai, man sei „zutiefst beunruhigt“ angesichts der Ereignisse. Die stellvertretende Sprecherin des US-Außenministeriums wandte sich an beide Seiten: „Gewalt und Vandalismus“ verletzten das Recht auf friedlichen Protest; zugleich rief sie die Polizeikräfte auf, „allergrößte Zurückhaltung zu üben, um noch mehr Todesopfer zu vermeiden“.

Dagegen sprach US-Außenminister Antony Blinken am selben Tag bei der 51. Washington Conference on the Americas zwar von Demokratiedefiziten und Angriffen auf die Menschenrechte in Venezuela, Kuba, Nicaragua und Haiti, verlor aber kein Wort über Kolumbien. Auch die lateinamerikanischen Staaten – ausgenommen Argentinien und Venezuela – schwiegen.

Kuba protestierte gegen die Ausweisung eines Diplomaten, dem die kolumbianische Regierung Aktivitäten vorwarf, „die nicht in Einklang mit den Vorgaben der Wiener Vertragsrechtskonvention stehen“3 . Der Regierung in Bogotá warf der kubanische Außenminister auf Twitter vor, sie wolle „von der gewaltsamen Unterdrückung von Demonstrierenden durch Militär und Polizei ablenken“.

US-Dollars für die Sicherheitskräfte

Präsident Biden hat stets signalisiert, dass er keinen Bruch in den Beziehungen zu Kolumbien wünsche: Man betrachte das Land weiterhin „als Herzstück der US-Politik in Lateinamerika und der Karibik“. Im Wahlkampf hatte er versucht, die Wäh­le­r:in­nen lateinamerikanischer Herkunft in Florida durch seine Unterstützung für den Plan Colombia zu gewinnen. In der Tageszeitung Sun Sentinel schrieb er: „Ich habe den Plan Colombia von Anfang an verteidigt, und ich habe Sorge getragen, dass er von beiden Parteien im Kongress unterstützt wird. Dabei handelt es sich um einen der größten Erfolge unserer Außenpolitik seit einem halben Jahrhundert.“

Das war keine Übertreibung. Der Plan Colombia, initiiert 1999 von Bill Clinton, erweitert von George W. Bush, beibehalten von Barack Obama und Donald Trump, ist Ausdruck eines der engsten bilateralen Sicherheitsbündnisse, die Washington weltweit geknüpft hat. Seit Jahrzehnten ist Kolumbien größter Empfänger von US-Militärhilfen und einer der wichtigsten Käufer von US-Rüstungsgütern auf dem Kontinent. Die Armeen beider Länder führen nicht nur gemeinsame Opera­tio­nen durch, Sicherheitsunternehmen und -berater aus den USA sind auch in Kolumbien direkt tätig. Die USA liefern Munition mit Tracking-Systemen, sodass Guerillaführer mit „intelligenten Bomben“ gejagt werden können, und die NSA unterstützt Kolumbien – der einzige „globale Partner“ der Nato in der Region – bei Abhör- und Spionagetätigkeiten.

Biden hatte erklärt, er wolle mit Trumps Außenpolitik brechen, um künftig Demokratie und Menschenrechte in den Mittelpunkt zu stellen. Konsequenterweise sollte er dann auch die Folgen der innigen Beziehungen Washingtons zu seinem Partner überdenken. Seine Unterstützung der Friedensverträge von 2016 zwischen der Regierung in Bogotá und der Farc-Guerilla ist nicht mit seiner Rückendeckung für Duque vereinbar, denn dieser tut alles, um den Friedensprozess zu sabotieren.

Iván Duque ist der politische Ziehsohn des früheren Präsidenten Álvaro Uribe (2002–2010). Er hat sich stets gegen Verhandlungen mit der Farc ausgesprochen. Trumps Desinteresse an der Fortsetzung des Friedensprozesses ließ ihm freie Hand, die Vereinbarungen mit der Guerilla auszuhöhlen. Duque gewann mit der Zeit immer mehr Spielraum, vor allem auch, weil Kolumbien eine Schlüsselrolle bei den verschiedenen Versuchen der US-Regierung spielte, Präsident Nicolás Maduro in Venezuela zu stürzen – was eine Zeit lang ganz oben auf Trumps Agenda stand.

Die Folge für die Menschenrechtslage in Kolumbien waren spürbar. Im letzten Jahr kam es zu 91 Massakern mit 384 Opfern.4 Im März 2021 kritisierte die UNO, dass seit Unterzeichnung der Friedensverträge 262 ehemalige Farc-Kämpfer getötet wurden, obwohl die Regierung sich verpflichtet hatte, für ihren Schutz einzustehen.5

Trump, der sich im Antidrogenkampf profilieren wollte, hatte die kolumbianische Regierung aufgefordert, für die Vernichtung der Kokaplantagen zu sorgen: „Man muss sie gießen!“6 Damit meinte er das Besprühen mit Glyphosat, das die WHO 2015 als vermutlich erbgutschädigend und krebserregend eingestuft hat. Duque hätte dieser Aufforderung gern Folge geleistet, doch das kolumbianische Verfassungsgericht stellte ihm Bedingungen für den Einsatz. Viele Stimmen in Politik und Gesellschaft machten sich gegen diese Methode stark, zumal sie den Friedensverträgen von 2016 zuwiderlief. Am 12. April erließ Duque trotzdem ein Dekret, das die Wiederaufnahme der Sprühaktionen erlaubte, und versprach dabei die vom Verfassungsgericht gesetzten Grenzen zu beachten.

Präsident Duque versucht die Biden-Administration davon zu überzeugen, dass die steigende Drogenproduktion in seinem Land mit den allzu großen Freiräumen zusammenhängt, den der Friedensvertrag den Drogenbanden eingeräumt habe. Es gibt jedoch eine bessere Erklärung für den Aufschwung krimineller Organisationen, zu denen auch die mexikanischen Drogenkartelle zählen, die in Kolumbien inzwischen fest verankert sind: Die Unfähigkeit der Regierung, das Vakuum zu füllen, das durch den Rückzug der Guerilla entstanden ist.

Duque beharrt auf der Vernichtung illegaler Plantagen, obwohl die Hilfsprogramme für den Umstieg auf andere Feldfrüchte zurückgefahren wurden. Die Bauern sind gezwungen, weiterzumachen wie bisher und sich unter den Schutz mächtiger Drogenmafias zu stellen. Daraus entsteht ein Teufelskreis der Gewalt.

In ähnlicher Manier beendete Duque auch die Friedensverhandlungen mit der Nationalen Befreiungsarmee ELN. Im Januar 2019 hatte die Guerillaorganisation eine Bombe in einer Polizeischule platziert und 23 Menschen getötet. Der Präsident nutzte die landesweite Empörung über das Attentat, um den Dialog aufzukündigen. Anschließend forderte er den Vermittlerstaat Kuba auf, die Mitglieder der ELN-Delegation auszuliefern, damit sie wegen Terrorismus vor Gericht gestellt werden könnten.

Havanna weigerte sich, denn ein solches Vorgehen hätte das von allen Parteien unterzeichnete Verhandlungsprotokoll verletzt; Norwegen, einer der Garanten des Friedensprozesses, begrüßte diese Haltung. Trump hingegen setzte den Inselstaat daraufhin wieder auf die Liste der Terror-Unterstützer (nachdem Obama ihn gerade gestrichen hatte) und punktete damit im Wahlkampf bei den Exilkubanern in Florida.

Die Beziehung zwischen Trump und Duque stand auf einem soliden Fundament. Duques Partei, das Demokratische Zentrum, unterstützte 2020 Trumps Wahlkampagne. Auch Ex-Präsident Uribe schaltete sich ein und sprach von der Bedrohung durch den „Castro-Chavismus“, während die Republikaner in Florida behaupteten, die Demokraten würden die USA zu einem sozialistischen Staat machen.

Der US-Botschafter in Bogotá, Philip Goldberg, sah sich wenige Tage vor der Wahl zu einer Erklärung gezwungen: „Der Erfolg der amerikanisch-kolumbianischen Beziehungen ist seit Jahren der Unterstützung beider großer Parteien zu verdanken. Ich fordere die Gesamtheit der politisch Verantwortlichen in Kolumbien dazu auf, sich nicht in die US-Wahlen einzumischen.“7

Natürliche Verbündete Bidens – wie Menschenrechtsorganisationen oder Thinktanks, die Duques Umgang mit den Friedensverträgen kritisch sehen – zeigen sich angesichts der brutalen Reaktion auf die Demonstrationen besorgt und versuchen den US-Präsidenten umzustimmen. Auch zahlreiche demokratische Kongressabgeordnete engagieren sich. Bereits im Juli 2020 schrieben 94 Mitglieder des Repräsentantenhauses einen offenen Brief an den damaligen Außenminister Mike Pompeo, in dem sie ihre Sorge um den Friedensprozess in Kolumbien ausdrückten. Einige von ihnen kritisieren die Repres­sion der aktuellen Proteste scharf.

Die Duque-Regierung ihrerseits bemüht sich die Proteste im Land als Zeichen einer internationalen Verschwörung gegen Kolumbien darzustellen. Außenministerin Claudia Blum veröffentlichte ein englischsprachiges Video, in dem sie vor allem den linken Senator Gustavo Petro, der voraussichtlich 2022 bei den Präsidentschaftswahlen antreten wird, scharf angriff. Sie behauptet, Petro habe „mit Unterstützung von Maduro und terroristischen Drogenorganisationen versucht, die aktuelle Situation auszunutzen, indem er Attentate organisiert und Leute bezahlt, die Schrecken verbreiten und die Städte verwüsten“.8

Gegenüber Biden wird Duque vor allem betonen, dass er sein verlässlichster Unterstützer für zwei zentrale Anliegen sei, die der Mehrheit des Washingtoner Establishment nach wie vor am Herzen liegen: der Sturz Maduros und der Kampf gegen die „Drogenguerilla“. In puncto Venezuela wird Kolumbien sein ganzes Gewicht in die Waagschale werfen, um eine Verhandlungslösung im Nachbarland zu blockieren.

1 „SOS Colombia“, Progressive International, 5. Mai 2021.

2 Zitiert bei Joe Parkin Daniels, „UN condemns violent repression of Colombia protests after at least 18 die“, The Guardian, 4. Mai 2021.

3 Presseerklärung des kolumbianischen Außenministeriums, Bogotá, 7. Mai 2021.

4 „Informe de masacres en Colombia durante el 2020 y 2021“, Indepaz, 2. Mai 2021.

5 „United Nations verification mission in Colombia“, Bericht des UN-Generalsekretärs, 26. März 2021.

6 „Colombia will have to restart aerial spraying to destroy coca: Trump“, Reuters, 2. März 2020.

7 Zitiert nach Tracy Wilkinson, „Colombia’s far-right wing backs Trump, aiming to help him in crucial Florida vote“, Los Angeles Times, 1. November 2020.

8 Laura Gil, „La Canciller Blum circula video que acusa a Petro de terrorismo“, La Línea del medio, 8. Mai 2021.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Lola Allen und Guillaume Long forschen am Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington, D. C.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Lola Allen und Guillaume Long