10.06.2021

Stadt, Land, Auto

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Stadt, Land, Auto

Kleine Geschichte der kommerziellen Urbanisierung Frankreichs

von Philippe Descamps

Im Mutterland der Shoppingmall, um 1950 H. ARMSTRONG ROBERTS/akg images
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Wie konnten die französischen Gemeinden mit ihrem reichen architektonischen Erbe – vom Elsass bis ins Baskenland, von Korsika bis in die Bretagne – die Entstehung hässlicher, unpersönlicher Shoppingmalls zulassen, während sie ihre Innenstädte und Wohnviertel verkümmern ließen?

Wer die Geschichte der kommerziellen Urbanisierung Frankreichs zu Papier bringen will, muss wahrscheinlich Ende der 1950er Jahre im US-amerikanischen Dayton im Bundesstaat Ohio ansetzen. „No parking, no business“ („Keine Parkplätze, kein Geschäft“) – so begründete der Vertriebsguru Bernardo Trujillo damals die aufkommende Alles-fürs-Auto-Politik. Und er brachte seinen Jüngern bei, wie sich durch das geschickte Spiel mit den Margen satte Gewinne erzielen ließen, indem man etwa Kunden durch billiges Benzin an den integrierten Tankstellen anlockte.

Um den Verkauf ihrer Registrierkassen zu fördern, organisierte die US-Firma National Cash Register (NCR) Seminare über „moderne Verkaufsmethoden“, die Interessenten aus der westlichen Welt und insbesondere aus Frankreich anzogen. Die Gründer fast aller großen künftigen Einzelhandelskonzerne Frankreichs – wie Auchan, Castorama, Prisunic, Promodès, Fnac und Printemps – gaben sich hier die Klinke in die Hand.

Marcel Fournier, der Gründer von Carrefour, war nach seiner Rückkehr aus Ohio davon überzeugt, dass er seinen ersten französischen Hypermarkt in puncto Parkplätze und Verkaufsfläche richtig groß anlegen musste. Eröffnet wurde der Hypermarché 1963 in Sainte-Geneviève-des-Bois im Dé­parte­ment Essonne. 1975 gab es bereits 250 solcher Märkte mit mehr als 2500 Quadratmetern.1 Heute sind es 2200. Sie erwirtschaften einen Jahresumsatz von mehr als 100 Milliarden Euro und vereinen rund 35 Prozent des gesamten Lebensmittelabsatzes.

1969 öffneten die ersten Einkaufszentren mit integrierten Ladenzeilen und Boutiquen ihre Pforten: Parly 2 (das heutige Westfield Parly 2) im Dé­parte­ment Yvelines und Cap 3000 in der Nähe des Flughafens von Nizza. Wie ihre zahllosen Nachfolger thronen sie inmitten riesiger Parkplätze. Beim Einkaufszentrum in Nizza waren die 3000 Stellplätze sogar Namensgeber. Im Streben nach der autogerechten Stadt wurden städtebauliche Aspekte auf dem Altar des Automobilismus geopfert, wie der Sozialphilosoph André Gorz bereits 1973 erkannte: „Wenn das Auto die Oberhand behalten soll, gibt es nur eine Lösung, nämlich die Abschaffung der Städte.“2

Es ist sicher kein Zufall, dass neben der Autoindustrie vor allem die Einzelhandelskonzerne seit Langem die Botschaft verkünden: Das Auto als individuelles Verkehrs- und Transportmittel spart Zeit und vereinfacht das Leben. Unfälle, Luftverschmutzung, Treibhauseffekt, Lärm, Staus und die Zerstörung der Landschaften werden geflissentlich ausgeblendet. Dabei erzeugt die Abhängigkeit vom Auto kolossale „externe Kosten“, die auf 820 Milliarden Euro pro Jahr in der Europäischen Union und auf 109 Milliarden Euro allein in Frankreich geschätzt werden, was 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.3 Nicht inbegriffen in dieser Rechnung sind die nicht ­bezifferbaren Kosten der Zersiedelung, die sich nur sehr schwer umkehren lässt.

Das Phänomen der Periurbanisierung, also der Ausbreitung der Städte in die Peripherie, ist zwar überall zu beobachten. Aber im europäischen Vergleich sticht Frankreich heraus: Hypermärkte und Gewerbegebiete säumen die Ein- und Ausfallstraßen fast jeder französischen Stadt. Als Erstes siedelten sich dort die Lebensmittelhändler an, dann folgte der Rest.

Die Betreiber kleiner Einzelhandelsgeschäfte sorgten sich von Anfang an über die Auswirkungen, die das freie Spiel der Marktkräfte im Handelssektor mit sich brachten. 1973 versuchte der Gesetzgeber, die Ausbreitung der Städte durch das Gesetz über die Ausrichtung von Handel und Handwerk (das sogenannte Loi Royer) einzudämmen. Die einberufenen Kommissionen, welche die Ansiedlung neuer Einkaufszentren reglementieren sollten, machten aber vor allem durch zahlreiche Korruptionsfälle von sich reden.

In den 1990er Jahren versuchte die Politik diese Entwicklung durch weitere Gesetze aufzuhalten, leider ohne großen Erfolg. Nicolas Sarkozy setzte nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten 2007 eine Kommission zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums ein – mit Jacques Attali als Vorsitzendem und dem jungen Emmanuel Macron als Berichterstatter. Ihre Marschrichtung: die zentralen Bestimmungen der Gesetze aus den 1990er Jahren zurücknehmen und mit Hochdruck die EU-Dienstleistungsrichtlinie umsetzen.

Die Kommissionsarbeit mündete im Gesetz über die Modernisierung der Wirtschaft vom August 2008, mit dem alle Schleusen geöffnet wurden. „Die Maschine, die diese großen Verkaufsflächen produziert, dreht nicht etwa langsamer. Sie ist jetzt nur anders verpackt“, so der Delegierte Franck Gintrand vom Institut des territoires, das sich für die regionale Entwicklung einsetzt.4

In anderen Ländern hat die gewerbeorientierte Stadtplanung anderer Strukturen geschaffen, wie etwa in Nordeuropa, wo kleinere Supermärkte zur Nahversorgung gebaut wurden. In Frankreich erzielte der Einzelhandel 2012 nur noch 25 Prozent seines Umsatzes in den Stadtzentren. 62 Prozent entfielen auf die Peripherie und 13 Prozent auf die übrigen Stadtviertel.5

In Deutschland hingegen sind die Marktanteile jeweils etwa zu einem Drittel auf die verschiedenen Zonen verteilt. Während Frankreich deutschen Discountern wie Aldi und Lidl den Marktzugang durch das Gesetz über die Modernisierung der Wirtschaft erleichterte, bot Deutschland der Europäischen Kommission die Stirn. Berlin lehnte es ab, seine Raumplanungsvorschriften zu lockern, die auf eine Begrenzung der Einkaufszentren an der Peripherie abzielen.

Die Periurbanisierung des Handels geht Hand in Hand mit der Zerfransung der Städte ins Umland und dem Trend zum Bau von Einfamilien­haus­siedlungen. Dass sie viele Fürsprecher hat, hängt vor allem mit dem aus der Konzentration gezogenen Nutzen zusammen: „Die wirtschaftliche Rentabilität ist deutlich höher“, schreibt das französische Institut für Statistik und wirtschaftliche Studien (Insee). 2017 belief sich der Umsatz in den größten Verbrauchermärkten auf 7500 Euro pro Quadratmeter. In den kleineren Geschäften des Lebensmittelhandels lag er bei 4500 Euro.6

Noch höhere Renditen lassen sich durch Investitionen in Bauland und Immobilien erzielen. Auf Gewerbeimmobilien spezialisierte Immobiliengesellschaften wie Klépierre und Unibail-­Rodamco-Westfield waren an der Börse über Jahrzehnte immens erfolgreich. Das Rennen um Agrarflächen, die sich als Bauland eignen, wird vor allem durch die hohen Gewinne befeuert, die Vermittler mit Immobiliengeschäften erzielen können.

Die Coronakrise allerdings könnte die Karten neu gemischt haben. Die Schließung großer, nicht für die Deckung des täglichen Bedarfs erforderlicher Verkaufsflächen während der Pandemie und der Boom des Onlinehandels bringen das Geschäftsmodell – und die Börsenkurse – ins Wanken. Der Geist der „Dead Malls“ wabert über den Atlantik. In den USA nimmt die Zahl der Einkaufszentren mit hoher Leerstandsrate und niedriger Kundenfrequenz kontinuierlich zu, was von der die Sättigung des Markts zeugt. Die Rekordzahlen bei Ladenschließungen befeuern die seit 2010 kursierende Angst vor einer „Apokalypse im Handel“ noch zusätzlich.

In Frankreich jedenfalls haben die Hypermärkte etwas an Gewicht verloren. Außerdem passt die Entwicklung des Konsums der privaten Haushalte, der wegen der schwachen Kaufkraft stagniert, nicht zur Errichtung neuer Einkaufszentren. Neubauprojekte mit teils gigantischen Dimensionen stoßen zudem in der Bevölkerung immer häufiger auf Widerstand. So wehren sich etwa die Bürgerinnen und Bürger in Tournus (De­parte­ment Saône-et-Loire) gegen einen neuen Leclerc und die Einwohner von Gonesse (De­parte­ment Val d’Oise) gegen Europacity.

„Man kann hier ja nicht mehr parken!“, klagen viele kleine Einzelhändler aus den Innenstädten, die unter der Verlagerung des Geschäfts in die Peripherie leiden. Damit nähren sie genau jene Mythen, die den motorisierten Individualverkehr stützen.

Eine Umfrage, die 2020 in Brüssel durchgeführt wurde, veranschaulicht eindrucksvoll die Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit in diesem Bereich: 67 Prozent der befragten Händler am Boulevard Waterloo waren der Meinung, ihre Kunden seien mit dem Auto gekommen – dabei traf dies nur auf 22 Prozent der Kundschaft zu.7 Parkplatzmangel ist oft gar nicht mehr das Problem, vor allem in Großstädten wie Paris, wo das Parkplatzangebot die Nachfrage weit übersteigt.

Nichtmotorisierte Fortbewegungsarten sind nicht nur gesünder und umweltfreundlicher, sondern erfordern auch viel weniger Infrastruktur und Platz, was den Zugang zu den Geschäften erleichtert. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass seit 2003 Fußgänger und Radfahrer bei den Kunden von Geschäften in Wohnvierteln die Mehrheit stellen.9 Sie kaufen pro Besuch zwar weniger ein, sind aber die treueren Kunden und geben somit insgesamt deutlich mehr aus.

Egal ob in New York, Portland, Auckland, Dublin, London, Madrid, Toronto oder Graz: Alle aktuellen Studien bestätigen, dass der Slogan „Weniger Autos, mehr Kunden!“10 in den Metropolen stimmt. Diese Großstädte konnten der Zersiedlung ihrer Außenbereiche durch ein dichtes Nahverkehrs- und Radwegenetz entgegenwirken, das in vielen Mittelstädten fehlt, weshalb das Auto dort oft als einziges geeignetes Verkehrsmittel erscheint.

Dabei wirkt sich die Verringerung des Autoverkehrs und die Entwicklung alternativer Mobilitätsformen positiv auf den Umsatz der Innenstadtläden aus. Eine Verdopplung der Zahl von Radfahrerinnen und Radfahrern in den Städten könnte in der Europäischen Union einen Wirtschaftsboom mit einem Volumen von 27 Milliarden Euro auslösen.11 Doch alte Gewohnheiten halten sich hartnäckig. Immer noch werden fast 50 Prozent der täglichen Wegstrecken von weniger als einem ­Kilometer mit dem Auto zurückgelegt.12

Mit zahlreichen Initiativen wie Steuervergünstigungen und kostenlosen Parkplätzen versuchen Lokalpolitiker in Frankreich die Leerstandsquote bei Geschäften im Innenstadtbereich zu senken. Von 2012 bis 2018 ist die allerdings von 7,2 Prozent auf 11,9 Prozent gestiegen.13 Außerdem hat das Ministerium für territorialen Zusammenhalt die „Aktion Herz der Stadt“ (Action Cœur de Ville) ins Leben gerufen, um die wirtschaftliche Vitalität und Attraktivität von 222 Gemeinden zu steigern. Doch diese Ansätze, bei denen andere Stadtviertel übrigens vielfach ignoriert werden, sind ohne eine grundlegende Veränderung der eng miteinander verknüpften Verkehrs- und Bodenpolitik zum Scheitern verurteilt.

1 Das französische Statistikamt Insee kategorisiert Lebensmittelgeschäfte nach ihrer Verkaufsfläche. Bei über 2500 Quadratmetern gelten sie als „Hypermarkt“ (Hypermarché), bei mehr als 400 Quadratmetern als Supermarkt (Supermarché), bei über 120 Quadratmetern als Kleinsupermarkt (Supérette) und bei kleineren Flächen als einfaches Lebensmittelgeschäft (Com­merce d’Ali­men­tation Générale).

2 André Gorz, „L’idéologie sociale de la bagnole“, Le Sauvage, Paris, September/Oktober 1973.

3 „Handbook on the external costs of transport“, Europäische Kommission, Brüssel, Januar 2019.

4 Franck Gintrand, „Le Jour où les zones commer­ciales auront dévoré nos villes“, Vergèze (Thierry Souccar Éditions) 2018.

5 „Urbanisme commercial, une implication croissante des communautés, mais un cadre juridique à repenser“, Assemblée des communautés de France ­(ADCF), Paris, Juli 2012.

6 Clément Cohen, „300 000 points de vente dans le détail“, Insee Focus, Nr. 188, Paris, April 2020.

7 „Mobilité et accessibilité commerciale à Bruxelles“, Untersuchung von sechs Studenten der Université Libre de Bruxelles.

8 Julien Demade, „Les Embarras de Paris ou l’illusion techniciste de la politique parisienne des déplacements“, Paris (L’Harmattan) 2015.

9 Marie Brichet und Frédéric Héran, „Commerces de centre-ville et de proximité et modes non motorisé“, Fédération Française des Usagers de la Bicyclette ­(FUBicy) 2003.

10 „Mobilité et villes moyennes, état des lieux et perspectives“, Groupement des Autorités Responsables de Transport (GART), Paris, September 2015; sowie Eric Jaffe, „The complete business case for converting street parking into bike lanes“, Bloomberg CityLab, 13. März 2015.

11 Holger Haubold, „Shopping by bike: Best friend of your city centre“, European Cyclists’ Federation, Brüssel 2016.

12 Chantal Brutel und Jeanne Pages, „La voiture reste majoritaire pour les déplacements domicile-travail“, Insee Première, Nr. 1835, Januar 2021.

13 „Troisième édition du palmarès Procos des centres-villes commerçants“, Procos – Fédération pour la Promotion du Commerce Spécialisé, Paris, 20. Februar 2019.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Philippe Descamps