10.06.2021

Happy End im sechsten Stock

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Happy End im sechsten Stock

Das Brüsseler Haus der europäischen Geschichte bedient die Erzählung von Demokratie und Fortschritt – und lässt dabei einiges weg

von Jean-Baptiste Malet

Posen für Europa: die belgische Königsfamilie auf Museumsbesuch NICOLAS MAETERLINCK/picture alliance/dpa/BELGA
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Seit seiner Eröffnung vor vier Jahren hat das Haus der europäischen Geschichte im Brüsseler Parc Léopold eine halbe Million Besucher angezogen. Nach dem Passieren der Sicherheitsschleuse erklärt der Audioguide in den 24 Amtssprachen der Europäischen Union: „Dieses Museum entstand auf Initiative des Europäischen Parlaments. Auf Ihrem Weg durch die Dauerausstellung werden Sie feststellen, dass wir Ihnen nicht die Geschichte jedes einzelnen europäischen Landes erzählen.“

Die Dauerausstellung präsentiert zunächst Artefakte zur Geografie des Kontinents und zum griechischen Europa-Mythos. Und ehe man sich versieht, ist man im Frankreich des 18. Jahrhunderts: „Die absolute Monarchie, die jahrhundertelang über das Land geherrscht hatte, wurde in der Französischen Revolution 1789 von der Bevölkerung gestürzt. Die hochherzigen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden jedoch bald von der Schreckensherrschaft der Jakobiner mit ihren gewalttätigen Repressionen, Massenhinrichtungen und politischen Säuberungen zunichtegemacht. Die Guillotine diente dem französischen Staat der Revolutionszeit dazu, seine Feinde zu bekämpfen“, sagt die körperlose Stimme, während man im Hintergrund ein Fallbeil niedersausen hört.

„Die Vorstellung, dass idealistische Ziele gewalttätige Mittel rechtfertigen, kam in der europäischen Geschichte viele Male zum Tragen, unter anderem in der Gewaltherrschaft der Sowjet­union unter Josef Stalin und in Deutschland unter den Nationalsozialisten.“ Diese Analogie wird sich als roter Faden durch die gesamte Ausstellung ziehen.

Die Räume zum 19. Jahrhundert übergehen proeuropäische Pa­zi­fist:in­nen wie Victor Hugo oder Bertha von Suttner, die 1905 als erste Frau den Friedensnobelpreis erhielt. Dafür lernt man, dass der Marxismus eine „leidenschaftliche Antwort“ auf die indus­triel­le Revolution war und „die entsetzlichen Bedingungen“, unter denen die neu entstandene Arbeiterklasse arbeiten und leben musste. Aber deren „Situation verbesserte sich Ende des 19. Jahrhunderts mit der schrittweisen Einführung sozialer und politischer Rechte“.

Die Arbeiterbewegung, die diese Rechte erkämpfte, findet keine Erwähnung. Zudem weiß der Audioguide: „Eine einheitliche Arbeiterklasse hat es nie gegeben. Wer sich zur Arbeiterklasse zugehörig fühlte, war von Land zu Land unterschiedlich. Es hing davon ab, ob die Menschen in der Industrie oder in der Landwirtschaft arbeiteten und ob sie eine qualifizierte oder eine ungelernte Arbeit ausübten.“ Dagegen war das Bürgertum die „treibende Kraft der wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen“ und spielte „eine zentrale Rolle in der Entwicklung der modernen Demokratie“.

Dass ein Museum, das die europäischen Steuerzahler 55,4 Millionen Euro gekostet hat, eine derart einseitige historische Darstellung liefert, hat mit seiner Entstehungsgeschichte zu tun: Im Februar 2007 wünschte sich der deutsche Christdemokrat Hans-Gert Pöttering in seiner Antrittsrede als EU-Parlamentspräsident einen „Ort der Erinnerung und der Zukunft“ der europäischen Idee. Ein Sachverständigenrat aus verschiedenen Ländern Europas erarbeitete daraufhin ein Konzeptpapier.

Demzufolge begann der Kalte Krieg bereits 1917: „Mit dem bolschewistischen Putsch in Russland entsteht im Osten eine Diktatur und zugleich ein alternativer Gesellschaftsentwurf. Die Utopie der sozialen Gleichheit gewinnt in vielen Ländern zahlreiche Anhänger. Der Ost-West-Konflikt beginnt. In seinem Kern ist er ein Kampf zwischen kommunistischer Diktatur und freiheitlicher Demokratie.“ Vom Spanischen Bürgerkrieg heißt es, dass er „auf beiden Seiten mit äußerster Brutalität geführt“ wurde. Und so weiter. Im Dezember 2008 wurde dieses Konzept vom Präsidium des EU-Parlaments abgesegnet und ein Kuratorium von Politikern, unterstützt von einem wissenschaftlichen Beirat, mit der Realisierung des Museums beauftragt.

Hakenkreuz neben Hammer und Sichel

Der französische Kommunist Francis Wurtz, von 1979 bis 2009 EU-Abgeordneter, war Mitglied dieses Gremiums, in dem zuweilen heftig gestritten wurde. Seine Hoffnung, im Haus der europäischen Geschichte würden Widersprüche und Nuancen sichtbar gemacht, erfüllte sich nicht: „Meine Bemühungen liefen ins Leere. Dieses Museum wurde von Kalten Kriegern konzipiert und folgt der Ideologie deutscher Christdemokraten.“

Die Museumsleiterin Constanze Itzel widerspricht. „Wir wollen kein Propagandamuseum sein.“ Das Museum sei „positiven Werten“ verpflichtet und in seiner Ausrichtung pro­euro­päisch. Sie betont, der wissenschaftliche Beirat habe vollkommen unabhängig gearbeitet und das Kuratorium keinerlei Einfluss auf seine Entscheidungen genommen. „Das stimmt“, sagt Francis Wurtz, „aber da die Historiker nach ideologischen Kriterien ausgewählt wurden sind, entsprach das Ergebnis den Erwartungen des Kuratoriums.“

Die Ungarin Mária Schmidt, die als einzige Historikerin an allen Etappen vom Konzept bis zur Einweihung des Museums beteiligt war, gehört immer noch dem wissenschaftlichen Beirat an. Im Forbes-Ranking der reichsten Menschen Ungarns belegt sie Platz 42. Ihr gehörte die regierungsnahe Wochenzeitschrift Figyelő, als diese im Dezember 2018 auf der Titelseite den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden Ungarns, András Heisler, zeigte, umflattert von Geldscheinen. „Mária Schmidt“, schrieb Le Monde im August 2018, „die manche Ungarn für noch ideologischer halten als Viktor Orbán, dessen Beraterin sie von 1998 und 2002 war, ist eine der zentralen Figuren der ‚illiberalen Demokratie‘.“

Ihr neuestes Buch „From Coun­try to Homeland“ (2020) handelt vom „Kampf der mitteleuropäischen Länder um Souveränität“. Würden auf einer CDU-Tagung ein paar Seiten daraus vorgelesen, erlitten die Zuhörer vermutlich reihenweise Herzattacken.

Seit 2002 leitet Schmidt das von der Regierung Orbán finanzierte Museum „Haus des Terrors“ in Budapest. Auf drei Etagen wird gezeigt, wie Ungarn Opfer von zwei ähnlichen tyrannischen Regimen wurde, des Nationalsozialismus und des Kommunismus. Sehr effektvoll, wie die New York Times zur Eröffnung berichtete: „Gestaltet von einem ungarischen Architekten, der auch Bühnenbilder für Hollywood entwirft, präsentiert das Museum Folterinstrumente sowie furchterregende Bilder des lächelnden Stalin.“1

Auch im Brüsseler Museum werden Nationalsozialismus und Kommunismus auf dieselbe Stufe gestellt. Filmmaterial aus deutschen und sowjetischen Archiven läuft auf parallelen Großbildschirmen: Reden von Hitler und Stalin, Militärparaden, Bücherverbrennungen und Kirchenzerstörungen. Das Hakenkreuz neben Hammer und Sichel.

Das Münchner Abkommen vom September 1938 hingegen, mit dem Frankreich, Großbritannien und Italien Hitler erlaubten, in die Tschechoslowakei einzufallen, kommt in der Ausstellung nicht vor, der Krieg beginnt hier mit dem Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion im August 1939. Die für den Kriegsverlauf entscheidende Schlacht von Stalingrad taucht nicht auf, so wenig wie der kommunistische Widerstand gegen die Nazis. Die Vernichtungslager werden im selben Atemzug wie der sowjetische Gulag genannt: „Die meisten jüdischen Opfer wurden gleich bei der Ankunft in den Konzentrationslagern getötet. Unter sowjetischer Besatzung wurden in den Lagern des Gulag Menschen isoliert und vernichtet, die dem Aufbau des Kommunismus im Wege zu stehen schienen, wobei die Opfer oft rein willkürlich ausgewählt wurden.“

In den oberen Stockwerken des Museums wird in hellen, bunten Räumen europäische Erfolgsgeschichte erzählt: Wiederaufbau, Geburt der Wohlfahrtsstaaten, Römische Verträge und Élysée-Vertrag, die erste Erweiterung et cetera. Von den vielen großen Arbeiterstreiks im 20. Jahrhundert wird einzig der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 kurz erwähnt.

Schließlich 1989: Ende des Zeitalters der Revolutionen. Vom Krieg in Ex-Jugoslawien zum Euro, von der europäischen Verfassung zu den EU-Erweiterungen und der griechischen Schuldenkrise geht es reibungslos und harmonisch weiter – mit reichlich wirtschaftlichem Fortschritt.

Keine Silbe wert sind der erbarmungslose Konkurrenzdruck, unter dem die europäischen Arbeitnehmer stehen, die Produktionsverlagerungen nach Osten und die Migration von Millionen billiger Arbeitskräfte nach Westen. Der Kommunismus hat verloren, der Kapitalismus gesiegt, 2012 bekommt die Europäische Union den Friedensnobelpreis: Happy End im sechsten Stock.

1 Ian Fisher, „Hungary tells its past and stumbles on the present“, The New York Times, 20. April 2002.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Jean-Baptiste Maltet ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 10.06.2021, von Jean-Baptiste Malet