13.05.2021

Abschied vom Kibbuz

zurück

Abschied vom Kibbuz

Nach der israelischen Parlamentswahl vom 23. März ist Ministerpräsident Netanjahu ein weiteres Mal mit der Regierungs­bildung gescheitert. Das Land ist tief gespalten – und die zionistische Linke ist mitsamt ihren Idealen in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.

von Thomas Vescovi

Jüdische Siedler in Palästina, 1920er Jahre picture alliance/Everett Collection
Audio: Artikel vorlesen lassen

Nach vier Parlamentswahlen innerhalb von zwei Jahren ist eines ganz deutlich geworden: Der Einfluss der israelischen Arbeiterpartei (Awoda) ist zugunsten der Bündnisse zwischen Nationalisten und Religiösen dahingeschwunden. Die Utopie des linken Zionismus – die Gründung eines jüdischen Staates auf sozialistischer Grundlage – ist offensichtlich gescheitert.

Die Linke hat in der Geschichte Israels eine zentrale Rolle gespielt: Sie war die treibende Kraft bei der Staatsgründung 1948 und stellte während der darauf folgenden drei Jahrzehnte die Mehrheit im Parlament, der Knesset. Von 1992 bis 1996 und von 1999 bis 2000 führte sie die Regierung an. Doch zuletzt verbuchte die Linke (Meretz-Partei und Awoda) die schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte: Bei der Wahl im März 2020 errangen sie zusammen 7 der 120 Knesset-Sitze, bei der jüngsten Wahl im März dieses Jahres 13 Sitze.

Um diesen Niedergang zu erklären, hilft es, an die Ursprünge und Widersprüche des linken Zionismus zu erinnern: Bereits auf dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel spaltete sich die zionistische Bewegung in unterschiedliche Strömungen. Die Bürgerlichen sammelten sich um den österreichisch-ungarischen Journalisten Theodor Herzl, der sich für einen liberalen jüdischen Staat einsetzte und versuchte, die diplomatische und mate­riel­le Unterstützung des kapitalistischen Westens zu gewinnen.

Andere traten für einen sozialistischen Zionismus ein: Die größtenteils marginalisierten Juden sollten Arbeiter und Bauer werden, um dem Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Ab den 1920er Jahren gelang es diesem linken „Arbeiterzionismus“, sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.

Einig waren sich die beiden Frak­tio­nen darüber, dass nur ein jüdischer Staat den Juden ein Leben in Sicherheit und frei von Antisemitismus ermöglichen würde. Ihre Lage in Europa war prekär: Immer wieder wurde zu ihrer physischen Vernichtung aufgerufen – im russischen Zarenreich kam es zu dieser Zeit zu zahlreichen Pogromen.

Zugleich versuchten sich viele Juden in die europäischen Gesellschaften zu integrieren, gaben ihre Religion auf und lösten sich aus der jüdischen Gemeinschaft. Doch diese Strategie der Assimilation verhinderte nicht, dass der Antisemitismus immer weiter um sich griff und die Bedrohung der Juden zunahm.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert, als sich die zionistische Bewegung formierte, bauten die europäischen Mächte ihre Kolonialreiche in Asien und Afrika massiv aus. Auch das zionistische Projekt war stark vom kolonialen Denken dieser Zeit beeinflusst. Die Gründer der Bewegung forderten nicht nur die Anerkennung des Rechts auf Souveränität für die Juden, sondern auch das Recht, sich in Palästina niederzulassen, wo damals weniger als 5 Prozent der Bevölkerung jüdisch war.

Der universalistische Ansatz der Linken mit den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit für alle Völker schien im Widerspruch zum Zionismus zu stehen, da er sich einzig für die Juden einsetzte. Für Europas Linke kamen die marxistischen oder sozialistischen Prinzipien an erster Stelle; mit der sozialen Revolution würde auch die Emanzipation der Juden kommen, nicht durch die Schaffung eines Staats viele tausend Kilometer entfernt vom Ort der eigentlichen Kämpfe. Nationalistische und erst recht ethnisch-religiöse Sichtweisen waren unvereinbar mit dem Klassenkampf, der doch Menschen auf Grundlage ihrer gemeinsamen sozialen Lage einen sollte.

Aber diejenigen, die unter dem Antisemitismus und den alltäglichen Demütigungen litten, denen jede soziale Anerkennung verwehrt blieb, konnten nicht warten, bis irgendwann vielleicht die Revolution triumphierte. So gewann der Zionismus auch unter linken Aktivisten an Boden, deren Ideale von Revolution und Fortschritt sich mit Vorstellungen des kolonialistischen Zeitgeists vermischten.

Sozialistische Avantgarde des Nahen Ostens

Die arabische Bevölkerung in Palästina war überwiegend bäuerlich und in traditionellen politischen Modellen organisiert. Ihr gegenüber sahen sich die Linkszionisten als revolutionäre Avantgarde, von der der Sieg des Sozialismus im Nahen Osten abhing. Genau wie die bürgerlichen Zionisten gingen sie davon aus, dass ihr Projekt gerecht, modern und fortschrittlich sei und dass die Araber davon nur profitieren könnten.

Diese Überzeugung begann in den 1920/30er Jahren zu bröckeln, als sich die Araber in Palästina in mehreren Aufständen gegen die Enteignung ihres Landes und das undurchsichtige Spiel der britischen Mandatsmacht zur Wehr setzten. Dies führte zum UN-Teilungsplan für Palästina von 1947, der die Schaffung eines jüdischen und eines arabischen Staats vorsah. Er wurde durch den ersten israelisch-arabischen Krieg hinfällig, als es zionistischen Kämpfern gelang, 78 Prozent des Mandatsgebiets unter ihre Kontrolle zu bringen. Auf diesem Gebiet wurde 1948 der Staat Israel gegründet.

Von Beginn an missachtete Israel die UN-Resolutionen, und das, obwohl die politische Agenda im Land von der Linken diktiert wurde. Der herrschende „Arbeiterzionismus“ gestand den Arabern innerhalb der Grenzen des Staates nicht die gleichen Rechte zu, und den Palästinenser wurde das Recht verwehrt, in Würde und Freiheit in ihrer Heimat zu leben. So verblasste nach und nach der fortschrittliche Anstrich des Zionismus, übrig blieb das konservativ-kolonialistische Element.

Das Bild des jüdischen Revolutionärs, der nach Palästina kam, um mit seinen Genossen einen fortschrittlichen Staat und eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, ist bis heute tief in der Vorstellung vieler Europäer verwurzelt. Doch der Kollektivismus der Kibbuzim und die landwirtschaftliche Pionierarbeit spielen im heutigen wirtschaftlichen und sozialen Gefüge Is­raels keine Rolle mehr.

In den besetzten Gebieten ist eine kolonialistisch-repressive Politik Realität und wirtschaftlich folgt Israel einem harten neoliberalen Kurs, der für eine immer größere soziale Ungleichheit sorgt. Im OECD-Vergleich liegt Israel auf einem der letzten Plätze. Hinzu kommt die Vergiftung des politischen Klimas: Viele Intel­lek­tuel­le und Journalisten beschreiben die Entwicklung seit den 2000er Jahren als „Rechtsruck“ oder gar „faschistisches Abdriften“.

Der Staat der ersten Jahrzehnte, beruhend auf den Prinzipien des Laizismus und der Solidarität, existiert nicht mehr. Sozialistische Werte sind in Vergessenheit geraten – im Gegensatz zur Ideologie des religiösen Nationalismus. Im September 2019 wurden zum Beispiel nur 41 Prozent der Kinder in öffentlichen Schulen eingeschult, die anderen in privaten, meist religiösen Institutionen.

Die neue geistige Orientierung wirkt sich auch auf das Militär aus. Nach Angaben der Organisation Mesarvot (Verweigerung) leisten knapp 50 Prozent der Schulabgänger keinen Militärdienst. Darunter sind pro Jahr nur etwa ein Dutzend, die aus politischen oder Gewissensgründen verweigern. Die allermeisten werden freigestellt, weil sie ultraorthodox sind oder weil andere Ausnahmeregelungen für sie gelten, etwa aus beruflichen Gründen.

Der israelische Staat kennt zwar nur ein „jüdisches Volk“, doch die Konflikte zwischen den einzelnen Gruppen – Aschkenasim, Falaschen, Sephardim, Mizrachim1 , Russischsprachige – ist allgegenwärtig. Sie konkurrieren untereinander um die einflussreichen Posi­tio­nen im Land.

Elitäre Ideen von ­Privilegierten in Tel Aviv

Heute machen die Aschkenasim, die verhältnismäßig häufig der zionistischen Linken angehören, nur noch etwa 30 Prozent der jüdischen Israelis aus. Zwischen 2017 und 2019 war jedoch Avi Gabbay, Sohn jüdischer Einwanderer aus Marokko, Vorsitzender der Awoda. Auf das Wahlverhalten der Mizrachim, die traditionell eher rechts wählen, hatte das aber keinen Einfluss.

Dabei hatte Gabbay die konservative Wählerschaft umworben, indem er die Siedlungen auf Palästinensergebiet als die „schöne Seite des Zionismus“ pries und es als einen Irrweg der Linken bezeichnete, dass sie vergessen hätte, was Jüdischsein bedeute. Auch sein Nachfolger bis Januar 2021, Amir Peretz, ebenfalls marokkanischer Abstammung, konnte die Awoda-Wahlergebnisse nicht verbessern.

Ein weiteres Problem der Linken ist, dass sie sich von Teilen der Bevölkerung entfremdet hat. Für den Politologen Ilan Greilshammer hat die gesamte zionistische Arbeiterbewegung, inklusive Meretz, „keinerlei Beziehungen zur einfachen Bevölkerung“.2 Die linken Parteiführer seien „niemals in Sderot oder Netiwot“ gewesen – zwei Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens –, sie seien dort höchstens mal „mit dem Auto durchgefahren“.

Ihre Ideen werden meist als elitär wahrgenommen – erdacht von den Privilegierten in Tel Aviv. Wie in vielen anderen Ländern ist in Israel die rechte Wählerschaft sozial viel schwächer als die linke, die Araber ausgenommen. Nach der Wahl vom April 2019 untersuchte der Journalist Meron Rapoport das Wahlverhalten in 37 der ärmsten jüdischen Kommunen des Landes, in denen insgesamt 1 Million Wählerinnen und Wähler leben, größtenteils Russischsprachige und Mizrachim.3

Bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent entsprachen ihre Stimmen 30 Sitzen in der Knesset. Die zionistische Linke kam in diesen Kommunen auf 3,25 Prozent, was genau einen Abgeordnetensitz bedeutet. Die nationalistische Rechte dagegen auf 22 Mandate, darunter 12 für den Likud.

Die Partei von Benjamin Netanjahu und deren Verbündete sind an den Rändern der Gesellschaft gut vertreten, auch aufgrund der karitativen Organisationen, die Schulen subventionieren und Kinderbetreuung anbieten. Vor ein paar Jahrzehnten waren solche Aktivitäten noch die Domäne der His­ta­drut, des Dachverbands der israelischen Gewerkschaften, und sie spielten eine zentrale Rolle für den Erfolg der Arbeiterpartei unter den sozial schwächsten Schichten.

Die zionistische Linke leidet auch darunter, dass sie mit den Kibbuzim ein Milieu verloren hat, dem viele ihrer Führungspersönlichkeiten entstammten und mit dem sie lange den Staat und seine Institutionen kontrollieren konnte. Die Kibbuzim boten den linken Zionisten eine politische Bildung, die zusammen mit der Militärausbildung die Basis für eine erfolgreiche Karriere in der Arbeiterbewegung darstellte.

Heute gibt es noch etwa 250 Kibbuzim in Israel, von denen die meisten jedoch privatisiert sind. Mit Baugrundstücken für Einfamilienhäusern und Freizeitanlagen ziehen sie junge Paare mit Kindern an, die auf der Suche nach einem gesünderen Lebensumfeld sind. Nur einige wenige arbeiten noch nach kollektivistischen Prinzipien wie Lohngleichheit und einem Leben in Gemeinschaft.

Zudem wissen die meisten Aktivisten der zionistischen Linken sehr wenig über die palästinensische Realität. Sie wissen nicht, was es heißt, unter militärischer Besatzung zu leben. Autorinnen und Autoren wie Amira Hass oder Gideon Levy, die aus den besetzten Gebieten berichten, verurteilen sie als Miesmacher und Nestbeschmutzer.

Auffällig ist auch das Desinteresse der Linkszionisten gegenüber NGOs wie Breaking the Silence, B’Tselem oder Yesh Din, die über die Realität der Besatzung aufklären. Diese Orga­ni­sa­tio­nen sind die letzten Säulen der is­rae­li­schen Friedensbewegung, die Regierung schränkt ihre Aktivitäten massiv ein und brandmarkt sie als Vaterlandsverräter.4 Allerdings erhalten sie kaum politische Unterstützung von den Führungsfiguren der Linken. Denn diese sorgen sich eher um die Wählerstimmen der mittlerweile über 600 000 Siedler.

Indem sich die zionistische Linke von einem wichtigen Teil ihrer Stammwählerschaft entfernt, nimmt sie sich die Chancen, eine eigene Dynamik zu entfachen. Stattdessen müsste sie sich als echte Alternative zur kolonialistischen, allein auf Sicherheitspolitik fixierten Propaganda von Benjamin Netanjahu positionieren.

1 Mizrachim ist die in Israel gebräuchliche Bezeichnung für aus Asien und Afrika und insbesondere aus dem ­Nahen Osten stammende jüdische Bevölkerungs­grup­pen.

2 Chloé Demoulin, „La gauche israélienne se cherche à droite … et ne se trouve pas“, Mediapart, 8. Juni 2018.

3 Meron Rapoport, „Israel’s left lost a million votes in the last polls. Here’s how they get them back“, Middle East Eye, 19. August 2019.

4 Siehe Charles Enderlin, „Kampf der Kulturen in Is­rael“, LMd, März 2016.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Thomas Vescovi ist Historiker. Dieser Text beruht auf seinem Buch „L’Échec d’une utopie. Une histoire des gauches en Israël“, Paris (La Découverte) 2021.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Thomas Vescovi