13.05.2021

David gegen Amazon

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David gegen Amazon

In Alabama mobilisierten Angestellte des Online­versandhändlers, für den Gewerkschaftskampf – und scheiterten

von Maxime Robin

Protest in Bessemer, 5. März 2021 DUSTIN CHAMBERS/reuters
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David gegen Goliath. Der Vergleich tauchte immer wieder auf bei den Diskussionen um die Gründung einer gewerkschaftlichen Betriebsgruppe bei BHM1, dem 8 Hektar großen Amazon-Logistikzentrum in Bessemer, Alabama. Die Initiative dazu hatten Beschäftigte gestartet, die es schafften, im Frühjahr dieses Jahres eine Abstimmung über ihre Forderung zu organisieren.

Der biblische Vergleich war nicht aus der Luft gegriffen: In einem der konservativsten Bundesstaaten der USA forderte die Belegschaft des Amazon-Lagers – die überwiegend aus afroamerikanischen Frauen und Männer besteht – eines der weltweit mächtigsten Unternehmen heraus. Dessen Besitzer Jeff Bezos ist der reichste Mensch auf diesem Planeten.

In der Bibel besiegte der kleine David den Riesen Goliath. In Bessemer endete es umgekehrt. Als am 9. April die Stimmen ausgezählt wurden, hatten von den 5805 Beschäftigten nur 738 mit Ja, aber 1798 mit Nein votiert. Die Branchengewerkschaft RWDS zweifelte das Ergebnis an, und ihr Vorsitzender Stuart Appelbaum warf Amazon vor, eine neutrale Abstimmung verhindert zu haben. 2014 war ein ähnlicher Versuch an einem Amazon-Standort in Delaware gescheitert; auch dort hatte der Gigant des Onlinehandels die Gründung einer Gewerkschaftssektion verhindert.

Wer in den USA in einem Unternehmen eine Gewerkschaftssektion etablieren will, hat einen wahren Kreuzweg vor sich. In Bessemer begann er im August 2020, als der Lagerarbeiter Darryl Richardson bei der RWDSU anrief. Im nächsten Schritt musste die Gewerkschaft gegenüber der US-Arbeitsrechtsbehörde NLRB (National Labor Relations Board) belegen, dass 30 Prozent der BHM1-Belegschaft die Gründung der Sektion wünschen.

Ist der Beweis erbracht, kommt es nach einer stets erbittert geführten Kampagne zur Abstimmung. Der Kampf muss in jedem Werk, jedem Verbrauchermarkt und jeder Fast-Food-Filiale einzeln durchgefochten werden. Ein Sieg der Ja-Fraktion in Bessemer hätte in den anderen Amazon-Lagern also nichts geändert. Für die Beschäftigten bedeutet die lange Kampagne eine erhebliche Belastung. Und im Fall einer Niederlage müssen diejenigen, die sich an die ­RWDSU gewandt haben, mit Repressalien und häufig auch mit der Kündigung rechnen. Angesichts dessen ist nicht erstaunlich, dass in der US-Privatwirtschaft lediglich 6,3 Prozent der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind.

In den letzten 20 Jahren hat Amazon in den USA 110 Logistikzentren in der Größe von BHM1 errichtet; 33 weitere sind geplant.1 Mit knapp 1 Million Beschäftigten ist der Konzern nach der Supermarktkette Walmart der zweitgrößte private Arbeitgeber der USA. Die Geschäfte von Amazon haben durch die massive Zunahme der Onlinekäufe im Zuge der Coronakrise einen so kräftigen Schub erhalten, dass die Statistik der gemeldeten Neueinstellungen kaum noch hinterherkommt. Die Rekrutierung von Arbeitskräften ist erheblich leichter geworden, seit Millionen Menschen während der Pandemie in die Erwerbslosigkeit abgestürzt sind. Dieser Beschäftigungsboom ist historisch beispiellos und allenfalls noch mit den frühen 1940er Jahren vergleichbar, als die US-Industrie im Zuge der Kriegsproduk­tion immer neue Arbeitskräfte einstellte.2

Um die Dimensionen zu veranschaulichen, spricht der Journalist Alec MacGillis vom „Amazon-Effekt“, der in der ökonomischen Landschaft der USA eine neue Schichtung etabliert: Ganz oben stehen Städte wie Seattle, Washington oder Boston, wo die Amazon-Verwaltungszentren mit ihren gut ausgebildeten und bezahlten Beschäftigten zu Hause sind. Zur zweiten Schicht gehören die „Lagerstädte“, in denen „deutlich schlechter bezahlte Arbeitskräfte den Warenumschlag abwickeln“. Die unterste Schicht bildet der Rest des Landes, wo der Boom des Onlineshoppings den ortsansässigen Handel ruiniert, ohne dass neue Arbeitsplätze entstehen würden – es sei denn im Delivery-Sektor.3

Bessemer gehört zur zweiten Schicht: den Lagerstädten. Seit in den 1990er Jahren das Pullman-Werk, das Eisenbahngüterwagen produziert hatte, dichtgemacht hat, gibt es hier nur noch darbende Kleinbetriebe. Mit seinem geschwächten Sozialgefüge ähnelt Bessemer vielen anderen Standorten, die sich Amazon für seine gigantischen Logistikzentren aussucht, etwa Sparrows Point im Speckgürtel von Baltimore oder King of Prussia in der Nähe von Philadelphia.

Nach Beginn der Kampagne wurden 50 Leute gefeuert

Diese Krisenstädte lassen sich, um Amazon anzulocken, auf einen Unterbietungswettbewerb mit immer weiter reduzierten Unternehmenssteuersätzen ein. „Bessemer bietet wettbewerbsfähige Abgabevergünstigungen, erschwingliche Gewerbemieten, gut ausgebildete Arbeitskräfte und geringe Lebenshaltungskosten“, verspricht die Website der örtlichen Handelskammer. Der demokratische Bürgermeister Kenneth Gulley bezog vor der Abstimmung über die Gewerkschaftsgründung keine Position. Im Februar 2021 begrüßte er in seiner „Rede zur Lage der Stadt“ die Ansiedlung von Amazon und pries „die wirtschaftsfreundliche Atmosphäre“ der Stadt. Über den Konflikt in BHM1 kein Wort.

Die Gewerkschaften genießen bei den Volksvertretungen im Süden der USA nicht immer einen guten Ruf. Alabama gehört zu den 27 „Right-to-work“-Staaten, in denen die Gewerkschaften ihre Mitglieder nicht zur Zahlung von Beiträgen verpflichten können, wodurch sie finanziell geschwächt sind. Die unternehmerfreundliche Gesetzgebung und Besteuerung begünstigt die Ansiedlung großer, vor allem deutscher und japanischer Automobilkonzerne und entsprechender Zulieferfirmen. Das erklärt, warum in Alabama das einzige gewerkschaftsfreie Mercedes-Werk der Welt entstehen konnte.

Vor diesem Hintergrund war die in Bessemer gestartete Kampagne eine Überraschung: BHM1 ist ein neues, erst im März 2020 eröffnetes Logistiklager mit 6000 Arbeitsplätzen. Der niedrigste Stundenlohn beträgt 15,30 Dollar und damit das Doppelte des in Alabama geltende Mindestlohn. Damit liegt das Lohnniveau etwas unter dem der Autoindustrie, aber über dem bei Walmart oder in der Fast-Food-Branche (wo es bei 11 respektive 15 Dollar liegt). Zudem bietet Amazon eine Krankenversicherung ab dem ersten Arbeitstag, was in der US-Privatwirtschaft durchaus nicht die Regel ist.

Die Gewerkschafter, die wir Ende März bei unserem Besuch bei der RWDSU in Alabamas größter Stadt Birmingham antrafen, sahen mitgenommen aus. Sichtlich erschöpft von einem mehrmonatigen Marathon, empfingen die Organisatoren gerade im kleinen Kreis einen prominenten Unterstützer. Der Schauspieler Danny Glover war gekommen, um die Kämpfenden zu motivieren, den Organisatoren ermunternd auf die Schultern zu klopfen und seine Geschichte zu erzählen.

Mehr als eine Stunde erzählte Glover abwechselnd witzige Anekdoten von seinen Dreharbeiten als Schauspieler und ernstere Geschichten von seinen Vorfahren, die in Louisville im Nachbarstaat Georgia als Sklaven geboren wurden, und von seinen Großeltern, die als Pachtbauern für einen weißen Grundbesitzer Baumwolle pflückten.

Die Amazon-Mitarbeiterin Jennifer Bates berichtete Glover von den unerträglichen Zeitvorgaben bei Amazon. Sie klagte, dass sie es wegen der weiten Wege in der Riesenhalle nicht auf die Toilette schaffe, dass Überstunden in letzter Minute angesetzt würden und dass sie es satthabe, sich die Aufgaben von einem Algorithmus vorgeben zu lassen, der jede Sekunde mitzählt.

„Ich werde nie begreifen, wie ein zurechnungsfähiger Mensch sich so ein System ausdenken und dann auch noch erwarten kann, dass die Leute ein erfülltes Leben haben“, empörte sich Bates. „Wie soll man Arbeitstage mit zehn, elf oder zwölf Stunden mit der Familie vereinbaren?“

Der Marktgigant Amazon sieht sich immer noch als „junges“, als ewiges „Start-up-Unter­nehmen“, wie sein Gründer Jeff Bezos in einem Ak­tio­närs­brief vom April 2017 darlegte: „Tag zwei ist Stillstand, gefolgt von Bedeutungslosigkeit, von qualvollem Niedergang, vom Tod. Deshalb ist für uns immer Tag eins.“ Um diese Aufbruch­stimmung am Leben zu erhalten, muss der Konzern unablässig die Produktivität steigern und die Arbeitskosten senken. Deshalb nimmt er auch jeden Rückschlag als existenzielle Bedrohung wahr.

Perry Connelly ist ein sportlicher Typ um die 50 und landete im BHM1, nachdem er wegen der Pandemie seinen Sicherheitsdienstjob am Flughafen verloren hatte. Heute verdient er so viel, wie er früher an Steuern gezahlt hat. Sein Einstieg bei Amazon war also ein klarer Abstieg. Als Stower hat er die Aufgabe, die Artikel zu scannen und in das Regalfach mit dem entsprechenden Barcode zu sortieren. „Die Mittagspause ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Pinkeln, dann zum Pausenraum, Essen holen, Platz suchen. Zum Essen bleiben mir vielleicht zwölf Minuten.“

Nie zuvor war Perry Connelly dermaßen eingetaktet: „Ich registriere mich am Computer, scanne die Barcodes. Der Computer ermittelt, wie viel Zeit zwischen zwei Scanvorgängen verloren vergeht.“ Das ist die berühmte „time off task“, abgekürzt TOT, über die bei Amazon alle reden. „In übergeordneter Sicht der Maschine ist das Zeit, in der du nichts tust. Amazon will eine möglichst kurze TOT, aber die TOT hängt zwangsläufig davon ab, welche Waren man zugewiesen bekommt.“ Ein falscher Barcode oder ein Rabattcode, und schon beginnt der Ärger.

Nervös lachend schildert Connelly die hektische Atmosphäre, die im Lager herrscht und ständig zwischen Korpsgeist und Rivalität im Wettlauf gegen die Uhr schwankt. „Amazon veranstaltet einen permanenten Konkurrenzkampf. Wer die meisten Waren in die Regale einsortiert, bekommt fünfzehn Minuten mehr Pause oder ein T-Shirt.“ Vor der Abstimmung über die Gründung einer Gewerkschaftssektion bot Amazon für eine Eigenkündigung eine Abfindung an. Der Konzern wollte also, dass unzufriedene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht an der Abstimmung teilnehmen. Laut Connelly hat Amazon seit Beginn der Kampagne 250 Leute gefeuert.

In einer Region, in der 2016 und 2020 etwa 40 Prozent der afroamerikanischen Stimmen für Donald Trump abgegeben wurden,4 stellen die Ge­werk­schaften ihren Kampf bewusst in die Kontinuität mit den Bürgerrechtskämpfen von Pastor Martin Luther King und der Black-Lives-Matter-Bewegung und kritisieren die heuchlerische Haltung von Amazon. „Das Leben der Schwarzen ist ihnen egal“, empörte sich Darryl Richardson im New York Magazine. „Sie wollen den Leuten weismachen, dass sie auf ihrer Seite stehen, vor allem in ihrer für Verehrung Martin Luther King. Auf den Fluren liegen Broschüren über ihn, hängen Fotos von ihm. Das ist alles nur Show. Weil die meisten Arbeitskräfte im Logistikzentrum Schwarze sind.“5

Die Erinnerung an King ist in Alabama vielerorts präsent. In Bessemer wurde er am 30. Oktober 1967 verhaftet, weil er einen ungenehmigten Marsch für die Gleichberechtigung organisiert hatte. Die Sache landete vor dem Supreme Court, der Kings Einspruch ablehnte; der musste fünf Tage Haft absitzen und 50 Dollar Bußgeld zahlen. Am 4. April 1968, dem Tag seiner Ermordung (die Tatwaffe war in Bessemer gekauft worden), kam er nach Memphis, um einen Streik schwarzer Müllarbeiter zu unterstützen, die höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen forderten.6

Führende Repräsentanten der De­mo­kra­ten (Kongressabgeordnete, einflussreiche Geistliche), die vor der Abstimmung bei Amazon reihenweise in Bessemer auftauchten, unterstützten die Strategie der Gewerkschaft und feierten die Stadt schon als „neues Selma“.7 Der angereiste Rapper Killer Mike verglich Jeff Bezos gar mit einem „Plantagenbesitzer“, die Hitze und Hetze in den Amazon-Lagerhäusern mit den früheren Arbeitsverhältnissen auf den Baumwollfeldern.

Doch all die feurigen Reden konnten die Belegschaft nicht überzeugen. Im Nachhinein wirkt die fehlgeschlagene Kampagne wie eine gigantische Fata Morgana. Wer sich in den sozialen Netzwerken, den Medien und auf Youtube umgesehen hatte, wäre jede Wette eingegangen, dass das Ja-Lager gewinnen würde. Mächtige Gewerkschaften, wie die der Profis der National Football League (NFL), der Hollywood-Drehbuchautoren oder der Künst­le­rinnen und der Universitätsangehörigen, stärkten der Initiative den Rücken. Sogar US-Präsident Joseph Biden machte sich zwei Wochen vor Ende der Abstimmung öffentlich für die gewerkschaftliche Organisierung stark – ein ähnliches Signal der Unterstützung hatte kein US-Präsident seit Franklin Roosevelt ausgesandt.

Die romantische Verklärung des Konflikts in der Medienberichterstattung trug sicher zu der allgemeinen Illusion bei, dass das Ja-Lager siegen werde. Dabei wurden die schwer durchschaubaren Realitäten vor Ort nur verzerrt wahrgenommen. Die Pandemie, die Medienpräsenz und die Agitation der Gewerkschaften vor dem Logistikzentrum sorgten für eine angespannte Stimmung. Zudem machte es der Schauplatz – ein riesiges fensterloses Warenlager in einem Gewerbegebiet, der von der Polizei und von Wachleuten überwachte Parkplatz, die von Gewerkschaftsmitgliedern besetzte Straßenkreuzung – schwierig oder gar unmöglich, mit den Beschäftigten direkt in Kontakt zu kommen. Der blieb auf das Dutzend Männer und Frauen beschränkt, die sich öffentlich für die Gewerkschaft engagierten, und auf die rundum glücklichen Betriebsangehörigen, die von der PR-Abteilung des Unternehmens präsentiert wurden.

Ganz ohne Zweifel hat Amazon unrechtmäßige Mittel und alle technischen Raffinessen aufgeboten, um sein Personal zu beeinflussen. Hinter den Türen des Logistikzentrums hielt das Management obligatorische „Informationsveranstaltungen“ ab, bei der die Folgen der Gründung einer Gewerkschaftssektion dargelegt wurden. Zusätzlich wurde die Belegschaft mit Handy-Textnachrichten bombardiert, um die Gewerkschaft als Angreiferin darzustellen. Da hieß es zum Beispiel: „Lassen Sie nicht zu, dass Fremde ein Gewinnerteam spalten! Sie sollten nicht einen Mittelsmann dafür bezahlen, dass er an Ihrer Stelle spricht, und Sie sollten keine Beiträge zahlen, um etwas zu bekommen, was Sie bereits haben – und zwar kostenlos.“

Ende Januar engagierte Amazon (für mehrere tausend Dollar am Tag) spezielle Berater: die berühmt-berüchtigten „union busters“ – Gewerkschaftsknacker.8 Die verbreiteten das Schreckensgerücht, falls die Belegschaft „Verrat“ begehe, werde Amazon womöglich den Standort schließen – nach dem Vorbild von Walmart, das 2009 die Gründung einer Gewerkschaft in einer Filiale in Kanada mit der Schließung beantwortet hatte.

Wo immer Amazon seine Interessen bedroht sieht, scheute man auch vor Verstößen gegen das Arbeitsrecht nicht zurück, wobei die Arbeitsrechtsbehörde NLRB keine finanziellen Sanktionen gegen das Unternehmen verhängen konnte. Arbeiterinnen und Arbeiter, die in Delaware und Virginia versucht hatten, Gewerkschaftssektionen in Amazon-Betrieben zu gründen, berichten von brutalen Praktiken, Drohungen und Repressa­lien; einem Mitarbeiter, der wegen einer Knieoperation krankgeschrieben war, wurde sogar rechtswidrig gekündigt.

In Chester im Bundesstaat Virginia wurde das Unternehmen von den Behörden dazu verdonnert, einen Aushang zu machen, auf dem alle Maßnahmen aufgelistet waren, die zu unterlassen das Unternehmen sich verpflichtet hatte. Da hieß es: „Wir werden Ihnen nicht mit Kündigung drohen; wir werden Sie nicht zu Ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten befragen; wir überwachen Sie nicht; wir drohen Ihnen keine Repressalien an.“ Der Text sollte das Personal beruhigen, aber er könnte auch das Gegenteil bewirkt haben, denn er zählte genau die Gefahren auf, die widerspenstigen Mitarbeitern drohen könnten.9

Ein Journalist, der frustriert war, weil er einfach nicht an die Beschäftigten in Bessemer rankam, schlich sich trotz der Gefahr, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, auf den Parkplatz des Logistikzentrums. Für den 35-jährigen Mike Elk war dies schon die fünfte Kampagne zur Gründung einer Gewerkschaftssektion im Süden der USA, über die er berichtete. Er selbst war 2016 von der Zeitung Politico entlassen worden, weil er in der Redaktion für eine gewerkschaftlich Vertretung geworben hatte. Mit seiner Abfindung finanzierte er sein eigenes Medium Payday Report, das sich der „sozialen Berichterstattung in medialen Wüstengebieten“ verschrieben hat.

Elk hatte zunächst von Pittsburgh aus die Anfänge der Mobilisierung in Bessemer mit Optimismus verfolgt, aber vor Ort gewann er einen anderen Eindruck. Bei einer Kundgebung mit Bernie Sanders vor dem Gewerkschaftsbüro in Birmingham am 26. März konstatierte er, dass die Medienleute stärker vertreten waren als die BHM1-Belegschaft.

Die Gewerkschaft vernachlässigte die Basisarbeit

Dann schlich sich Elk mit seinem Mikrofon – und in einem auffälligen Hawaiihemd – an das Lagerhaus heran, wurde allerdings von einem Security-Mitarbeiter entdeckt und vom Gelände verwiesen. Doch zuvor war es ihm gelungen, vier schwarze Lagerarbeiter zu interviewen. Alle hatten vor, mit Nein zu stimmen. „Ich bin dagegen, weil ich mich mit Gewerkschaften nicht auskenne und nie mit ihnen zu tun hatte“, meinte der 32-jährige Ashley. Und ein 19-jähriger Angestellter bezeichnete die Gewerkschaft als „Dieb“, der ihm einen Teil seines sauer verdienten Geldes wegnehmen wollte. Es war das zentrale Argument, das Amazon bei seinen Informationsveranstaltungen verbreitet hatte. Und eine speziell eingerichteten Internetseite trug den Titel „Do it Without Dues“ (Es geht auch ohne Beiträge).

Ein älterer Arbeiter erklärte, er habe die ­RWDSU früher schon mal erlebt, und die Verhältnisse an seinem damaligen Arbeitsplatz hätten sich nicht verbessert. Der vierte Befragte trug eine Halskette aus Anstecknadeln, sämtliche mit der Botschaft, mit Nein zu stimmen: „Die tragen alle“, erklärte der Mann, „die verteilen die Anstecker im Betrieb.“ Von den Referenten, die auf den Informationsveranstaltungen über die Gewerkschaften sprachen, meinte er, die seien „cool“ und keinesfalls drohend: „Sie haben uns einfach nur erklärt, was eine Gewerkschaft bedeutet.“

Für die Verbreitung dieser Interviews wurde Elk in den sozialen Netzwerken heftig gescholten; man warf ihm vor, er sei dem Ar­beit­ge­be­r­la­ger zu Diensten. Der Journalist konterte, es komme darauf an, „zu verstehen, wie diejenigen ticken, die Gewerkschaften ablehnen, welche Ressentiments in der Belegschaft herrschen.“ Er sei niemanden zu Diensten, „außer der Wahrheit“.

Ob die strategische Verknüpfung der Kampagne mit dem Kampf für die Bürgerrechte das Abstimmungsergebnis beeinflusst hat, weiß niemand. Die Beschäftigten, die Elk zufällig vor das Mikro bekam, wirkten nicht wie eingefleischte Gewerkschaftsgegner. Sie wussten einfach nicht, was das Ganze soll. „Wer nur Amazon beschuldigt, macht es sich zu einfach“, meint Elk, „auch die Gewerkschaften machen nicht alles richtig.“ Eigentlich dürfe eine erfolgreiche Abstimmung nur noch eine Formalität sein, aber das setze voraus, dass die Gewerkschaft schon längere Vorarbeit geleistet und eine kritische Masse der Belegschaft auf ihre Seite gezogen hat, die dann ihre Kolleginnen und Kollegen überzeugen müssen.

Doch in Bessemer setzte die RWDSU auf eine andere Taktik, die im Gewerkschaftsjargon „hot shopping“ heißt. Dabei versucht man, einen Betrieb gleich nach seiner Eröffnung „umzudrehen“ und die akute Unzufriedenheit der Beschäftigten zu nutzen – im Fall des BHM1 den Ärger über die furchtbaren hygienischen Verhältnisse. Man versucht also, den Überraschungseffekt zu nutzen, ohne längere Vorarbeit geleistet zu haben. Mit dieser Taktik wird das Pferd bewusst von hinten aufgezäumt. Das kann jedoch dazu führen, dass die Basisarbeit vernachlässigt wird. In der Bessemer-Kampagne waren zum Beispiel die örtlichen religiösen Autoritäten kaum eingebunden.

Weitere Probleme kamen hinzu: Wie in allen Amazon-Betrieben war die Personalfluktuation hoch und die Zeit für die innerbetriebliche Kommunikation knapp – und zusätzlich eingeschränkt durch die Pandemie, die etwa einen gewerkschaft­lichen Grillabend unmöglich machte. Zudem gibt es in einem Lagerbetrieb kaum Aufstiegschancen: Warum sich also für etwas einsetzen und den Job riskieren, wenn man ­mittelfris­tig keine Zukunft in dem Unternehmen sieht?

Im Zweifel hatten die Leute im BHM1 schlichtweg Angst, mehr zu verlieren als zu gewinnen. Also Arbeitsplatz, Einkommen und den von Amazon gebotenen Krankenversicherungsschutz einzubüßen, ohne zu wissen, was man dafür kriegt. Angesichts dieser Auskünfte könnte die Bessemer-Saga die Chance bieten, sich ein realistisches Bild von den arbeitsrechtlichen Verhältnissen in den USA zu machen.

Im Fall Amazon tendiert die öffentliche Meinung, wie Umfragen zeigen, stark zum Ja. Das zeigen auch die Leitartikel der wichtigsten Zeitungen. „Der Niedergang der Gewerkschaften ist natürlich der Hauptgrund dafür, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden“, schrieb der liberale Bloomberg-Kolumnist Joe Nocera in einer Art Mea-culpa-Stimmung. „Wie viele Demokraten meiner Generation habe ich nicht genau genug hingesehen. Die Gewerkschaften sorgen nicht nur dafür, dass die Löhne ihrer Mitglieder steigen; oft müssen auch die gewerkschaftsfreien Betriebe nachziehen. Wenn die Gewerkschaften zu schwach sind, fehlt der Druck, der die Unternehmen zu Lohnerhöhungen zwingt“.10

Die Stimmenauszählung in Bessemer wurde auf der Website der New York Times live übertragen, was sonst nur bei wichtigen politischen Wahlen geschieht. Für eine betriebsinterne Abstimmung ist dies ohne Beispiel.

Der Lagerarbeiter Perry Connelly hat auf unsere Frage, was aus ihm wird, wenn die Nein-Fraktion gewinnt, so geantwortet: „Die Leitung des Logistikzentrums wird irgendeinen Trick und irgendeinen Vorwand finden, um mich zu feuern. Das ist der Preis, den man zahlen muss, damit sich etwas ändert.“ Darauf sei er vorbereitet: „Wenn das Ja gewinnt und ich die Gewerkschaft repräsentieren kann, bleibe ich. Wenn das Nein gewinnt, werde ich nicht mehr lange hier sein.“

An dem Tag, an dem das Nein gewann, legten Beschäftigte eines Logistikzentrums in Chicago spontan die Arbeit nieder. In rund 50 weiteren Städten wurden ebenfalls Ak­tio­nen angekündigt.

Ob es an diesen Standorten anders laufen wird, bleibt abzuwarten. Die Niederlage in Bessemer erklärt das gewerkschaftliche Lager mit den Drohungen und Einschüchterungen von Amazon. Im März hatte das Repräsentantenhaus mehrheitlich für den „Protecting the Right to Orga­nize Act“ (auch PRO Act genannt) gestimmt, der Gewerkschaftskampagnen vor dem Druck von Ar­beit­ge­be­rseite schützen soll und insbesondere die üblichen firmeninternen „Informationsveranstaltungen“ verbietet. Der Gesetzentwurf ist ein Schritt in die richtige Richtung, dürfte aber im Senat mangels Unterstützung durch die Re­pu­bli­ka­ne­r scheitern.

Doch diese Gesetzesinitiative erspart den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei ohnehin nicht die Aufgabe, die nötigen Lehren aus dem Scheitern in Alabama zu ziehen und ihre Strategie zu überprüfen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass künftige gewerkschaftliche Initiativen in Bessemer, so sie denn zustandekommen, ebenfalls scheitern werden.

Als Ausweg aus der Sackgasse wird zuweilen auch eine Boykottkampagne vorgeschlagen. Doch selbst die Leute, die sich gegen Amazon engagieren, machen den multinationalen Konzern noch reicher, indem sie zum Beispiel beim Konkurrenten eBay einkaufen, für den Amazon die Warenauslieferung abwickelt. Oder indem sie Netflix oder Google nutzen, denn deren Datenspeicherung liegt bei Amazon Web Services, und zudem versorgt Amazon weite Teile des Internets mit Energie.

Bei einer gewerkschaftlichen Videokonferenz am 6. März erfuhr eine Aktivistin zu ihrem Erstaunen, dass Amazon 2017 auch die (auf Bioerzeugnisse spezialisierte) Verbrauchermarktkette Whole Foods aufgekauft hat. Eine andere Gewerkschafterin fragte, wie man „Amazon boykottieren“ wolle, wenn man noch nicht einmal wisse, dass das Unternehmen auch von dieser Video­konferenz profitiere. Denn Zoom sei für seine Cloud-Infrastruktur auf Amazon angewiesen. Amazon hat sich im Land des freien Wettbewerbs inzwischen eine so monopolartige Stellung gesichert, dass es vor Jeff Bezos und seinem Unter­nehmen praktisch kein Entrinnen mehr gibt.

1 „Map of Amazon warehouses“, CNBC, 19. Januar 2020, www.cnbc.com.

2 Karen Weise, „Pushed by pandemic, Amazon goes on a hiring spree without equal“, The New York Times, 27. November 2020.

3 Francesca Paris, „‚The gaps have grown‘: Reporter Alec MacGillis talks Amazon, regional inequality and his hometown of Pittsfield“, The Berkshire Eagle, Pittsfield, 7. April 2021.

4 Siehe „Presidential results“, 2016 und 2020, National Public Radio, www.npr.org.

5 Zitiert nach Sarah Jones, „‚It’s not fair to get fired for going to the bathroom‘. An Amazon worker in Alabama on the fight for a union“, New York Magazine, 16. März 2021, www.nymag.com.

6 Siehe Sylvie Laurent, „Der verkannte Klassenkämpfer Martin Luther King“, LMd, April 2018.

7 Die Bürgerrechtsbewegung hatte 1965 Märsche von Selma nach Montgomery organisiert, um für das Wahlrecht der Schwarzen in den Südstaaten zu protestieren.

8 Lee Fang, „Amazon hired Koch-backed anti-union consultant to fight Alabama warehouse organizing“, The Intercept, 10. Februar 2021, www.theintercept.com.

9 David Streitfeld, „How Amazon crushes unions“, The New York Times, 16. März 2021.

10 Joe Nocera, „Unions are back in favor. They need to seize the moment“, Bloomberg Businessweek, 21. März 2021, www.bloomberg.com.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Maxime Robin ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Maxime Robin