13.05.2021

Brandstifter Belgien

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Brandstifter Belgien

Die Kolonialmacht hat systematisch einen Keil in die ruandische Gesellschaft getrieben

von Colette Braeckman

Der belgische König Baudouin auf Staatsbesuch bei Präsident Habyarimana, Juni 1985 JACQUES COLLET/akg-images/Germaineimage
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Die Verantwortung Belgiens für den ruandischen Völkermord wird derzeit von der nun endlich auch in Frankreich geführten Debatte verdrängt. Doch während es bei der französischen Aufarbeitung um wenige Jahre geht, muss man bei der einstigen Kolonialmacht Belgien Jahrzehnte in den Blick nehmen.

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte der Völkerbund die beiden Königreiche Ruanda und Urundi (heute Burundi), die sich das Deutsche Kaiserreich seit den 1880er Jahren schrittweise einverleibt hatte, an Belgien übertragen. Um die beiden Länder aus der Ferne verwalten zu können, bediente sich die Mandatsmacht wie früher die Deutschen der indirekten Herrschaft und lokaler Strukturen: Ein Feudalsystem göttlichen Rechts, an dessen Spitze ein Mwami (König) stand. Die Belgier hatten nämlich kein Interesse daran, sich für Gebiete zu engagieren, die viel ärmer waren als ihre riesige Kolonie Kongo, die sie erst 1960 in die Unabhängigkeit entließen. Mithilfe der Missionare vom Orden der „Pères Blancs“ (Weißen Väter) sollte die Christianisierung die koloniale Herrschaft erleichtern.

Die Belgier waren wie besessen von der Modewissenschaft jener Zeit, der Anthropometrie, und der Klassifizierung von Menschen nach „Rassen“. Im Rückgriff auf die sogenannte Hamitentheorie erklärten sie, die Tutsi seien aufgrund ihrer Morphologie hamitischen Ursprungs und deshalb überlegen. Auf der Suche nach neuen Weidegründen für ihre Herden sei das Viehzüchtervolk einst nach Zentralafrika gekommen. Dort hätten sie sich gegenüber den „Bantu“-Bauern (Hutu) und den Twa (Pygmäen), den ältesten Bewohnern Ruandas, durchgesetzt.

Auf diese Weise untergruben die Kolonisatoren die Autorität von Mwami Musinga, denn in Ruanda wie in Urundi war die Herrschaft des Königs weniger durch ethnische als durch religiöse Zugehörigkeit legitimiert. 1931 setzten die Belgier Musinga schließlich ganz ab, weil er sich weigerte, zum Katholizismus zu konvertieren. Der lokale Imana-Kult wurde durch christliche Riten ersetzt, und die Mis­sio­nare bemühten sich vor allem um die Tutsi, die von den Belgiern zu einer Art „Aristokratie“ erhoben worden waren.

In den 1930er Jahren wurden regelrechte Massentaufen vollzogen, 1950 galt Ruanda als Vorbild in Sachen Christianisierung. Die Tutsi-Notabeln, die inzwischen selbst an die ihnen zugeschriebene Überlegenheit glaubten, wurden zu Vollstreckern der Kolonialmacht. Sie setzten ein System von Zwangsarbeit (corvée) und Strafen durch und zogen so den wachsenden Hass der Hutu auf sich, deren Anführer die Belgier entmachtet hatten. Zugang zu Bildung hatten nur die Kinder von Tutsi. Im Schulkomplex von Astrida (heute Butare) im Südosten des Landes wurden die Hilfskräfte der Kolonisatoren ausgebildet.

Die Belgier zerstörten noch ein weiteres Element des gesellschaftlichen Zusammenhalts: ein traditionelles System, das auf drei Anführern beruhte, einer für das Land, ein zweiter für das Vieh und ein dritter für die Armee. Von 1930 bis Ende der 1950er Jahre bemühten sich Kolonialherren und Mis­sio­nare, einen Keil in die ruandische Gesellschaft zu treiben. Das ging so weit, dass sie Personalausweise ausstellten, in denen die „Ethnie“ vermerkt war.

Das System funktionierte, bis es kippte: Als sich die Tutsi-Elite empfänglich für die Unabhängigkeitsforderungen zeigte, die sich in Afrika ausbreiteten, bemerkten die Belgier auf einmal, dass die Hutu-Mehrheit diskriminiert wurde und von der Macht ausgeschlossen blieb. Gleichzeitig verstärkte die UNO den Druck auf Belgien, ihr Mandat über Ruanda und Burundi ganz aufzugeben.

1957 ermutigte der Schweizer An­dré Perraudin, Mitglied des Ordens der Weißen Väter und Oberhaupt der katholischen Kirche in Ruanda, seinen jungen Sekretär Grégoire Kayibanda, das Bahutu-Manifest zu veröffentlichen und die Bewegung Muhutu zu gründen. Daraus ging später die „Bewegung für die Emanzipation der Hutu“ (Parmehutu) hervor, die den „Rassenkampf“ gegen die „Tutsi-Invasoren“ propagierte. Und der belgische Priester Eugène Ernotte schlug den Parmehutu-Aktivisten vor, sich nach dem Vorbild der Legio Mariae zu organisieren, einer 1921 in Irland gegründeten katholischen Laienorganisation.

Auf der anderen Seite schlossen sich viele Tutsi der Union nationale rwan­daise (Unar) an, die eine schnelle Unabhängigkeit und eine konstitutionelle Monarchie forderte.

Brüssels rassistische Konstrukte

Die Unruhen begannen 1959 als Bauernaufstand, der sich aber nicht gegen die belgischen Kolonialherren richtete, sondern gegen die Tutsi-Elite als Bevollmächtigte der Belgier. Der als „soziale Revolution“ deklarierte Aufstand wurde vom belgischen Sonder-Militärgouverneur, Oberst Guillaume Logiest, unterstützt. Er sympathisierte offen mit der Parmehutu und Grégoire Kayibanda, der 1962 der erste Präsident Ruandas wurde. 1973 wurde er durch einen Putsch seines Verteidigungsministers gestürzt, einem gewissen Juvénal Habyarimana.

Die 1962 proklamierte Unabhängigkeit wurde als Sieg des einfachen Volks gefeiert. Die Häuser von Tutsi wurden niedergebrannt, 300 000 von ihnen flohen ins Exil, vor allem nach Uganda. Sie waren die ersten afrikanischen Binnenflüchtlinge.

Bis 1990 standen die Belgier an der Seite der Hutu und teilten deren Vorstellung, die ethnische Mehrheit sollte auch politisch das Sagen haben. Präsident Juvénal Habyarimana, der im Vergleich zu seinem Vorgänger Kayibanda als gemäßigt galt, aber keinen Hehl aus seinem Hass auf die Tutsi machte, wurde regelmäßig in Belgien empfangen. Eine besondere Beziehung verband ihn mit König Baudouin, der ihn regelmäßig zum gemeinsamen Gebet in seinen Palast einlud.

Dreißig Jahre lang war Ruanda einer der größten Empfänger belgischer Entwicklungshilfe: Das „Land der tausend Hügel“ war auch das „Land der tausend Entwicklungshelfer“. Der Vergleich mit dem unkontrollierbaren ­Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) unter Joseph-Désiré Mobutu fiel lange zugunsten Ruandas aus, obwohl das Land Ende der 1980er Jahre unter den aufoktroyierten Strukturanpassungen litt und seine Währung abwerten musste. So wuchs unter der verarmten Bevölkerung der Zorn.

Als im Oktober 1990 an der Grenze zu Uganda der Krieg ausbrach, weigerte sich Belgien jedoch auf einmal, seine treuen Verbündeten gegen die Ruandische Patriotische Front (RPF) zu unterstützen. Die Soldaten der RPF, die sich aus Tutsi-Flüchtlingen rekrutierte, waren in der National Resistance Army (NRA) ausgebildet worden, die 1986 Yoweri Museveni in Uganda an die Macht gebracht hatte.

Belgien lieferte auch die bereits bezahlte Munition für die Ruandische Armee (FAR) nicht aus. Und anstelle der sehnsüchtig erwarteten Militärunterstützung gab es eine diplomatische Rundreise durch die Länder der Re­gion. Das angeschlagene Hutu-Regime wandte sich daraufhin an Frankreich, das nach den Worten von Jean-Christophe Mitterrand, Afrikaberater seines Vaters im Élyséepalast, „ein paar Landser“ entsandte.1 An der Seite von Zaires Armee konnten die Franzosen die RPF-Offensive eine Zeit lang abwehren.

Von 1990 bis 1994 wollte Belgien mit aller Macht an den Dialog glauben. Es unterstützte die Verhandlungen von Arusha und das Prinzip einer Machtteilung zwischen den Parteien. Doch gegen das zusehends autoritärer agierende Regime Habyarimanas ermutigte es auch oppositionelle Hutu. Die belgische Regierung prangerte die Verletzung von Menschenrechten, politische Morde und ethnische Massaker ohne Nachsicht an. Aber alles deutet darauf hin, dass sie es nicht für möglich hielt, dass ihre langjährigen Protegés die vor allem im Radiosender Mille Collines oft und unverhohlen angedrohte Vernichtung der Tutsi in die Tat umsetzen würden.

Hätte die Regierung in Brüssel, und vor allem der Verteidigungsminister Léo Delcroix von den flämischen Christdemokraten (CD&V), das Ausmaß der Bedrohung richtig eingeschätzt, hätte sie die 550 belgischen Blauhelme, die im Herbst 1993 nach Kigali entsandt wurden und das Rückgrat der UN-Unterstützungsmission für Ruanda (Unamir) bilden sollten, wohl besser ausgestattet. Sie hätten bessere Stadtpläne von Kigali bekommen, wären nicht auf 14 kaum zu verteidigende Lager verteilt worden, und man hätte ihnen nicht „Ferien“ im „Land der tausend Hügel“ versprochen.

Erst Anfang 1994, als es immer häufiger zu ernsten Zwischenfällen kam, erfasste Belgien das Ausmaß der Feindseligkeit, auf die seine Truppen stießen. Von der UNO verlangten sie daraufhin vergeblich, die „friedenserhaltende Mission“, deren Soldaten der ruandischen Militärführung unterstellt waren, mit einem robusteren Mandat auszustatten.

Das Massaker an zehn belgischen Blauhelmen am 7. April 1994, der vom Radiosender Mille Collines verbreitete Hass, die Drohungen gegen ausländische Staatsbürger, die als Verbündete der Tutsi angesehen wurden und die man in aller Eile evakuierte, erschütterten die belgische Öffentlichkeit. Umso mehr, als dieser Gewaltausbruch in einem Land stattfand, das bisher als Freund angesehen worden war.

Ruanda wurde zum Zerrspiegel eines belgischen Systems, das auf dem Gleichgewicht und Kompromissen zwischen den unterschiedlichen Sprachgruppen basiert. Als Außenminister Willy Claes dem UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali am 14. April 1994 mitteilte, Belgien werde seine Blauhelme zurückziehen und die anderen Länder auffordern, das Gleiche zu tun, protestierte in Belgien niemand gegen diese Entscheidung, die Ruanda den Mördern überließ.

Erst im April 2000 besuchte Ministerpräsident Guy Verhofstadt, der 1998 die parlamentarische Untersuchungskommission zu Ruanda geleitet hatte,2 Kigali und sagte: „Im Namen meines Landes, im Namen meines Volkes bitte ich Sie um Verzeihung.“

1 Siehe Gérard Prunier, „The Rwanda Crisis: History of a Genocide“, London (Hurst Publishers) 1998.

2 Siehe Anne-Cécile Robert, „Das belgische Beispiel“, LMd, September 1998.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Colette Braeckman ist Journalistin bei Le Soir, Brüssel.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Colette Braeckman