13.05.2021

Mexikos neues Selbstbewusstsein

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Mexikos neues Selbstbewusstsein

Die USA sollen sich künftig aus der Sicherheitspolitik des Landes heraushalten

von Luis Alberto Reygada

Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador während Joe Bidens digitalem Klimagipfel am 22. April picture alliance/zumapress.com/El Universal
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Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador, genannt Amlo, sandte im Dezember 2020 ein Glückwunschschreiben an den neugewählten US-Präsidenten Joe Biden. Nach den üblichen Einstiegsformeln verließ Amlo jedoch die eingefahrenen Gleise der diplomatischen Höflichkeiten: „Wir sind sicher, dass es mit Ihnen möglich sein wird, die in unserer Verfassung festgeschriebenen Grundsätze der Außenpolitik umzusetzen, vor allem die der Nichteinmischung und der Selbstbestimmung der Völker.“

Das State Department hatte 2018 in der Überzeugung, dass Sicherheit und Wohlstand der USA „aufs Engste mit der Lage in Mexiko verbunden“ seien, die Überwachung des Nachbarstaats zur „obersten Priorität“1 erhoben. Um dessen Souveränität scherte man sich nicht.

In dem 2019 zu Ende gegangene Prozess gegen den Narco-Boss „El Chapo“ Guzmán kam heraus,2 dass das US-amerikanische Bureau of Alcohol, Firearms and Explosives (ATF) versehentlich das Sinaloa-Kartell mit Sturmgewehren beliefert hatte: Im Zuge des Projekts „Gunrunner“ wollte das ATF mit der Operation „Fast and Furious“ die Spur von Schmugglern verfolgen, die im Auftrag der Kartelle arbeiteten.

In der Hoffnung, sie zu tracken, ließ man sie in den USA Waffen kaufen und über die Grenze schaffen. Zwischen 2006 und 2011 gelangten auf diesem Weg insgesamt 2500 Waffen, vom halbautomatischen Gewehr bis zur Panzerabwehrrakete, in die Hände der Kartelle. Das ATF begann erst über seine Ermittlungsmethoden nachzudenken, als seine Kollegen von der U.S. Border Patrol mit geschmuggelten Kalaschnikows erschossen wurden.

Ohne Zustimmung der mexikanischen Regierung wäre diese Operation jedoch nicht möglich gewesen. Präsident Vicente Fox hatte 2002, als sein US-Amtskollege George W. Bush das Militärkommando Northcom (U.S. Northern Command) schuf, strammgestanden und die Einrichtung der nordamerikanischen Sicherheitszone begrüßt. Und 2005, elf Jahre nach Abschluss des nordamerikanischen Freihandelsabkommens Nafta, wurde die Sicherheitspolitik beider Länder mit dem Security and Prosperity Partnership (SPP) noch enger miteinander verflochten. 2007 schließlich rief Präsident Felipe Calderón die USA zur Hilfe im Drogenkrieg: Die daraufhin beschlossene Mérida-Initiative bildete 2008 den Schlussstein der Zusammenarbeit zwischen Mexiko und den USA.

Dieses Programm, das vom US-Außenministerium und der Entwicklungsagentur USAID finanziert wird, hat das Ziel, die „Institutionen der Sicherheit und Justiz“ sowie „den Rechtsstaat in Mexiko zu stärken“, die Gewalt einzudämmen und „die Grenze zu sichern“. Außerdem sollen neue Impulse gesetzt werden, um auf US-Territorium „dem Schmuggel von Waffen und Geld sowie der Drogennachfrage ein Ende zu setzen“.3

Konkret heißt das: Mexiko erhielt eine halbe Milliarde US-Dollar, um für seine Sicherheitskräfte Ausrüstung – wie gepanzerte Fahrzeuge, Seefernaufklärer oder Kampfhubschrauber – in den USA zu kaufen. Hinzu kamen 3 Milliarden Dollar, um die Präsenz von US-amerikanischen Sicherheitskräften südlich des Rio Bravo zu verstärken. Calderón öffnete auch die Tür für eine weitreichende Zusammenarbeit mit den US-Geheimdiensten und genehmigte die Einrichtung des Mexico Technical Surveillance Systems, mit dem Washington Informationen aus allen mexikanischen Kommunikationssystemen abfangen, analysieren und weiterverarbeiten kann.

Im November 2010 enthüllte eine journalistische Recherche, dass in einem nahe der US-Botschaft gelegenen Hochhaus in Mexico City neun US-Geheimdienste Büros unterhalten, darunter die Defense Intelligence Agency (DIA, militärischer Geheimdienst), das National Reconnaissance Office (NRO, zuständig für Satellitenüberwachung) und die National Security Agency (NSA, zuständig für die Auswertung elektronischer Kommunikation).4 Anscheinend hatte Calderón den roten Teppich doch noch nicht weit genug ausgerollt, denn die USA gingen damit weit über die Vereinbarungen hinaus.

Die NSA hackte Amlos ­Mailaccount

2013 kam zudem durch die Enthüllungen von Edward Snowden heraus, dass es eine klandestine Station des Special Collection Service (SCS) gibt, ein geheimes Gemeinschaftsprojekt von CIA und NSA. Dieser Dienst operiert ebenfalls in Mexico City, seine Agenten sammeln Informationen zu Politik und Wirtschaft, indem sie die Kommunikation hoher Regierungsbeamter überwachen – gelegentlich auch den Präsidenten selbst.5

Amlo als überzeugter Nationalist konnte diese Einmischungen nicht gutheißen. Bereits wenige Tage nach seinem Wahlsieg im Juli 2018 erklärte er, einen Kaufvertrag über 1,2 Milliarden Dollar für acht Militärhubschrauber annullieren zu wollen. Anfang August verkündete sein designierter Minister für öffentliche Sicherheit Alfonso Durazo: „Die Zusammenarbeit auf militärischem Gebiet ist nicht die beste Art, die herrschende Unsicherheit zu beseitigen.“ Dann ließ er die Bombe platzen: „Wir müssen alle Kooperationsvereinbarungen zwischen unseren beiden Ländern überprüfen.“6

Sobald Amlo Anfang Dezember 2018 in den Präsidentenpalast eingezogen war, hielt er die US-Drogenbehörden bewusst aus seiner Politik heraus. Er strukturierte die Polizei um und gab den direkten Kampf gegen die Kartelle auf. Am 7. Mai 2019 erklärte er vor der Presse: „Wir haben genug von der Mérida-Initiative.“ Mexiko wünsche sich, dass die Hilfe aus den USA künftig in wirtschaftliche Entwicklungsprojekte fließe, vor allem im Südosten des Landes und in Zentralamerika, um die Migration zu bremsen, die Trump so beunruhige.

Doch Amlos neue Sicherheitspolitik hat sich bislang nicht bewährt. Der neugeschaffenen Nationalgarde gelang es nicht, die hohe Mordrate zu senken oder die Kartelle zu schwächen. Immer wieder mussten die Sicherheitskräfte Rückschläge einstecken: Mal wurden 14 Polizisten in einem Hinterhalt ermordet, dann entging der Polizeichef von Mexico City nur um Haaresbreite dem Anschlag eines schwer bewaffnetes Killerkommandos.

Im November 2019 kam es nach dem Massaker an Angehörigen einer US-amerikanisch-mexikanischen Mormonengemeinde im Bundesstaat Sonora (nahe der Grenze zu Arizona) fast zu einer diplomatischen Krise. Die Öffentlichkeit in den USA war schockiert. Das Wall Street Journal sprach im Leitartikel vom 6. November von einer „Kapitula­tion“ der Regierung, Mexiko komme „einem failed state gefährlich nahe“. Wenn „Mexiko sein Territorium nicht mehr kontrollieren“ könne, müssten die USA das eben tun, eine Militär­operation dürfe „nicht ausgeschlossen werden“.7

Als Washington erwog, die mexikanischen Drogenkartelle in die Liste ausländischer Terrororganisationen aufzunehmen, erwiderte der mexikanische Außenminister Marcelo Ebrard, sein Land werde „niemals auch nur die kleinste Handlung dulden, die seine nationale Souveränität beschädigt“ (Tweet vom 27. November 2019). Ebrard wusste, dass eine solche Klassifizierung zu rechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer Intervention führen kann.

Im letzten Jahr von Trumps Amtszeit bemühte sich Mexiko noch, im Umgang mit dem unberechenbaren und mächtigen Handelspartner im Norden gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Doch Ende Oktober 2020 schlug die Regierung dann mit der Faust auf den Tisch. Sie war empört, dass die US-Behörden sie nicht über die Ermittlungen gegen den ehemaligen Verteidigungsminister General Salvador Cienfuegos informiert hatte.

Cienfuegos war am Flughafen von Los Angeles verhaftet worden, weil die DEA (Drug Enforcement Administra­tion) ihn der Zusammenarbeit mit den Kartellen beschuldigte. Amlo forderte seine sofortige Freilassung. Weil die US-Justiz die dauerhafte Niederlassung ihrer Behörden auf mexikanischem Territorium offenbar nicht gefährden wollte, stellte sie zur allgemeinen Überraschung die Ermittlungen ein und begründete das damit, dass „sensible und wichtige Fragen der Außenpolitik“ berührt seien.8 Ein beispielloser Vorgang.

Diese Entscheidung zeige, dass die beiden Länder „stärker sind, wenn sie zusammenarbeiten und die Souveränität ihrer Nationen und Institutionen achten“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung, die offenbar aus der Feder mexikanischer Diplomaten stammt.9 Cienfuegos wurde nach Mexiko ausgeliefert, damit man ihn dort vor Gericht stellen konnte. Die DEA übermittelte ihr gesammeltes Beweismaterial aus acht Jahren Ermittlungsarbeit. Für Amlo jedoch, so konnte man dem Präsidenten nahestehenden Kreisen entnehmen, war das „Vertrauen zerstört“, nichts werde „mehr sein wie vorher“.10

Die mexikanische Regierung zeigt sich entschlossen, die Aktivitäten der US-Geheimdienste und -Sicherheitsbehörden stärker einzugrenzen. Mit der Reform des Gesetzes zur Nationalen Sicherheit, die im Dezember 2020 nach nur zehn Tagen Beratung angenommen wurde, goss sie weiter Öl ins Feuer. Die DEA, das FBI, die CIA oder die Zoll- und Einwanderungsbehörde (Immigration and Customs Enforcement, ICE), die in Mexiko bislang fast ohne Einschränkungen operieren konnten, sind jetzt gegenüber den Behörden vor Ort rechenschaftspflichtig.

Am 14. Januar 2021 verkündete die mexikanische Generalstaatsanwaltschaft das Ergebnis ihrer Ermittlungen gegen General Cienfuegos: Es gebe keine handfesten Beweise, man werde die Strafverfolgung einstellen. Bei der Pressekonferenz verurteilte Amlo die DEA scharf und warf ihr Voreingenommenheit vor: „Wir müssen alle Zweifel an der Regierung und ihren Institutionen ausräumen. Deshalb haben wir beschlossen, die gesamten Ermittlungsakten offenzulegen.“ Noch am selben Tag wurde das 750 Seiten umfassende Dossier der DEA veröffentlicht – ein ­Affront gegen das US-Justizministe­rium.

Amlos Gegner aus dem konservativen Lager, die zuvor den US-Amerikanern Tür und Tor geöffnet hatten, spekulierten nun in alle Richtungen, was ihn zu dieser Entscheidung gebracht haben könnte: Er stünde unter der Fuchtel des Militärs, das mit den Drogenhändlern unter einer Decke stecke; er sei ein Populist, der nun ­nationalisti­sche Töne anschlage, um seinen Wahlkampf einzuläuten. Der Journalist Jorge Zepeda hielt dem entgegen: „Vielleicht erklärt sich die Reaktion des Präsidenten einfach aus seiner Empörung über die zweifelhafte Haltung einer allzu einmischungsfreudigen ausländischen Behörde, der er ein für alle Mal einen Riegel vorschieben wollte.“11

Jetzt ist die Frage, ob der mexikanische Präsident seinen neuen Amtskollegen Biden davon überzeugen kann, die Bedingungen der bisherigen Zusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen. In Hinblick auf die Migration war diese Zusammenarbeit bisher jedenfalls wenig erfolgreich. Was die Sicherheit betrifft, hatte sie sogar ka­tas­tro­phale Folgen. Beide Themen werden in der Amtszeit Bidens wieder auf den Tisch kommen. Das State Department könnte einen ersten Schritt unternehmen und das Ende der Mérida-Initiative offiziell bestätigen. Der US-Kongress allerdings hat zur Finanzierung des Programms für 2021 bereits 150 Mil­lio­nen Dollar vorgesehen.

1 „Integrated Country Strategy – Mexico“, U.S. Department of State, 3. August 2018.

2 Keegan Hamilton, „Prosecutors don’t want El Chapo’s jury to hear how the US government sent guns to the Sinaloa cartel“, Vice, 10. Dezember 2018.

3 Website der US-Botschaft in Mexiko.

4 Jorge Carrasco A. und J. Jesús Esquivel, „El gran espía“, El Proceso, 14. November 2010.

5 Jens Glüsing, Laura Poitras, Marcel Rosenbach und Holger Stark, „NSA Accessed Mexican President’s Email“, Der Spiegel International, Hamburg, 20. Oktober 2013.

6 Diego Oré, „Incoming Mexican president to review US security cooperation: aide“, Reuters, 3. August 2018.

7 „The Cartelization of Mexico“, Wall Street Journal, 6. November 2019.

8 Michael O’Boyle und John Harney, „US dropping drug charges against Mexico’s ex-defense chief“, Bloomberg, 17. November 2020.

9 Gemeinsame Erklärung des Generalstaatsanwalts der Republik Mexiko und des Attorney General of the United States, 17. November 2020.

10 J. Jesús Esquivel, „Con Estados Unidos ‚se perdió la confianza‘ y ‚ya nada será igual‘“, Proceso, 21. November 2020.

11 Jorge Zepeda Patterson, „Cienfuegos, la otra explicación“, Milenio, 19. Januar 2021.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Luis Alberto Reygada ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Luis Alberto Reygada