Frankreichs Schuld
Jahrzehntelang hat Paris jede Mitschuld am Völkermord in Ruanda von sich gewiesen und die Archive sorgsam unter Verschluss gehalten. Auch der jüngste Bericht einer von Präsident Macron beauftragten Expertenkommission lässt Fragen offen.
von François Graner
Bald 30 Jahre sind seit dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda vergangen. Am 26. März 2021 hat nun eine von dem Historiker Vincent Duclert geleitete Untersuchungskommission zur Rolle Frankreichs, die zwei Jahre lang Dokumente in französischen Archiven ausgewertet hatte, ihren Abschlussbericht vorgelegt.1 Die darin konstatierte „erdrückende Verantwortung“ Frankreichs ist ein Tabubruch und wirft ein neues Licht auf das Handeln der Grande Nation in dem kleinen ostafrikanischen Land. Vieles bleibt dennoch weiterhin im Dunkeln, weil der Zugriff auf die offiziellen Dokumente der französischen Afrikapolitik aus jener Zeit immer noch erschwert wird.
Die Militärs sind zwar von der Schweigepflicht entbunden, aber viele Dokumente können weiterhin nur mit einer Sondergenehmigung eingesehen werden. Laut dem Code du Patrimoine dürfen die Archive des Staatspräsidenten und der Regierung erst nach Ablauf von mindestens 25 Jahren geöffnet werden. Nach Ansicht des Juristen Bertrand Warusfel verlieren jedoch die meisten Geheimnisse, auch die militärischen, schon nach zehn bis fünfzehn Jahren an Relevanz.
Wissenschaftler dürfen zwar Einsicht beantragen, die Genehmigung unterliegt jedoch der Willkür der Exekutive. So kann dieselbe diplomatische Depesche von 1993 im Zentralarchiv des Außenministeriums für alle Forschenden zugänglich sein, im Nationalarchiv jedoch nur auf Anfrage; ein Dossier des Auslandsgeheimdienstes DGSE kann wiederum im Nationalarchiv eingesehen werden, nicht aber im Archiv des Verteidigungsministeriums und so weiter.
Noch ein weiterer Riegel schützt den Staat vor der Neugier von Bürgern und Wissenschaftlerinnen: das Verteidigungsgeheimnis. Trotz seines Namens schützt es auch Archive, die überhaupt nichts mit Verteidigung zu tun haben. Nach einem offiziellen Bericht von 2018 unterliegen 5 Millionen Dokumente diesem Geheimnisschutz, nicht einmal die Hälfte davon wurden vom Verteidigungsministerium klassifiziert; die anderen werden vom Innenministerium unter Verschluss gehalten, betreffen die zivile Nutzung der Atomenergie oder sogar Fragen der Landwirtschaft.2
Die Dokumente, die das Verteidigungsministerium freigibt, sind oft belanglos, unvollständig oder geschwärzt. „Die freigegebenen Dokumente sind ein Konvolut der Harmlosigkeit“, empört sich der frühere Richter für Terrorismusbekämpfung Marc Trévidic. Er bezweifelt die Verfassungsmäßigkeit eines Geheimhaltungsprinzips, das der Exekutive erlaubt, die Arbeit der Justiz bei „sensiblen“ Themen zu behindern.3
Die französische Ruanda-Politik zwischen 1990 und 1994 gehört zu diesen sensiblen Themen. Wie alle Präsidenten der Fünften Republik hat auch François Mitterand für die „Stabilität“ des afrikanischen Kontinents autoritäre Regime unterstützt, wenn es im Interesse Frankreichs lag.
Als 1990 ein Aufstand der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) drohte, profitierte davon auch der ruandische Präsident Juvénal Habyarimana. Wie aus dem Duclert-Bericht hervorgeht, entschied François Mitterand damals ganz allein und ohne das Parlament und die Regierung einzubeziehen.
So wurden Informationen über die Vorbereitung eines Völkermords an den Tutsi hartnäckig ignoriert. Und wer davor warnte, wie zum Beispiel der Militärattaché in Kigali, Oberst René Galinié, der Chef der Militärkooperation General Jean Varret oder Claude Silberzahn, bis 1993 DGSE-Leiter, wurde ignoriert oder versetzt.
Als Anfang 1993 erste Warnungen an die Öffentlichkeit drangen,4 entfachten Regierung und Generalstab ein mediales Gegenfeuer: Sie verbreiteten die stark vereinfachte Geschichte eines legitimen Regimes, das von einer ausländischen bewaffneten Bewegung angegriffen werde, die von Uganda aus operiere und den angelsächsischen Interessen diene. Die RPF diffamierten sie als „Schwarze Khmer“.
Diese Verleugnung, die in der Geheimhaltungspolitik der Regierungsentscheidungen wurzelte, wurde ein Vierteljahrhundert lang aufrechterhalten. Nach dem Attentat vom 6. April 1994, bei dem Präsident Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira ums Leben kamen, verrannte sich die französische Regierung in die Unterstützung der Hutu-Extremisten. Diese ermordeten ihre Hauptgegner, übernahmen die Macht und fingen an, systematisch Tutsi umzubringen. Zwischen dem 7. April und dem 17. Juli 1994 wurden nach UN-Angaben 800 000 Männer, Frauen und Kinder ermordet.5 Wie lässt sich die Haltung der französischen Staatsmacht begreifen? Nur die Archive können Antworten geben.
Im Fokus stehen dabei etwa zehntausend Dokumente der Staatspräsidentschaft, die am neuen Standort des Nationalarchivs in Pierrefitte-sur-Seine liegen, und etwa ebenso viele des Außenministeriums, darunter viele diplomatische Depeschen, außerdem rund 500 Dokumente des Auslandsgeheimdienstes. Viele Dokumente tauchen in mehreren Archiven auf. Hinzu kommen etwa 200 000 Dokumente von sehr unterschiedlicher Bedeutung, die in verschiedenen Abteilungen des Service historique de défense (SHD), des Archivs des Verteidigungsministeriums, in Vincennes liegen. Insgesamt etwa 20 Regalmeter.
Unter dem wachsenden Druck der Medien und Opferverbände genehmigten das Parlament, die Justiz und die Präsidenten Hollande und Macron die Freigabe von mehreren tausend Dokumenten. Das meiste ist jedoch bis heute unzugänglich.
Außerdem schrecken die Recherchebedingungen viele Wissenschaftler ab, vor allem, dass sie keine Kopien machen dürfen. Es ist auch verboten, Dokumente online zu stellen. Am schwierigsten ist der Zugang zu den Archiven des Verteidigungsministeriums, das nicht einmal Inventarlisten rausgibt.6
Auf Enthüllungen und Anschuldigungen von Wissenschaftlerinnen und Ermittlern reagierten die Behörden nur sehr zögerlich und äußerst zurückhaltend. Als etwa der Journalist Patrick de Saint-Exupéry im Januar 1998 in einer Artikelserie für den Figaro Frankreichs Verhalten während des Völkermords infrage stellte, führte das lediglich zur Einsetzung eines einfachen parlamentarischen Informationsausschusses. Ein Untersuchungsausschuss wäre viel wirksamer gewesen.
„Viele Dokumente sind erst nach dem Ende der Arbeit des Parlamentsausschusses wieder aufgetaucht“, beklagte Oberst André Ronde, der damals die Fragen der Parlamentarier beantworten musste, am 7. April 2016 bei France Culture. „Ich weiß nicht, ob das Absicht war oder nicht.“
Auch der Parlamentsausschuss selbst arbeitete damals nicht ganz sauber. Zum Beispiel wurde Paul Barril, der erst Polizeioffizier im Élyséepalast und dann Söldner wurde, nicht vorgeladen, obwohl er in vielen Ermittlungsakten zu Ruanda zitiert wurde. Es gab zahlreiche Anhörungen, viele davon nichtöffentlich, wie die der Geheimdienstler und Militärs. Selbst der Brief von General Jean Rannou vom 15. Juni 1998 wurde nicht veröffentlicht, obwohl er Informationen zu dem damals als verschollen geltenden Flugschreiber der am 6. April 1994 abgeschossenen Präsidentenmaschine Falcon 50 enthielt.
Ein paar wichtige Informationen brachte der Ausschuss aber ans Licht, wie die Warnung von General Jean Varret, der schon 1990 ein Zitat des ruandischen Polizeichefs übermittelt hatte, in dem dieser ankündigte, die Tutsi „zu liquidieren“.
Der Ausschuss deckte in Teilen auch die Kontrolle auf, die der französische Oberst Didier Tauzin im Februar und März 1993 über die ruandische Armee ausgeübt hatte.
Ab 2005 erreichten Klagen von Tutsi-Überlebenden, dass die französische Justiz die Freigabe von Dokumenten aus Militärarchiven forderte. Doch auch hier blieb der Zugang begrenzt; Mehrere richterliche Anträge wurden abgelehnt.7 2015 versprach Präsident Hollande, die Archive des Élysée für alle Ermittler zu öffnen. Allerdings genehmigte Mitterrands langjährige Bevollmächtigte, Dominique Bertinotti, Akteneinsichten nur in homöopathischen Dosen, und man durfte auch nichts fotokopieren.
Ermittler und Opferverbände riefen den Conseil d’État an, der am 12. Juni 2020 erklärte, das „Interesse, die Öffentlichkeit über diese historischen Ereignisse zu informieren“, stehe über dem „Schutz von Staatsgeheimnissen“.8 Dieses allgemeine Urteil, wenngleich für einen konkreten Fall gefällt, klingt wie eine Mahnung an die Pariser Behörden. In anderen demokratischen Staaten wie Großbritannien wird eine vergleichbare Archivanfrage in sechs Wochen beantwortet, nach weiteren sechs Wochen sind die Dokumente online zugänglich.
Als Präsident Macron im April 2019 die Kommission unter dem Vorsitz von Duclert einsetzte, ging es ihm auch darum, Frankreichs Image in Ruanda und ganz Afrika zu verbessern. Er gewährte den Wissenschaftlern Zugang zu diversen zivilen und militärischen Archiven. Dass aber in der Kommission kein einziger Experte für die Region der Großen Afrikanischen Seen saß, wurde damit erklärt, dass diese vor allem die Abläufe innerhalb des französischen Staatsapparats analysieren soll.
Der nun vorliegende umfangreiche Bericht zitiert aus 8000 Dokumenten, vor allem aus dem Élyséepalast, dem Büro des Ministerpräsidenten, der DGSE und des Verteidigungsministeriums. Er widerlegt endlich diejenigen, die den Völkermord an den Tutsi zu leugnen versuchen und der RPF ein vergleichbares Verbrechen vorwerfen (die trügerische These vom „doppelten Völkermord“) oder Frankreich von jeder Verantwortung freisprechen wollen.
Dieser Bericht war zwar dringend notwendig, bleibt aber unzureichend und hinter den Ergebnissen der Forschung und der journalistischen Recherchen zurück. Die Mängel liegen auf verschiedenen Ebenen. Die Autoren erklären selbst, dass Dokumente fehlen und womöglich vernichtet wurden. Das Büro der Nationalversammlung hatte sich geweigert, die Protokolle der nichtöffentlichen Anhörungen des parlamentarischen Informationsausschusses zu übergeben und behielt auch andere Ordner unter Verschluss.
Außerdem hatte die Duclert-Kommission nur den Auftrag, den Zeitraum von 1990 bis 1994 zu untersuchen. Spätere Dokumente, die unverzichtbar gewesen wären, wurden nicht einbezogen. So heißt es auf Seite 334 des Berichts: „Die angebliche Verwicklung französischer Militärangehörige in das Attentat [vom 6. April 1994] wird nur in einem Artikel der Journalistin Colette Braeckman erwähnt, der am 22. Juni in der belgischen Tageszeitung Le Soir erschien und vom französischen Botschafter in Belgien als ‚Lügenmärchen‘ bezeichnet wurde.“ Andere Quellen stützen jedoch diese Verwicklung, vor allem ein DGSE-Dokument vom 14. November 1995, nach dem „ein französischer Söldner, Patrick Ollivier, in diese Angelegenheit verwickelt gewesen sein soll und seine Beziehungen zum französischen Entwicklungsministerium und zum Außenministerium genutzt haben soll, um die Wahrheit zu verbergen“.9
Auch scheint die Kommission nicht das gesamte relevante Archivmaterial, das ihr zugänglich war, in den Bericht aufgenommen zu haben. Man sucht darin zum Beispiel vergeblich nach den Gesprächsprotokollen vom 9. bis 13. Mai 1994 zwischen General Jean-Pierre Huchon, dem Militärattaché in Kigali, und Oberstleutnant Ephrem Rwabalinda, der um Unterstützung aus Paris nachsuchte.
Rwabalinda war stellvertretender Generalstabschefs der Ruandischen Armee (FAR), die damals am Völkermord beteiligt war. „Dem französischen Militär sind die Hände gebunden, um irgendetwas zu unseren Gunsten zu unternehmen, weil die öffentliche Meinung allein von der RPF gesteuert zu sein scheint“, erklärte der FAR-Offizier in seiner Zusammenfassung. „Wenn nichts unternommen wird, um die Wahrnehmung des Landes im Ausland zu ändern, werden die militärisch und politisch Verantwortlichen Ruandas für die Massaker verantwortlich gemacht werden, die begangen wurden.“ Deshalb, so führte Rwabalinda aus, „ist der Kampf um die Medien dringend notwendig. Er ist die Voraussetzung für weitere Operationen.“10
Grundsätzlich spielt der jüngste Bericht, der sich auf die Zeit vor dem Völkermord konzentriert, die von General Christian Quesnot als „indirekte Strategie“ bezeichnete Unterstützung herunter, die Frankreich während der Massaker der Ruandischen Übergangsregierung (GIR) und der FAR gewährte. Nur am Rand erwähnt er die Munitionslieferungen nach dem 6. April 1994, obwohl diese so hinreichend belegt sind, dass sie eine Klage wegen Mittäterschaft beim Völkermord rechtfertigen würden.
Völlig unerwähnt bleibt, obwohl es gut belegt ist, dass sich zwischen April und Juni 1994 noch mindestens ein Dutzend französischer Soldaten im Regierungsviertel aufgehalten haben, nachdem offiziell alle französischen Staatsangehörigen das Land verlassen hatten. Welche Rolle haben sie gespielt?
Der Bericht wertet auch die sechs DGSE-Ordner über die zwei kleinen, von Paul Barril und Bob Denard geführten Söldnertruppen nicht aus. Barril hatte am 28. Mai 1994 mit dem Ministerpräsidenten der Übergangsregierung eine Unterstützungsvereinbarung unterzeichnet, die den Namen „Insektizid“ trug. Zur Erinnerung: Die Hutu-Extremisten bezeichneten ihre Tutsi-Opfer als Kakerlaken.
Ein weiterer großer blinder Fleck betrifft die Militäroperation „Turquoise“, die Paris vom 22. Juni bis 22. August 1994 mit Zustimmung des UN-Sicherheitsrats durchführte, um die Massaker zu beenden. In den ersten Tagen nach Beginn der Operation wurden 2000 Tutsi, die sich in die Hügel von Bisesero im Westen Ruandas geflüchtet hatten, ihren Mördern überlassen, obwohl das französische Militär in der Nähe war und den Zufluchtsort kannte.
Für Nichteingeweihte liefert der Bericht eine unverständliche Version der Vorgänge und erwähnt seltsamerweise auch nicht, dass 800 dieser Flüchtlinge am 30. Juni von französischen Soldaten gerettet wurden, die ohne Befehl handelten. Der Bericht zitiert lediglich die Rechtfertigungen der Armeeführung – „Versagen der Sicherheitsdienste“, „begrenzte militärische Kräfte“, „Befehle staatlicher Stellen“ –, obwohl zahlreiche Dokumente diese Darstellung widerlegen.
Paris deckte die Täter
2005 haben Überlebende von Bisesero die französische Armee wegen unterlassener Hilfeleistung und Beihilfe zum Völkermord verklagt. Der Prozess sollte unter anderem klären, warum kein Befehl zum Schutz und zur Rettung der Tutsi gegeben wurde und wer dafür vor Ort und in Paris verantwortlich gewesen war. Die geheimen Dokumente, die den Richtern damals vorenthalten wurden, konnte die Duclert-Kommission nun einsehen.
Unklar ist allerdings, ob sie gezielt danach gesucht hat. Nur eines ist klar: Sollte sie die Dokumente gefunden haben, hat sie der Justiz auf jeden Fall nichts davon mitgeteilt. Der Bericht erwähnt, dass sich die FAR im Juli in die von Soldaten der Turquoise-Operation kontrollierte „sichere humanitäre Zone“ (Zones Humanitaires Sures, ZHS) zurückzog, wo sie entwaffnet werden sollte. Er benennt zwar den begrenzten Handlungsspielraum der Franzosen, lässt aber unerwähnt, dass die FAR aus der ZHS heraus weitergekämpft hat, was die DGSE-Karten und die Lageberichte des Generalstabs bestätigen.
Ausführlich beschreibt der Bericht die Diskussionen innerhalb der französischen Regierung und im UN-Sicherheitsrat, um zu klären, ob die Mitglieder der Übergangsregierung, die sich in die ZHS geflüchtet hatten, verhaften werden durften oder ob die Turquoise-Soldaten sie lediglich überwachen sollten, um sie später der internationalen Justiz zu übergeben. Wie der Bericht auf Seite 632 erwähnt, schrieb Bernard Emié, damals im Büro von Außenminister Alain Juppé, an seinen Vertreter in Ruanda: „Nutzen Sie alle indirekten Kanäle und vor allem Ihre afrikanischen Kontakte, um den Regierungsvertretern unseren Wunsch zu übermitteln, sie mögen die ZHS verlassen. Weisen Sie darauf hin, dass die internationale Gemeinschaft und vor allem die UNO sehr bald entscheiden werden, wie mit dieser sogenannten Regierung zu verfahren ist.“
Der Bericht ignoriert jedoch ein wesentliches Element, das diesen Schriftwechsel erklärt. Noch bevor eine Entscheidung getroffen wurde, stellten der französische Präsident und das Außenministerium den Rest der Regierung, das französische Parlament und die UNO vor vollendete Tatsachen: Auf Antrag des Außenministers ließ die französische Armee die Täter nach Zaire (heute Demokratische Republik Kongo) entkommen, wo sie sich später neu organisierten und versuchten Ruanda zurückzuerobern. Auch nach dem Völkermord unterstützte der Staat seine ruandischen Verbündeten, sowohl in Zaire wie auch in Frankreich, wo viele von ihnen Aufnahme fanden. Dieser Punkt fehlt im Bericht völlig.
Insgesamt weckt der Duclert-Bericht den Eindruck, dass er alles ausspart, was den Weg zu einer strafrechtlichen Verfolgung eröffnen könnte. In der französischen Rechtsprechung gibt es drei Kriterien für Mittäterschaft: aktive Unterstützung, die in Kenntnis der Sachlage erbracht wird und die Auswirkung auf das Begehen der Straftat hat. Angesichts der zusammengetragenen und geprüften Indizien könnte die Justiz sofort tätig werden.
Die Duclert-Kommission erklärt sich zwar für nicht zuständig, ein solches Urteil zu fällen, erlaubt sich jedoch ein höchst politisches Abschlussstatement: Da bei den französischen Entscheidungsträgern keine Absicht eines Völkermords erkennbar sei, spricht sie sie von jeder Mittäterschaft frei.
Der Bericht stellt Mitterrand und seine Berater als nicht repräsentativ für die französische Politik dar. Ihr Verhalten sei ein historischer Fehler, der aber inzwischen behoben sei. Geht es darum, Frankreich und Ruanda zu versöhnen, auch wenn die historischen Tatsachen und die Gerechtigkeit dabei auf der Strecke bleiben? Der Bericht, eine seltsame Mischung aus akademischer Analyse und politischem Statement, wurde in den Räumen des Verteidigungsministeriums abgefasst. Der Öffentlichkeit wurde er durch Franck Paris, Afrika-Berater Macrons, und General Valéry Putz vorgestellt, der dem Generalstab angehört, dessen Vorgänger im Bericht angeprangert werden.
Dass es so schwierig ist, die Ereignisse in Ruanda vollständig aufzuklären, zeigt, wie sehr die französische Afrikapolitik und die Institutionen der Fünften Republik immer noch der Geheimhaltung unterliegen. Sie verleiht dem Staatschef und seiner Entourage die Macht, fast ohne Einschränkung folgenreiche Entscheidungen für ganze Völker und Staaten zu treffen.
5 Siehe Colette Braeckman, „Chronik unterlassener Hilfeleistungen“, LMd, März 2004.
10 Siehe Jacques Morel, „La France au cœur du génocide des Tutsis“, Paris (Esprit frappeur) 2010.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
François Graner ist zusammen mit Raphaël Doridant Autor von „L’État français et le génocide des Tutsis au Rwanda“, Marseille (Agone Survie) 2020.
Wann was geschah
1959 Vertreibung zehntausender Tutsi, vor allem nach Uganda
1962 Unabhängigkeit Ruandas
1963 Massaker an Tutsi durch die Hutu-Regierung
1973 Putsch des Hutu-Generals Juvénal Habyarimana, Massaker an Tutsi
18. Juli 1975 Militärhilfe-Abkommen mit Frankreich
1986 In Uganda ergreift Yoweri Museveni die Macht – mit Unterstützung exilierter Tutsi, die 1987 unter Paul Kagame die Ruandische Patriotische Front (PRF) gründen.
1. Oktober 1990 PRF-Militäroffensive
1993
4. August Arusha-Friedensabkommen zwischen Ruanda und PRF
5. Oktober Beginn der UN-Unterstützungsmission für Ruanda (Unamir)
1994
Januar–März Erste Mordanschläge durch Milizen
6. April Präsident Juvénal Habyarimana und sein burundischer Amtskollege Cyprien Ntaryamira kommen beim Abschuss ihres Flugzeugs ums Leben. Ermordung von zehn belgischen Blauhelmsoldaten
April bis Juli Völkermord an den Tutsi durch die Milizen Interahamwe und Impuzamugambi und Teile der Ruandischen Armee (FAR)
22. Juni Beginn der französischen UN-Militäroperation „Turquoise“ zum Schutz der Zivilbevölkerung
Juli In Kigali ergreift die Ruandische Patriotische Front die Macht.
6. Dezember 1997 Eine belgische Untersuchungskommission stellt fest, dass „die internationale Gemeinschaft und einige ihrer Mitglieder, darunter Belgien, im April 1994 versagt haben“.
1998 Ein Informationsausschuss des französischen Parlaments konstatiert „schwere Fehler in der Einschätzung“.
2000
14. April Paul Kagame wird zum Präsidenten Ruandas gewählt. 2003, 2010 und 2017 wird er wiedergewählt.
7. Juli Veröffentlichung des Berichts „Ruanda: der Völkermord, der hätte verhindert werden können“, der im Auftrag der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) zusammengestellt wurde
24. November 2006 Aus Protest gegen die Ermittlungen des französischen Richters Jean-Louis Bruguière zum Attentat vom 6. April 1994 unterbricht Ruanda seine diplomatischen Beziehungen zu Frankreich.
5. August 2008 Die Mucyo-Kommission unter dem Vorsitz von Ruandas Ex-Justizminister Jean de Dieu Mucyo beschuldigt Frankreich, den Völkermord mit vorbereitet und sich an ihm beteiligt zu haben.
26. März 2021 Der Bericht der französischen Historikerkommission unter Vorsitz von Vincent Duclert konstatiert zwar eine „erdrückende Verantwortung“ Frankreichs, sieht aber keine Beihilfe zum Völkermord.
19. April 2021 Der 2017 von der ruandischen Regierung in Auftrag gegebene Bericht der US-Anwaltskanzlei Levy Firestone Muse spricht von einer „schwerwiegenden Verantwortung“ Frankreichs beim Völkermord, kann aber keine Beteiligung an den Massakern von 1994 feststellen.