13.05.2021

Aktenberge in Soissons

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Aktenberge in Soissons

Frankreichs Justiz ist hoffnungslos überlastet

von Jean-Michel Dumay

Lisa Tiemann, Solid, 2017, Stahl, pulverbeschichtet, 120 x 70 x 90 cm
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Die französischen Gerichte sind mit Verfahren völlig überlastet – wie sehr, zeigt die Tatsache, dass sich manche von ihnen mit genau dieser Überlastung beschäftigen. So reichten Ende März Mitglieder der Anwaltsgewerkschaft Syndicat des avocats de France (SAF) in Bordeaux rund 20 Schadensersatzklagen von Klienten ein, die Opfer der Langsamkeit der Justiz geworden waren.

In einem Fall, in dem es um eine Kündigungsschutzklage ging, hat das zuständige Arbeitsgericht erst nach fünf Jahren anerkannt, dass es keinen gerechtfertigten Grund für die Kündigung gab. Vier Jahre und fünf Monate waren ins Land gegangen, bis am Ende festgestellt wurde, dass der Arbeitgeber gelogen hatte. „Während dieser Zeit ist es für unsere Klienten ein Leben im Wartestand, voller Bangen und Hoffen auf Gerechtigkeit und die ihnen zustehende Entschädigung“, erklärte einer der Anwälte.1

Die Bearbeitung von Gerichtssachen innerhalb einer angemessenen Zeit ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschrieben. Den Umfragen zufolge ist es die vordringlichste Erwartung, die die Prozessparteien an die Gerichte haben.

Allerdings hat deren Aufgabe fast schon industrielle Ausmaße angenommen: 2019 haben die französischen Gerichte 2,25 Millionen zivilrechtliche Urteile gefällt.2 Die Staatsanwaltschaften ermittelten in über 4 Millionen ­neuen Strafsachen; in 1,3 Millionen Fällen kam es zur Anklage. Jahr für Jahr gelangen genauso viele neue Fälle vor Gericht, wie abgeschlossen werden. Der Bestand offener Verfahren verringert sich also nicht.

„Durchsatz“ und „Bestände“ sind für die Gerichtspräsidenten das nackte Grauen. Zwei unvorhergesehene Ereignisse verschärften das Problem im vergangenen Jahr: ein Streik der Anwaltschaft wegen der Rentenreform und anschließend die Coronapandemie, wegen der die Gerichte zwei Monate schließen mussten. In Paris dauert die Bearbeitungszeit für Sozial-, Bank-, Wohnungs- und Baustreitigkeiten inzwischen 30 Monate. In Lyon hat sie sich in bestimmten Angelegenheiten verdoppelt. „Es ist wie eine Sturmflut“, sagt Michaël Janas, Präsident des dor­tigen Tribunal judiciaire (Erstinstanz der Zivilgerichtsbarkeit). Und der Mensch leidet: „Die Mannschaft ist erschöpft.“

„Ohne den aufopfernden Einsatz der Mitarbeiter würden wir es gar nicht schaffen“, so beschreiben Richter und Verwaltungsangestellte unisono die zermürbende Arbeitsbelastung. Mittlerweile wird von allen Seiten Alarm geschlagen. „Wir sehen eine Justiz am Rande des Zusammenbruchs“, warnte die Richtergewerkschaft Syndicat de la magistrature (SM) nach einer Umfrage von 2019.3 Die Mitarbeiter würden oft nur wegen ihrer Leidenschaft für ihren Beruf durchhalten, aus Verantwortungsbewusstsein oder aus Entschlossenheit, um jeden Preis zurechtzu­kommen.

Das Ausmaß der Überlastung lässt sich zum Beispiel im Gericht der Stadt Soissons, nordöstlich von Paris, beobachten. Das schlichte Gebäude aus den 1930er Jahren strahlt weder die symbolische Macht der säulenbestandenen alten Justizpaläste aus noch die Kälte der neuen Gerichtsgebäude in der Hauptstadt, die oft wie Hightech-Fabriken für die Herstellung von Urteilen wirken. In den Büros der acht Richter und drei Staatsanwälte stapeln sich Berge von Akten – in den offenen Schränken, auf den Schreibtischen, einfach überall. Die geplante Digitalisierung hat bisher an der Papierflut nichts geändert.

Die Jugendrichterin wacht über 800 gefährdete Minderjährige, sie muss jedes Jahr etwa 1000 Entscheidungen fällen. Die Strafrichterin ist für 800 Gefangene im offenen sowie 80 Insassen im geschlossenen Vollzug zuständig, das bedeutet 1400 Anordnungen oder Urteile pro Jahr. Bei den beiden Amtsrichtern sind mehr als 2000 Vormundschaften zu bearbeiten, ebenso wie Hunderte Fälle von Lohnpfändung, unbezahlter Miete, Überschuldung.

Die Realität steht im krassen Gegensatz zu dem Bild, das die Me­dien mit ihrem Fokus auf spektakuläre Strafprozesse vermitteln. Es ist „eine Justiz der armen Leute“, sagt die Gerichtspräsidentin Isabelle Seurin, die deren fortschreitende „Entmenschlichung“ befürchtet.

Am Gericht in Soissons arbeiten mehr Frauen als Männer (2020 waren 68 Prozent der Richterschaft weiblich) – oft sind diese Richterinnen unter 30, es ist ihr erster Job nach dem Studium. Sie sehen aus wie die Gesichter auf den Rekrutierungsplakaten in den Fluren: „Stolz darauf, für Gerechtigkeit zu sorgen! Werden Sie Richter.“ Fehlt nur der Zusatz: „Und vergessen Sie Ihre Wochenenden.“

In einem weiteren Büro sitzt die Familienrichterin. Bei ihr liegen 700 Fälle: Scheidungen, Sorgerecht, Unterhaltszahlungen und so weiter. Die Prozessbeteiligten finden, dass alles zu lange dauert. Am Vortag hat die Assistentin sechs Anrufe und rund 30 E-Mails zu diesem Thema bekommen.

Insgesamt mangelt es an Sachbearbeitern, zurzeit fehlen zwei von 16. Bei den Justizfachangestellten liegt die Abwesenheitsquote bei 17 Prozent. So braucht sich niemand zu wundern, dass man in Strafprozessen oft drei Jahre auf ein Urteil warten muss. Die Leiterin der Geschäftsstelle ­Christelle ­Cernik erwähnt am Rande auch das Fehlen von Laptops, was während des ersten Coronalockdowns ein Riesenproblem war.

Eine enorme Belastung ist auch die Umsetzung von immer neuen Justizreformen, zuletzt die Zusammenlegung der französischen Amts- und Landgerichte Anfang 2020. Cernik spricht vom „Leiden der Angestellten“, von Mitarbeitern, die „in Tränen ausbrechen“. „Die müssen wir dann unterstützen, ohne dass wir für psychologische Betreuung irgendwie geschult sind. Aber wir sind halt diszipliniert, wir stehen das durch.“

„Das Justizsystem steht unter Druck“, sagt auch Michel Mazé, Chef der Geschäftsstelle eines Gerichts in Rennes. Dessen Vormundschaftsamt hat zum Beispiel seit zwei Jahren keinen stellvertretenden Leiter mehr. Zur strukturellen Unterbesetzung (7 Prozent der Stellen sind landesweit vakant) kommen noch die Krankheitszeiten oder Mutterschaftsurlaube hinzu und die Kündigungen, wenn sich anderswo bessere Bedingungen finden lassen. Der Personalmangel bei den Gerichtsvollziehern wird zum Beispiel mit Verwaltungsangestellten ausgeglichen, jedenfalls sofern diese nicht gerade vom Familienrichter losgeschickt werden. „Das ist bei uns schon zur Gewohnheit geworden“, erzählt Mazé.

Dieser Mangel ist keineswegs nur ein subjektives Gefühl. Laut der Europäischen Kommission für die Effizienz der Justiz (Cepej), einer Einrichtung des Europarats, gab Frankreich 2018 durchschnittlich 69,50 Euro pro Einwohner für seine Justiz aus, Spa­nien dagegen 92 Euro, die Niederlande 120, Österreich 125 und Deutschland 131 Euro.4 Bezogen auf die Wirtschaftskraft beliefen sich die Ausgaben in Frankreich auf 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, verglichen mit 0,32 Prozent in Deutschland und 0,36 Prozent in Spanien.

Zwar sieht ein Planungsgesetz für die Justiz in Frankreich eine Mittelerhöhung um 24 Prozent zwischen 2018 und 2022 vor. Dabei bleibt jedoch unberücksichtigt, dass die Gelder für gewöhnlich eher dem Strafvollzug zugutekommen: Während die Haushaltsmittel für die Gefängnisse zwischen 2010 und 2019 um 25 Prozent zugenommen haben, stiegen sie für die Gerichtsbarkeit nur um 11 Prozent.

Pro 100 000 Einwohner kommt die Cepej in Frankreich auf 11 Richter und 34 sonstige Justizangestellte wie Rechtspfleger oder Sachbearbeiter. Deutschland kommt auf 24 Richter und 65 Justizangestellte und Belgien auf 43 Justizangestellte. Noch schwieriger ist die Situation für die französischen Staatsanwälte, deren Anzahl, gemessen an der Bevölkerung, im euro­päi­schen Vergleich am geringsten ist: drei pro 100 000 Einwohner. In Deutschland und Belgien sind es jeweils sieben.

„Die Richter haben nicht mehr so viel Zeit für die Rechtsprechung in jedem einzelnen Fall, was sie tendenziell als Herabstufung ihrer Funk­tion wahrnehmen“, meint Jérôme Gavaudan, Präsident der französischen Rechtsanwaltskammer, die die 70 000 Anwälte im Land vertritt. „Die vorsitzenden Richter konzentrieren sich jetzt vor allem darauf, Beschlüsse zu fällen. Anhörungen nehmen immer weniger Raum ein.“ Um Zeit zu sparen, wird auch immer öfter auf öffentliche Verhandlungen mit Plädoyers verzichtet, und es werden eher Vergleiche angestrebt.

Aus dem Zeitmangel entwickelt sich ein Syndrom, das sie „Stapelangst“ nennen. „Man muss immer den Durchsatz im Auge behalten“, erklärt eine Jugendrichterin, die seit etwa fünfzehn Jahren in Südfrankreich tätig ist. „Wenn man das nicht schafft, ist man so gut wie tot.“ Jeden Tag im Gericht, fünf Fälle pro Morgen, „von denen jeder ernst und jeder dringend ist“ – ein endloser Fluss.

„Wir sind wie besessen von der Zeit“, ergänzt ein Kollege, der für Zivilprozesse zuständig ist. „Im Gerichtssaal behalte ich ständig die Uhr im Auge. Gerät man einmal in Verzug, droht eine Abwärtsspirale. So ähnlich wie bei einer Überschuldung.“

Die Strafjustiz setzt seit einigen Jahren auf Verfahren „in Echtzeit“. Dabei sind die Gerichte permanent im telefonischen Kontakt mit Polizei und Ermittlern, um die vorgelegten Fälle zu behandeln. In Tours ermöglicht seit Juni 2020 eine neue Softwareplattform eine noch effizientere Nutzung dieses Systems. Pro Tag gehen bis zu 80 Anrufe ein.

Eine junge Aushilfe mit Headset nimmt an diesem Frühlingstag die Anrufe entgegen. Sie hat zwei Bildschirme vor sich, auf denen Zeile für Zeile die Meldungen aus den verschiedenen Polizeistationen aufgelistet werden, die sie zu erreichen versuchen. Ein Farbcode zeigt den Grad der Dringlichkeit an. Sie hebt ab: Erst ein Raubüberfall, dann häusliche Gewalt, Fahren unter Drogeneinfluss, ein Verdacht auf Kreditkartenbetrug – der Strom neuer Meldungen reißt nicht ab.

Eine Sachbearbeiterin notiert die Verhaftungen auf einer Tafel, sobald sie gemeldet werden. Die zuständige Staatsanwältin muss dann die Straftat durch einen Code, von denen es Tausende gibt, klassifizieren und vor allem schon eine erste Einordnung vornehmen: den Fall gleich einstellen, eine Alternative zur Strafverfolgung finden – etwa ein Bußgeld oder gemeinnützige Arbeit –, beschleunigtes Strafverfahren oder Anklage und späterer Prozess. Angesichts der Bandbreite an Entscheidungsmöglichkeiten sind Staatsanwälte inzwischen zu Quasi-Richtern geworden. Anders als diese sind sie allerdings nicht unabhängig, sondern dem Justizministerium unterstellt.

„Je schneller der Prozess, desto besser wird die Entscheidung verstanden“, betont der Oberstaatsanwalt in Tours Gré­goire Dulin. Als er 2019 sein Amt antrat, hat er seine Abteilung erst einmal nach Managementgesichtspunkten umstrukturiert, um „die Leistung der Gerichtsbarkeit“ und „die Arbeitsbedingungen der Beamten zu verbessern“ sowie „Leerlaufzeiten“ zu verhindern.

Jede Woche checkt Dulin die laufenden Verfahren. In den zwei Jahren seit seinem Amtsantritt hat sich die Zahl der Personen, die der Staatsanwaltschaft vorgeführt werden, verdreifacht, die Zahl der beschleunigten Verfahren hat sich um das 2,5-Fache erhöht und die Zahl der Schuldeingeständnisse, bei denen der Staatsanwalt dem Angeklagten eine Strafe vorschlägt, um einen Prozess zu vermeiden, sogar um das Neunfache. Alles wurde so organisiert, dass möglichst viele Verfahrensabschlüsse erreicht werden können. Die Strafen können gegebenenfalls noch am selben Tag von einem Richter genehmigt werden.

Diese Urteile nach dem Muster „mehr und schneller“ haben immer wieder zu lebhaften Debatten geführt. „Die Strafprozesse erinnern viel zu sehr an Fließbandarbeit“, schrieb bereits 2010 Loïc Cadiet, Juraprofessor an der Sorbonne, „und der Kult um die Urteilsquote droht die Anforderungen an ein qualitativ hochwertiges Strafrecht zu untergraben, das sich nicht an der Auslastung der Gefängnisse, sondern an der Resozialisierung der Verurteilten misst.“5 Die Richtergewerkschaft kritisiert die immer häufiger genutzten beschleunigten Verfahren als „Aburteilungsjustiz“.

Im Januar besuchten wir im Rahmen einer Arbeitsmarktmaßnahme für Jugendliche aus den Pariser Vororten ein solches Schnellverfahren. Es ging um Handydiebstähle und häusliche Gewalt. „Eine Justiz, in der Weiße über Schwarze urteilen“, meinte ein Teilnehmer mit Blick auf die Besetzung der Richterbank, der Staatsanwaltschaft und der Anklagebank. „Eine Justiz der Reichen, die über die Armen urteilen“, korrigierte daraufhin einer der jungen Männer.

2018 wurde die Aufnahmeprüfung für die Nationale Richterschule (École nationale de la magistrature, ENM) geändert, um für mehr Diversität zu sorgen. Zwar ist seither eine gewisse so­zia­le Öffnung feststellbar, doch nach wie vor stammen 63 Prozent der etwa 8500 amtierenden Richterinnen und Richter aus gehobenen Schichten – die Eltern sind Firmenchefs, Führungskräfte oder in akademischen Berufen tätig – nur 12 Prozent sind Kinder von einfachen Angestellten oder Arbeitern.6 „Die Kollegen sind sich dieser Dominanz einer ganz bestimmten sozialen Schicht längst nicht alle bewusst“, meint die südfranzösische Jugendrichterin.

„Mit den beschleunigten Verfahren in Straf- und Familiensachen steigern wir den Durchsatz“, sagt eine andere Richterin in der Bretagne. „Auf dem Papier sieht das gut aus. Im Interesse der Karriere der Chefs tun wir so, als liefe alles bestens.“ Die Zahl abgearbeiteter Verfahren und das Budget stünden heute im Mittelpunkt der gerichtlichen Tätigkeit, bedauert der Lyoner Gerichtspräsident Janas. „Das lenkt die Justiz jedoch von ihrer zentralen Aufgabe ab, nämlich die sozialen Spannungen abzubauen.“

Für diejenigen, die schon länger im Dienst sind, war der Wendepunkt das 2006 in Kraft getretene „Organgesetz betreffend die Haushaltsgesetze“ (LOLF), das eine stärkere Leistungs­orien­tierung der öffentlichen Verwaltung vorsieht. „Vor 25 Jahren haben wir anders gearbeitet“, sagt die Geschäftsstellenleiterin Cernik. „Heute sind wir an die Zahlen gebunden. Früher sprachen wir von ‚Angestellten‘, heute von ‚Vollzeitäquivalenten‘.“

Die Gerichtspräsidentin Seurin stimmt zu: „ ‚Evaluation‘ und ‚Leistung‘ – das Vokabular in den Gerichten hat sich verändert. Als Richterin steckt man in einer Zwickmühle zwischen der Notwendigkeit, die Aktenstapel abzubauen, und dem eigenen Gewissen und Streben nach guter Qualität.“

Catherine Farinelli, die Präsidentin des Berufungsgerichts in Amiens, sitzt in ihrem Büro. Im Flur hängen die Porträts ihrer ausschließlich männlichen Amtsvorgänger. Sie zählt weitere Belastungen auf, die in letzter Zeit hinzugekommen sind. Insbesondere sei da der Druck der sozialen Netzwerke – „wo sich keiner um die Unschuldsvermutung schert“, weil die User nicht ermitteln, sondern nur richten – und auch die Modernisierung: „Es ist wie ein ständiges Erdbeben.“ Die jüngsten Erschütterungen gehen auf das Konto von Open Data, denn bald soll die Öffentlichkeit Einblick in alle Gerichtsentscheidungen erhalten. Dieser Druck ist letztlich auch das Resultat der zunehmenden Zentralisierung.

Die Bemühungen um mehr Effizienz und Kostenkontrolle brachten zwar einerseits eine Rationalisierung der Verfahren und mehr außergerichtliche Einigungen, vor allem durch die verstärkte Nutzung von Mediation. Andererseits aber haben sie auch zu mehr Distanz zwischen Richtern und Prozessparteien geführt.7 „Seit vier Jahren ist der Zugang zu einem Richter in Zivilsachen und im Arbeitsrecht objektiv deutlich eingeschränkt“, bestätigte vergangenes Jahr die Präsidentin eines Sozialgerichts.8 Im Sozialrecht hat sich die Zahl der neuen Gerichtsverfahren pro Jahr (2020 waren es 122 000) innerhalb von zehn Jahren halbiert. Infolge der Reformen ziehen weniger Angestellte und Arbeiter vor Gericht als Führungskräfte, denn die können es sich leisten, einen Fachanwalt zu engagieren.

Diese Entwicklung, die einer rein betriebswirtschaftlichen Logik folgt, verändert auch die juristische Praxis. „Seit alles einer Managementphilosophie untergeordnet wird, ist unsere Rechtsprechung nicht mehr so wie früher“, meint Véronique Kretz, Richterin im Elsass und Mitglied der Richtergewerkschaft. Sie kritisiert vor allem die Reform der Sozialgerichtsbarkeit, die 2019 dazu geführt hat, dass 242 spezialisierte Gerichte, beispielsweise für Sozialversicherungs- oder Berufsunfähigkeitsfälle, geschlossen wurden. Dies stehe für eine radikale Entwicklung, bei der „anstelle eines Diskurses über die Ziele – was macht eine gute Entscheidung aus und wie gelangt man dahin? – einer über die Mittel tritt, die einem einzigen Zweck dienen: Wie schafft man die maximale Anzahl von Entscheidungen?“9

Im Zuge der Reform der Sozialgerichtsbarkeit wurden 300 000 Streitfälle an andere Zivilgerichte transferiert. Bekanntlich verbergen sich hinter diesen Fällen „Personengruppen, die aus dem System ausgeschlossen sind, etwa Menschen mit Behinderung oder mit vielen Brüchen im Lebenslauf und prekären Arbeitsplätzen“, meint Kretz. Für diese Menschen sei der Verlust einer Rente wegen eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit fatal. Und für einen Richter, fügt sie hinzu, bedeute es einen „krassen Sinnverlust, wenn er den Kläger tendenziell als Gegner sieht“, weil er nämlich den Durchsatz verlangsamt.

Die Gerichte stehen somit von zwei Seiten unter Druck: Sie sollen einerseits den Haushaltsplan strikt einhalten und andererseits dafür sorgen, dass die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an ein faires Verfahren, unabhängig von den Kosten, eingehalten werden. Nach Ansicht des französischen Rechnungshofs müssen die Gerichte für einen effizienten Einsatz von Haushaltsmitteln dringend Managementinstrumente zur Bestimmung ihres Personalbedarfs entwickeln. Die Arbeiten daran gehen allerdings nur langsam voran. Nach Ansicht der Gewerkschaften liegt der Grund dafür auf der Hand: „Das würde die Katastrophe ja für alle sichtbar machen.“

Justizminister Éric Dupond-Moretti, der seit Juli 2020 im Amt ist, begnügt sich unterdessen mit kleineren Maßnahmen. Weil die Ausbildung von Justizbeamten und Richtern viel Zeit in Anspruch nimmt, hat er den Gerichten zunächst eine „schnelle Kalorienzufuhr“ angekündigt, in Form von befristeten Stellen für Assistenten, Rechtspfleger oder Verwaltungsaushilfen. Zum Abbau der hohen Zahl offener Verfahren bat er eine Arbeitsgruppe um „innovative“ Vorschläge.

Dupond-Moretti rühmte auch das „historische Budget“, das er für sein Ressort herausgeschlagen habe, auch wenn dadurch im Wesentlichen bloß die Defizite vergangener Jahre ausgeglichen werden. Und schließlich brachte er einen Gesetzentwurf „zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Recht­sprechungs­organe“ auf den Weg, ein bunter Strauß von Maßnahmen, die sich auf das Strafrecht – den in der Öffentlichkeit sichtbarsten Bereich der Justiz – konzentrieren und teils seiner eigenen langjährigen Erfahrung als Anwalt zuwiderlaufen dürften.

„Es reicht!“, halten dem die Gewerkschaften der verschiedenen juristischen Berufsgruppen entgegen, die an den Entscheidungen nicht beteiligt werden. Sie boykottieren den Minister, der sich dem sozialen Dialog verschließt und, wie er selbst zugibt, jeden Widerspruch ablehnt. Stattdessen gibt er gern das Bonmot wieder, wonach „die Justiz ein uralter Trugschluss ist, den die Verwaltung als eine Tugend auszugeben versucht“.10 Zugleich lässt die enorme Zahl neuer Gesetze im Bereich des Justizwesens in den vergangenen Jahren viele Betroffene fassungslos zurück.

„Keine andere Institution hat in den letzten zwei Jahrzehnten so viele Reformen und eine solche Inflation neuer Vorschriften erlebt“, sagt François Molins, Generalstaatsanwalt am Kassationsgerichtshof, der höchsten Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Frankreich. Die Regierung bemüht sich kaum noch, die Auswirkungen ihrer Maßnahmen zu untersuchen, insbesondere im Hinblick auf den Personalbestand, der für die Umsetzung erforderlich ist.

Sie scheint sich auch keine Gedanken über die Folgen zu machen. Am Gericht von Soissons sollen nun mobile Verhandlungen mit einem reisenden Richter eingeführt werden, nachdem das Amtsgericht im gut 40 Kilometer entfernten Château-Thierry geschlossen wurde. Denn für jemanden ohne Auto wäre sonst eine dreistündige Anreise mit dem Zug über Paris nötig, um vor Gericht zu erscheinen.

Die Betroffenen sind zu erschöpft, um bei all dem mitzuziehen: Im Januar dieses Jahres musste der Minister das Inkrafttreten des neuen Jugendstrafrechts um sechs Monate verschieben. Die Gerichte konnten die Reform einfach nicht umsetzen. Und im März protestierten die Strafrichter gegen sein Vorhaben, die für Strafgefangene geltenden Regeln zu ändern, die gerade erst wenige ­Monate zuvor modifiziert worden waren.

„Die Politik antwortet auf die Pro­ble­me im Justizsystem mit kurzfristigen Ad-hoc-Maßnahmen, ohne eine langfristige Vision, während die Gerichte völlig verstopft sind und das System von den Mitarbeitern nur noch notdürftig am Laufen gehalten wird“, sagt Chantal Arens, die als Präsidentin des Kassationsgerichtshofs an der Spitze des Justizapparats steht. Die Beschäftigten im Justizwesen fügen sich allerdings allzu oft in ihr Schicksal, meint ein ehemaliger Justizminister: „Streiks sind dort selten, und selbst dann finden sie, um ja nicht zu stören, zwischen 12 und 14 Uhr statt.“

1 Olivia Dufour und Michèle Bauer, „Justice: 'On ne peut plus tolérer les délais de traitement engendrés par le manque de moyens’“, Actu Juridique, 31. März 2021, www.actu-juridique.fr.

2 Ausgenommen den Schutz von jungen Erwachsenen und Minderjährigen, Lohnpfändung, Mahnbescheide. Wenn nicht anders angegeben, stammen die vorgestellten Daten vom Justizministerium oder von den Gerichten selbst.

3 Siehe „L’envers du décor. Enquête sur la charge de travail dans la magistrature“, Syndicat de la magistrature, Paris, Mai 2019.

4 „Special file – Report European judicial systems – ­CEPEJ Evaluation report – 2020 Evaluation cycle (2018 data)“, Europarat, Straßburg 2020.

5 Loïc Cadiet, „La justice face aux défis du nombre et de la complexité“, Les Cahiers de la justice, 2010/1, Dalloz, Paris, Januar 2010.

6 Yoann Demoli und Laurent Willemez (Hg.), „L’âme du corps. La magistrature dans les années 2010: morphologie, mobilité et conditions de travail“, Mission de recherche droit et justice, Paris, Oktober 2019.

7 Vgl. Sophie Prosper, „Réformes de la justice et désengagement de l’État: la mise à distance du juge“, Délibérée, Nr. 9, Paris, Januar 2020.

8 Laurence Neuer, „Saisir le tribunal est devenu très compliqué pour beaucoup“, Le Point, Paris, 23. Juli 2020.

9 Véronique Kretz, „Juger ou manager, il faut choisir“, Délibérée, Nr. 11, November 2020.

10 Siehe Éric Dupond-Moretti (mit Laurence Monsénégo), „Le Dictionnaire de ma vie“, Paris (Kero) 2018. Das Zitat stammt von dem Richter Serge Fuster alias Casamayor.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Jean-Michel Dumay ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 13.05.2021, von Jean-Michel Dumay