13.07.2012

Chinesische Reiselust

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Chinesische Reiselust

Die neue Freizeitgesellschaft entdeckt den Individualtourismus und Peking hat nichts dagegen von Pal Nyiri

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Heute ist es in China üblich, dass auch Studenten oder Chefsekretärinnen mehrmals im Jahr Ferien machen. Ein Wochenende zum Schaufensterbummel in Hongkong, Spritztour durch die Kasinos Südostasiens, Rucksackwanderung, Skiurlaub in der Mandschurei oder eine organisierte Reise zu den „berühmten Bergen und Flüssen“. All das ist für die ständig wachsende und vielfältiger werdende städtische Mittelschicht durchaus erschwinglich. Sogar in ländlichen Gegenden leisten sich immer mehr Menschen hin und wieder einen Tagesausflug, um einen Tempel zu besichtigen oder ein Thermalbad zu besuchen. In der Zeit des Frühlingsfests sind Ferienreisen so üblich geworden, dass sogar schon die traditionellen Familientreffen am chinesischen Neujahrsfest darunter leiden.

Bisher werden Zeitpunkt und Dauer des Urlaubs gewöhnlich vom Arbeitgeber festgelegt. Die Arbeitnehmer gehen zwar noch nicht so weit, offen ihre Forderungen zu stellen, äußern aber zunehmend den Wunsch, mehrmals im Jahr einen Tapetenwechsel zu erleben. Ausgeschlossen von der neuen Freizeitgesellschaft bleiben die Armen sowie die Kleinunternehmer, die sich solche Eskapaden angesichts fester Liefertermine und harter Konkurrenz nicht leisten können und sich weiterhin mit den Familientreffen zum Frühlingsfest begnügen müssen.

Während der bloße Gedanke an Ferien (dujia) für die Mehrheit der Bevölkerung noch vor 15 Jahren abwegig erschien, sind die Chinesen inzwischen die wichtigsten Kunden der nationalen Tourismusindustrie. Anders als Sowjetunion hat das kommunistische China in den ersten 50 Jahren keinerlei Tourismusförderung auf den Weg gebracht. Erst im Rahmen der ökonomischen Reformen ab 1978 genehmigte die Regierung die Entwicklung von zwölf Ferienregionen, die die ausländischen Devisen der Hongkong-Chinesen und der Auswanderer ins Land holen sollten.

Der Inlandstourismus kam mit der Verbesserung des Lebensstandards in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in Gang. Zunächst gab es organisierte Reisen für Mitarbeiter im öffentlichen Dienst. Da freie Zeit Mangelware war (mit Ausnahme des Frühlingsfestes und der Sonntage) und die Regierung Vorbehalte hatte (manche Funktionäre befürchteten, der Tourismus könnte Prostitution und Geldspielen Vorschub leisten), traten aber immer noch nur wenige Leute private Reisen an. Im Lauf der 1990er Jahre wurden dann mit staatlicher Unterstützung mehr als 2 000 Vergnügungsparks in den Städten errichtet, die vorwiegend kulturelle Traditionen und folkloristische Bräuche in Szene setzten und zu patriotischen Gefühlen anregen sollten.

Beliebtes Tibet

Von 1998 an wurde der Tourismus noch intensiver gefördert, um so den Binnenkonsum zu beleben. Seit 1999 gibt es landesweit drei Ferienwochen, die um die Feiertage am 1. Oktober, 1. Mai und zum Frühlingsfest liegen. Die städtischen Mittelschichten nutzen seither diese Möglichkeit, um das Reisen in ihren Lebensstil zu integrieren. Der beste Beweis sind die mehr als 300 Millionen Besuche, die das Tourismusministerium während der „goldenen Woche“ um den 1. Oktober 20111 herum registriert hat. Worauf sich diese Zahl bezieht, ist zwar etwas unklar, aber immerhin ist sie mehr als doppelt so hoch wie die entsprechende aus dem Jahr 2008.

Während insbesondere die jungen Städter gern mit dem Rucksack nach Südostasien (Laos, Kambodscha, Vietnam, Thailand) reisen, bevorzugt die Mehrzahl der Chinesen immer noch Gruppenreisen, die meist durch den Arbeitgeber, eine Agentur oder ein paar Freunde organisiert werden. Diese Art, die Ferien zu verbringen, ist für Leute, die zum ersten Mal in ihrem Leben verreisen, sehr attraktiv. Und da die meisten Chinesen in Sachen Reisen Anfänger sind, wird dieses Segment den Markt noch für einige Zeit beherrschen.

Tempel, Berge und historische Stätten sind die beliebtesten Ziele. Da der Buddhismus ein starkes Wiederaufleben erfährt, bieten Tempelbesuche auch die Gelegenheit, wieder einmal ein paar Räucherstäbchen für die Götter anzuzünden. Obwohl China kein System zur Einstufung seines Kulturerbes besitzt, erfreuen sich jüngst erschlossene Naturschönheiten, Ethnotourismus (hauptsächlich im Südwesten, bei den Tibetern, Tai, Dong, Miao und so weiter) sowie die während der Kulturrevolution zerstörten und inzwischen wieder aufgebauten antiken Städte außerordentlicher Beliebtheit.

Hoch im Kurs stehen Orte, die zum Unesco-Weltkulturerbe gehören – und deren Zahl wächst dank dem Bemühen der Regierung von Jahr zu Jahr. Diese Anstrengungen sind nicht verwunderlich, da sich die meisten dieser Stätten im extrem armen und schwer zugänglichen Westen des Landes befinden und der Tourismus ein wesentlicher Baustein in der Entwicklungsstrategie der Staatsmacht ist. Schließlich stellt er in vielen Regionen des Südwestens, einschließlich Tibet, heute die wichtigste Einnahmequelle dar.

Im Naturschutzgebiet Jiuzhaigou in der Provinz Sichuan leben beispielsweise nur ein paar tausend Tibeter. Doch das Unesco-Weltnaturerbe zieht jedes Jahr mehr als 3 Millionen Touristen an und verfügt über 44 edle Hotels, darunter Ketten wie Sheraton, Intercontinental und Marriott. Und am 23. Juni 2012 meldete die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, Peking wolle im Südosten Tibets 50 Millionen Euro investieren, um 22 Modelldörfer zu bauen. Der 320 Kilometer südöstlich von Lhasa gelegene Landkreis Nyingchi solle mit seinen Wäldern, Flüssen und schneebedeckten Bergen zu einem internationalen Touristenziel werden.

In unmittelbarer Umgebung der alten und neuen touristischen Ziele liegen oft, in streng abgegrenzten Gebieten, ein oder mehrere Dörfer mit Leuchtreklame und guter Infrastruktur. Nachdem die Gruppen in Begleitung ihrer Reiseleiter Eintritt bezahlt haben, dürfen sie hier die Landschaft genießen und Aufführungen traditioneller Tänze bewundern. Das „Authentische“, das viele westliche Touristen hier zu finden hoffen, ist Wanderern und einer kleinen reichen und anspruchsvollen Bevölkerungsschicht vorbehalten, die in den Bergen luxuriöse, von renommierten Architekten entworfene Domizile besitzt. Auch Ferien am Meer werden immer begehrter, obwohl die Chinesen – die seit jeher eine Abneigung gegen das Bräunen haben – längeren Aufenthalten am Strand nicht so viel abgewinnen können.

Auch Reisen ins Ausland nehmen rasant zu. Internationale Billigfluggesellschaften haben Einzug gehalten, und erst kürzlich haben die Nachbarn in Südostasien beschlossen, die Formalitäten für chinesische Staatsbürger zu erleichtern und ihnen gleich nach der Landung Visa auszustellen. 2011 haben 65 Millionen Chinesen eine Grenze überschritten. Das sind dreizehnmal so viele wie 1997.

Fußnote: 1 Nationalfeiertag zum Gedenken an die Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Pal Nyiri ist Professor für Weltgeschichte und Angewandte Anthropologie an der Freien Universität Amsterdam.

Le Monde diplomatique vom 13.07.2012, von Pal Nyiri