Eliten auf Reisen
Junge Adlige gingen einst auf die „Grand Tour“, um von der Fremde zu lernen von Bertrand Réau
Wer hoch hinaus will, hat bessere Chancen, wenn er sich in den unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus zu Hause fühlt. Das lässt sich schon in jungen Jahren lernen, zum Beispiel auf einer organisierten Auslandsreise. Doch was man heute als Austauschschüler oder Erasmus-Studentin macht, war jahrhundertelang das Privileg von ausschließlich männlichen jungen Adligen und Patriziern, die auf ihren mehrmonatigen Reisen durch Europa nicht nur den gelehrten Köpfen ihrer Zeit begegneten, sondern auch mit weniger Komfort auskommen mussten, als sie es vielleicht gewohnt waren.
Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert wurde die adlige Erziehung gewöhnlich durch eine Auslandsreise, Grand Tour oder Kavalierstour genannt, abgerundet. In Begleitung eines Hofmeisters, der als Privaterzieher, Berater, Reiseleiter und Quartiermeister fungierte, die Reisekasse verwaltete und Audienzen an den wichtigen Höfen verabredete, sollte der junge Adlige in die Welt der europäischen Aristokratie eingeführt werden.
In der Epoche des Absolutismus ging es auf der Grand Tour meistens nach Frankreich und Italien. In Frankreich sollten sich die vornehmen Reisenden in galanten Sitten, modischer Eleganz und geistreicher Konversation üben. In Italien besichtigten sie die Baudenkmäler der römischen Antike, gingen in die Oper und besuchten Vorlesungen über Staatslehre. Die Niederlande und England waren interessant wegen ihrer technischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften und der Vielfalt an wissenschaftlichen und religiösen Lehrmeinungen (für katholische Adlige war natürlich Rom erste Anlaufstelle).1 Und bei manch einem weckte der Besuch berühmter Raritätenkabinette und Wunderkammern den Ehrgeiz, sich mit dem Erwerb kostbarer oder „curiöser“ Souvenirs zu Hause eine eigene Sammlung aufzubauen.
Zeitgenossen beklagten zwar, dass viele die aufgenötigte Bildungs- zur Vergnügungsreise umwidmeten und mehr Zeit bei Wein und Würfelspiel als in der Bibliothek und im Vorlesungssaal verbringen würden. Doch dass die Reisenden im Grunde nur taten, wozu sie Lust hatten, zeuge an sich schon von standesgemäßem Verhalten, schreibt der Historiker Marc Boyer.2 Denn genau darum ging es schließlich auf diesen Reisen: den jungen Männern klarzumachen, dass sie Teil einer internationalen Machtelite waren.
Reit- und Fechtturniere gehörten zwar zum festgelegten Programm, aber diese ritterlichen Fertigkeiten hatten ihren praktischen Wert längst verloren, sie dienten allein der Repräsentation. Die Kriegskunst, wie Festungs- und Waffenkunde, war längst eine Sache für Spezialisten geworden. Tatsächlich war die Zivilisierung der Adelsgesellschaft vom Kriegs- zum Hofadel „mit gedämpfteren Affekten“3 ein langer Prozess gewesen, der im 11. oder 12. Jahrhundert einsetzte und im 17. und 18. Jahrhundert abgeschlossen war.
In fast allen europäischen Staaten war damals die Grand Tour, aus der das Wort „Tourismus“ hervorgegangen ist, die letzte Etappe in der Erziehung junger Aristokraten. Besonders reisefreudig war der britische Adel. Auf Wunsch von Sir William Cecil (1520–1598), dem Staatssekretär von Elisabeth I., sollten die Adelssprösslinge von ihren Reisen „scholarly and civilly trained“ zurückkehren, wozu zum einen die breite Kenntnis verschiedener Wissenschaften gehörte und zum anderen die „Conduite“, die Lehre vom guten Benehmen und galanten Verhalten.
Solange es im eigenen Land keine standesgemäßen Erziehungsanstalten gab, erfüllten die Auslandsreisen diese Aufgabe. Im deutschsprachigen Raum führte die vorübergehende große Reisefreudigkeit junger Adliger schließlich zur Gründung von Ritterakademien (Wien 1682, Erlangen 1701 oder Brandenburg an der Havel 1704), die allerdings nicht ersetzen konnten, was die Reisenden unterwegs lernten, wenn sie in der Fremde gewissermaßen erst zu sich selbst und ihrem Stand fanden. Das wahre Ziel der Reise war also die Rückkehr.
Zunächst kam es jedoch auf eine gute Reisevorbereitung an. Der britische Philosoph Francis Bacon (1561–1626), der selbst zwei Jahre in Frankreich verbracht hatte, gibt dazu ein paar Ratschläge: „Zuerst muß er […] einigermaßen in die Fremdsprache eingedrungen sein, ehe er abreist; ferner muß ihm ein Hofmeister oder Erzieher beigegeben werden, der […] das fremde Land kennt. Auch möchte er tunlichst eine Karte oder ein Buch bei sich führen, in welchem das Land, das er bereist, beschrieben ist, was ihm als erwünschter Wegweiser dienen wird. Ebenfalls soll er ein Tagebuch führen.“4
Auf dem Weg nach Paris, Florenz und Rom lernte der junge Mensch natürlich auch die Welt abseits der Höfe kennen. Er konnte die Gesetze und Bräuche miteinander vergleichen und sich ein eigenes Bild machen von den physischen, politischen und kulturellen Besonderheiten der Länder und Landschaften, die er in Begleitung seines Hofmeisters bereiste. Er traf auf Literaten und Künstler, Staatsmänner und Diplomaten; er ging zu Gerichtsverhandlungen und in Gottesdienste; er besichtigte Denkmäler, Bibliotheken und Akademien und wurde Zeuge von Hinrichtungen.
An italienischen Universitäten schrieb sich zwischen 1690 und 1710 vor allem der höhere Adel ein, wohingegen die Namen einfacher Adliger und Patrizier nach einem regelrechten Run auf die Universitäten um 1590 seltener und um 1740 kaum noch in den Matrikeln auftauchen.5 Allerdings waren die Vergnügungen, die Städte wie Paris, Berlin, Turin, Florenz oder Rom boten, ein nicht weniger starkes Motiv für die Reise als die Erweiterung des Bildungshorizonts. Da die „Touristen“ weder ihren Unterhalt verdienen noch ihre vor Ort erworbenen Kenntnisse in die Praxis umsetzen mussten, gab es für sie keinen wirklich verpflichtenden Grund, sich in wissenschaftliche Materien zu vertiefen.
Aus der umfangreichen Hofmeisterliteratur weiß man, dass die adligen Reisenden natürlich nicht nur Denkmäler besichtigten. Sie spielten Karten, unternahmen Wanderungen oder ließen sich einfach nur treiben. Da das Programm weitgehend festgelegt war, versuchten sie die einzelnen Sightseeing-Stationen schnell abzuhaken: So ging es schon damals darum, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit gesehen zu haben.
Das wahre Reiseziel ist die Rückkehr
Dafür, dass die jungen Männer monatelang unterwegs waren, war der Lerneffekt oft geringer als erhofft: „Selbst wenn man wohlwollend voraussetzt, dass Engländer im 18. Jahrhundert zum Teil schon Fremdsprachen beherrschten, so ist dennoch stark anzunehmen, dass damals die meisten, wie übrigens heute auch, dennoch nicht in der Lage waren, ein Mittagessen in einer anderen Sprache als auf Englisch zu bestellen, geschweige denn mitzukriegen, wenn sie vom Gastwirt übers Ohr gehauen wurden.“6
Auf ihren Reisen, und auch das war implizit Programm, waren die jungen Herren der familiären Kontrolle entzogen. Der Umgang mit Standesgenossen, amouröse Abenteuer, Glücksspiel und Alkohol – all dies war fester Bestandteil der adligen Sozialisation. Die meisten gingen zwischen 16 und 25 Jahren auf Kavalierstour. Sie erfreuten sich bester Gesundheit und wurden von niemandem bevormundet. Zu Hause wurden die Nachrichten über ihre wechselnden Liebschaften zwar mit Missfallen zur Kenntnis genommen, aber das hatte weniger mit moralischen Bedenken zu tun – der bürgerliche Kampf gegen die adlige Libertinage begann erst später – als mit der sehr begründeten Angst vor der Syphilis.
Dass ihre Sprösslinge fort waren, hatte aber auch für die Eltern Vorteile. So konnten sie im Ausland tolerieren, was sie sonst nicht hätten dulden dürfen – weil darauf Verlass war, dass sich die Gerüchte nicht zum Skandal auswachsen würden. Auch waren die Reisekosten und gelegentlichen Exzesse das geringere Übel, verglichen mit der Gefahr, wegen missliebiger politischer Ansichten bei Hofe in Ungnade zu fallen.
So etwas Ähnliches wie die Grand Tour gibt es auch heute noch – in angesehenen Hochschulen wie der Sciences Po (Pariser Institut für politische Studien) gehört sie sogar zum Curriculum. „In einer Welt der offenen Grenzen muss auch die Ausbildung internationaler werden“, heißt es etwa auf ihrer Webseite. Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Hochschule, deren Studentenschaft mehrheitlich aus den gehobenen Kreisen kommt7 , ihr internationales Programm stark ausgebaut: 2 300 Studierende aus dem Ausland, ein „Netz von 300 Universitäten auf der ganzen Welt“, 14 Sprachen im Lehrangebot und seit 2000/2001 ein Pflichtjahr im Ausland – entweder in Form eines Praktikums oder Hochschulaufenthalts.
Das ist freilich ein ehrgeizigeres und wohl auch erfolgversprechenderes Vorhaben als das Erasmus-Stipendiumprogramm der EU, das in diesem Jahr sein 25. Jubiläum feiert. Seit 1987 haben knapp 3 Millionen junge Leute das Angebot wahrgenommen, mindestens drei Monate im Ausland zu studieren. Geändert habe sich dadurch aber nichts, behauptet Christoph Ehmann, der ehrenamtliche Generalsekretär des alternativen Austauschprogramms Campus Europae: „Seit rund 40 Jahren liegt der Anteil der Studierenden, die ernsthaft im Ausland einige Zeit studieren wollen, nahezu unverändert bei 4 Prozent.“8 Mit 80 bis 200 Euro im Monat sei der Aufenthalt deutlich unterfinanziert. Ohne Bafög oder Unterstützung aus dem Elternhaus sei eine Teilnahme an dem Programm so gut wie ausgeschlossen: „Erasmus produziert eine soziale Schieflage“, sagt Ehmann.
Unabhängig davon, wie lange ein solcher Aufenthalt dauert und wie groß der intellektuelle Nutzen im Einzelfall ist, kann man davon ausgehen, dass er sich lohnt. Die Stipendiaten müssen sich zwar den manchmal vielleicht fremden Gepflogenheiten anpassen, doch sozial bewegen sie sich auf vertrautem Terrain. Das soll nicht heißen, dass sie nicht hie und da auf Schwierigkeiten stoßen, doch selbst das ist eine wichtige Erfahrung, die das Selbstbewusstsein stärkt. Auch mit den Kommilitonen aus aller Welt verbindet sie zumindest die vergleichbare soziale Herkunft.
Selbst wenn das eigene Milieu gelegentlich verlassen wird, fördert das die soziale und kulturelle Offenheit, die besonders bei denjenigen gefragt ist, die Führungspositionen anstreben. Die praktische Kenntnis der Unwägbarkeiten des Alltags in einem fremden Land – „den Dreh rauszuhaben“ und „Bescheid zu wissen“ – werden in den höheren Etagen sehr geschätzt, denn hier zeigt sich, wer sich durchzuschlagen weiß und mit Unvorhersehbarem fertig wird, auch wenn sich das Ganze freilich in einem zeitlich begrenzten und sozial risikofreien Rahmen abspielt.
„Reisen bildet die Jugend“, heißt es. Doch im Unterschied zu den Arbeitsmigranten, die ebenfalls oft noch jung sind, genießen die Sciences-Po-Reisenden wie früher die jungen Aristokraten auf Kavalierstour das Privileg der „doppelten Anwesenheit“: Sie werden im Ausland willkommen geheißen, während zu Hause Familie und Freunde auf ihre Rückkehr warten. Der Migrant ist hingegen einer „doppelten Abwesenheit“ unterworfen: In der Hoffnung auf Rückkehr bricht er, der auch in seiner Herkunftsgesellschaft noch keinen festen Platz gefunden hat, in eine ungewisse Zukunft auf.9 In vielen Fällen gibt es kein Zurück mehr, und wenn es doch dazu kommt, findet der Heimkehrer oft keinen sozialen Anschluss mehr.
Nicht aus jeder Auslandsreise lässt sich also Kapital schlagen. Die Verwertung des „Internationalen“ als Ressource gelingt nur unter bestimmten Bedingungen, und zwar genau den gleichen, die dazu beitragen, dass die soziale Hierarchie im Herkunftsland bestehen bleibt.10